Ein Gewitterguss prasselte nieder und trieb die Demonstranten in Haustüren und U-Bahn-Schächte, er zerrieb sie so, dass sie nicht wieder zusammenfanden. Wo ist die Rolle der Gewittergüsse am 17. Juni 1953 in der Berichterstattung berücksichtigt worden? Sie passt in keines der beiden Bilder. Wie, Volksaufstand im Osten und die malträtierten Arbeiter, die sich gegen Willkür reckend, das eigene Leben in die Schanze schlagend für Freiheit und die Einheit des Vaterlandes gar, liefen vor dem Regen auseinander? Wie, die Sturmtruppen des Imperialismus, die bezahlten Agenten des Pentagon, die Weltbrandstifter verkrochen sich vor Blitz und Wolkenbruch? Das passt in kein Propagandabild, und so wurde es gar nicht erst eingezeichnet. Der Chronist hält die geschichtsbildende Rolle der Gewitter des 17. Juni für erheblich."
Der dies in seiner Autobiographie schrieb, dürfte sich zum Zeitpunkt der Erhebung eher das zweite der beiden Bilder zu eigen gemacht haben. Mit erhobener Faust begrüßte er die sowjetischen Panzer, die die Straßen Ostberlins zurückeroberten. Dass aber die aufständischen Arbeiter gute Gründe für ihre Demonstrationen hatten, war ihm auch klar. Und so setzte er sich eine Woche später hin und schrieb einen Aufsatz mit dem Titel Elfenbeinturm und Rote Fahne, in dem er "das völlige Verschweigen von Missständen" in den Zeitungen heftig kritisierte. So seien noch am 18. Juni, selbst aus der Feder Karl Eduard von Schnitzlers, den Tatsachen entsprechende Artikel erschienen, aber "schon wenige Tage später ging es mit dem Beschönigen und Vertuschen wieder los". Für seine Mahnungen musste der Autor bald heftige Prügel einstecken. Er wurde vorübergehend aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen, übte aber die von ihm erwartete Selbstkritik und konnte sich für die nächsten Jahre in der vom nachstalinistischen Tauwetter erfassten DDR einrichten, bis er 1957 wie viele andere in der Folge des gescheiterten Ungarnaufstandes "wegen konterrevolutionärer Gruppenbildung" verhaftet und für sieben lange Jahre eingekerkert wurde.
In der Biographie des Schriftstellers Erich Loest, der am heutigen Freitag 80 Jahre alt wird, spiegelt sich deutsche Geschichte in einem Maße, das die Leidensfähigkeit eines Individuums bis an die Grenzen testet. Seine Lebenserinnerungen, aus deren erstem Teil Durch die Erde ein Riss - der Titel verdankt sich einem Gedicht Johannes R. Bechers auf den Tod Stalins - das oben abgedruckte Zitat stammt, legen davon Zeugnis ab. Ohne großes Pathos, aber mit der wirksameren Lakonie des geborenen Erzählers berichtet Loest, wie er gegen Kriegsende knapp dem Schicksal, als "Werwolf" verheizt zu werden, entkommt, später, zum überzeugten Antifaschisten gewandelt, in die SED eintritt, als Schriftsteller Erfolg hat, um schließlich in die Mühlen der Strafjustiz einer paranoiden Diktatur zu geraten. Auch der Fall Erich Loest zeigt, dass die DDR einen nicht geringen Teil ihrer Gegner selbst produziert hat.
Und nun Sommergewitter. 25 Jahre nach dem Erscheinen von Durch die Erde ein Riss nimmt sich Loest des Auftrags an, den er sich quasi selbst erteilt hat, und legt einen Roman über den 17. Juni 1953 vor. Aber wer sich nun Aufschluss über die "geschichtsbildende Rolle der Gewitter" verspricht, wird von der Lektüre enttäuscht werden. In diesem Roman sind es Menschen, die Geschichte machen, auch wenn sie es im jeweiligen Moment nicht wissen.
Loest spürt noch immer der Wahrheit über die Ereignisse des 17. Juni nach, und er vermutet sie jenseits der propagandistisch getönten Bilder der vom Westen ferngesteuerten "Provokation" einerseits und dem Volksaufstand für die deutsche Einheit andererseits. Letzterer Interpretation, die den Bewohnern der Bundesrepublik jahrzehntelang einen zusätzlichen Feiertag spendierte, widersprach Loest in seiner Autobiographie übrigens recht heftig: "Es ist himmelschreiend geklittert worden über den 17. Juni, aber die kühnsten Bocksprünge brachten die fertig, die ihn zum Tag der deutschen Einheit hinbogen." Auch in Sommergewitter tauchen Demonstranten mit nationalem Interesse nur am Rande auf, und zwar ausgerechnet in einer Diskussion von SED-Kadern, die bereits dabei sind, Verschwörungstheorien zu fabrizieren: "Das Deutschlandlied nicht nur in drei, sondern in weit mehr Fällen, aber das Horst-Wessel-Lied nicht, darauf einigten sie sich. Genossen, auch das deutet auf Koordinierung hin. Die Blöße des offenen Faschismus wollen sich die Schufte nicht geben." Der Autor selbst scheint eher eine Sichtweise zu teilen, die er, allerdings mit Fragezeichen behaftet, eine seiner Figuren, den mit dem Makel bürgerlicher Herkunft belasteten SED-Funktionär Melchior Anetzperg, formulieren lässt: "Die Radikalinskis hatten abgewirtschaftet, was war der Aufstand im Kern: Die ehrbar ergraute, nun auf einmal gar nicht so abgeschlaffte Sozialdemokratie besann sich auf uralte Kraft, Bebel gegen Lenin, Kautsky gegen Luxemburg?"
