Flaneur aller Abwege

Krimi Inspector Morse ist wieder da. In den originalen Krimis fährt der Fernsehheld noch Lancia statt Jaguar
Ausgabe 15/2019
Soll Inspector Morse die halbwegs seriöse Sunday Times oder das Krawallorgan News of the World erwerben?
Soll Inspector Morse die halbwegs seriöse Sunday Times oder das Krawallorgan News of the World erwerben?

Foto: Chris Ware/Keystone/Getty Images

Das englische Adjektiv „hebdomadal“ dürfte selbst manchem Native Speaker ein Rätsel aufgeben. Dabei bedeutet es nicht mehr als „wöchentlich“, wie Langenscheidts Handwörterbuch weiß. Gebraucht wird es eher selten. Das Nachschlagewerk kennt allerdings einen „Hebdomadal Council“, den einmal pro Woche zusammentretenden Rat der Universität Oxford.

Derlei nützliche Dinge lassen sich erfahren, wenn man die Lektüre der Kriminalromane des britischen Autors Colin Dexter (1930 – 2017) zum Anlass nimmt, seinen Wortschatz zu erweitern. Die deutsche Übersetzung belässt es sinnvollerweise bei der schlichten Umschreibung „jede Woche“, wenn es darum geht, das sonntägliche Problem von Chief Inspector Morse zu beschreiben: Soll er die halbwegs seriöse Sunday Times oder das Krawallorgan News of the World erwerben? Am 21. September 1975 kauft er beide Zeitungen, nur um die News of the World wenig später enttäuscht beiseitezulegen. Halbherzige Pornografie im Boulevardstil entspricht nicht dem Geschmack des Kriminalisten, doch die Entscheidung, das Sensationsblatt nicht mehr zu kaufen, hat er schon an manch einem Sonntag getroffen, allerdings ohne die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen.

Interessanteres findet er an diesem Morgen in der Sunday Times: einen Leserbrief, in dem sich die Eltern eines heimgekehrten Teenagers für eine Reportage über „Mädchen, die von zu Hause weglaufen“, bedanken. Deren Lektüre habe ihre Tochter bewogen, wieder nach Hause zu kommen. Morse hat es mit einem ähnlichen Fall zu tun: Vor mehr als zwei Jahren ist die damals siebzehnjährige Valerie Taylor spurlos verschwunden. Doch nun hat sie offenbar einen Brief an ihre Eltern geschrieben – Anlass genug, den Fall wieder aufzunehmen.Wie Morse auf verschlungenen Wegen der Wahrheit auf die Spur kommt, lässt sich mit frischem Vergnügen nachlesen: Last Seen Wearing liegt in neu bearbeiteter deutscher Übersetzung unter dem Titel Zuletzt gesehen in Kidlington im Unionsverlag vor, der sich der ehrenvollen Aufgabe angenommen hat, alle Morse-Romane wieder aufzulegen. Denn der klassisch gebildete, doch primitiveren Gelüsten nicht abgeneigte Ermittler hat auch bei uns seine Fangemeinde, obwohl von der Fernsehserie, die die Popularität der Figur in Britannien begründete, nur wenige Folgen Ende der achtziger- Jahre in der DDR zu sehen waren. Immerhin werden die Spin-Offs Lewis und Der junge Morse gerne im Neo-Spartenkanal des ZDF gezeigt.

Der studierte Altphilologe Colin Dexter schrieb seinen ersten Kriminalroman im reifen Alter von 42 Jahren während eines verregneten Familienurlaubs in Wales. Der letzte Bus nach Woodstock erschien 1975 und wurde zum Erfolg, sowohl bei der Kritik als auch beim Lesepublikum. Es war das Jahr, in dem Agatha Christie den sterbenskranken Poirot seinen letzten Fall lösen ließ. Nun hat Morse, dessen Vorname erst im vorletzten Band der dreizehn Romane umfassenden Reihe enthüllt wird, mit dem belgischen Meisterdetektiv außer einer gewissen intellektuellen Arroganz und einem Faible für komplexe Straftaten nicht viel gemeinsam. Doch in die Riege der exzentrischen Ermittler gehört er unbedingt. „Wenn Morse einen Fall bearbeitete, wurde dieser immer komplizierter, und die simpelsten Tatsachen veranlassten ihn zu endlosen abenteuerlichen Gedankenspielen“, weiß Sergeant Lewis, der redliche Assistent des genialischen Kriminalisten aus schmerzhafter Erfahrung. Denn nicht immer gehen die Nachforschungen in die richtige Richtung. In Eine Messe für all die Toten, dem vierten Roman der Reihe, werden etliche Theorien probiert und verworfen, bis die Lösung, eine deutliche Hommage an Agatha Christies Mord im Orientexpress, offenbart wird.

Gern mal was Schlüpfriges

Mit seinem Erfinder teilt Morse die Leidenschaft für Kreuzworträtsel und Wagner-Opern. Von seiner frühen Biografie, der gescheiterten akademischen Karriere zum Beispiel, erfährt man in den ersten Bänden wenig. Morse ist auch noch nicht der Gentleman-Ermittler im Jaguar, als der er in den späteren Fällen auftritt. Noch fährt er einen Lancia, den klassischen Oldtimer bekam er erst auf Wunsch des Schauspielers John Thaw, der den Detektiv in den 38 Episoden der Fernsehserie verkörperte.

Anspruch auf sozialen Realismus, wie ihn viele zeitgenössische Kriminalromane erheben, ist Colin Dexters Romanen fremd. Manchmal lässt er zwar, wie in dem biografisch grundierten Roman Die schweigende Welt des Nicholas Quinn, seine Erfahrungen im universitären Milieu einfließen, doch das Spiel mit den Möglichkeiten der Fiktion ist ihm wichtiger. Und gelegentlich, vor allem wenn es um die erotische Ausstrahlung junger Frauen geht, scheint sich der Autor bei den schlüpfrigen Geschichten der Sensationspresse bedient zu haben, deren sonntägliche Lektüre Morse regelmäßig enttäuscht. Dass die Romane dennoch großen Spaß machen, liegt vor allem an ihrer sprachlichen Ironie. Letztere ins Deutsche zu retten, ist kein leichtes Unterfangen, glückt in den vorliegenden Ausgaben aber weitgehend, auch wenn gelegentlich ganze Dialogpassagen entfallen. Und über das schöne Wörtchen „hebdomadal“ und seine vielfältigen Implikationen darf auch nur stolpern, wer die Originale zur Hand nimmt.

Info

Zuletzt gesehen in Kidlington Colin Dexter Marie S. Hammer (Übers.), Unionsverlag 2018, 320 S., 12,95 €

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