Aber um eine eindeutige Antwort ist es Erich Loest nicht zu tun. Während Stefan Heym in seiner frühen literarischen Verarbeitung der Ereignisse Fünf Tage im Juni trotz multiperspektivischem Erzählen zu einer weitgehend widerspruchsfreien Darstellung gelangt, deren grundsätzlich systemstabilisierende Absicht der damaligen DDR-Zensur allerdings verborgen blieb, wird in Sommergewitter ein weitgefächertes Figurenensemble genutzt, um die Komplexität des Geschehens zu verdeutlichen.
Da ist der Kommunist Bruno Pfefferkorn, eine zerrissene Persönlichkeit, der seine Zweifel hinter einem betont konsequenten Auftreten verbirgt. Dass er in Buchenwald nicht der Held war, für den ihn viele halten, steht repräsentativ für die antifaschistische Legendenbildung der frühen DDR. Mit seinem Antipoden, dem früheren linken Sozialdemokraten Alfred Mannschatz, verbinden ihn Erinnerungen an die politischen Kämpfe der Weimarer Republik. Damals hat dieser ihm das Leben gerettet.
Mannschatz´ Schwiegersohn Hartmut Brücken, der in seinem Beruf täglich mit den Problemen der sozialistischen Wirtschaft zu kämpfen hat, gerät eher durch Zufall an die Spitze einer Gruppe aufständischer Arbeiter, kann sich allerdings der späteren Verfolgung durch Flucht in den Westen entziehen, während seine Frau Clara unter einem Vorwand verhaftet wird. Weitere Figuren, unter ihnen der bereits erwähnte Melchior Anetzperg, den mit Pfefferkorns junger Frau Thekla ein leidenschaftliches Liebesverhältnis verbindet, gruppieren sich, von einem auktorialen Erzähler souverän zum Einsatz gebracht, um die zentralen Protagonisten herum. Ein besonderer Fall ist die Gefängnisinsassin Erna Dorn, die sich aus Geltungssucht gegenüber ihren Zellengenossinnen als ehemalige Aufseherin im KZ Ravensbrück ausgibt und später trotz begründeter Zweifel aus propagandistischen Zwecken hingerichtet wird. Hier bezieht sich Loest kritisch auf eine der ersten literarischen Darstellungen des 17. Juni, nämlich Stefan Hermlins Erzählung Die Kommandeuse aus dem Jahre 1954, in der die Geschichte der Erna Dorn in offizieller SED-Lesart benutzt wird, um der These vom Aufstand als faschistischer Verschwörung Nachdruck zu verleihen.
Erich Loest ist ein atmosphärisch dichter, in seiner psychologischen Grundierung glaubhafter Roman gelungen. Allein das erste Kapitel, in dem uns Alfred Mannschatz bei einer Veranstaltung der "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes" begegnet, ist ein Musterbeispiel realistischer Erzählkunst. Es geht vor allem ums Essen. Während draußen im Lande strenge Lebensmittelrationierung herrscht, labt sich die Versammlung an üppigen Aufschnittplatten. Mannschatz, selbst solcher Köstlichkeiten entwöhnt, greift herzhaft zu, ohne zu bedenken, dass es noch eine Hauptmahlzeit geben wird. "Ein Randstückchen Braten, ein paar Löffel Kraut, mehr schaffte er nicht und schalt sich abermals völlig bekloppt." Wie Loest seine Erzählerstimme mit den Gedanken der Figur verschmilzt, das ist schon gekonnt.
Und im Gegensatz zu Rezensenten, die in Sommergewitter in Gestalt von Hartmut Brücken tatsächlich den "tugendhaften Helden" des sozialistischen Realismus entdeckt haben wollen, werden unvoreingenommene Leser bemerken, dass es hier um Gerechtigkeit für jede einzelne Figur geht. Auch Pfefferkorn, der seinen Erfahrungen zum Trotz unbelehrbare Parteisoldat, bekommt hier keine Schurkenrolle zugewiesen. Und Melchior Anetzperg, der gegen Ende des Romans in einer Rede praktisch das wiedergibt, was Loest selbst 1953 in Elfenbeinturm und Rote Fahne geschrieben hat, ist kein widerspruchsfreier Held. Übrigens wurde dem Autor schon bei seinen ersten Veröffentlichungen vorgeworfen, dass es seinen Figuren an Vorbildcharakter mangele.
Sommergewitter profitiert von den Möglichkeiten realistischen Erzählens, zeigt aber auch deutlich seine ästhetischen Grenzen. Es handelt sich nämlich um ein Modell, das sich den Intentionen seines Nutzers beinahe widerstandslos ergibt. Während der Lektüre bleibt das Gefühl nicht aus, dass ein weniger redlicher Autor, als Erich Loest es ist, mit der gleichen narrativen Technik entgegengesetzte Zwecke verfolgen könnte.
Andererseits ist die Geschichte des 17. Juni eigentlich kein historischer Streitpunkt mehr. Es ist sogar zu befürchten, dass dieses Datum jüngeren Zeitgenossen überhaupt nichts mehr sagt. Ob Erich Loests Roman geeignet ist, daran etwas zu ändern, muss leider bezweifelt werden. Wer sich zum Beispiel in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung nicht ein bisschen auskennt, wird an diesem Buch wenig Freude haben. In einem Interview sprach Erich Loest vom 17. Juni als einem "Aufruhr des Geistes der Sozialdemokratie gegen den Kommunismus". Vielleicht ist Sommergewitter eines der letzten literarischen Zeugnisse jenes Geistes, der spätestens mit dem Scheitern entsprechender Hoffnungen bei der Vereinigung der beiden deutschen Staaten im Jahre 1990 Vergangenheit geworden ist.
Erich Loest: Sommergewitter. Roman. Steidl, Göttingen 2005, 344 S., 19,90 EUR
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