"Der Werkkreis Literatur der Arbeitswelt ist eine Vereinigung von Arbeitern und Angestellten, die in örtlichen Werkstätten mit Schriftstellern, Journalisten und Wissenschaftlern zusammenarbeiten. Seine Aufgabe ist die Darstellung der Situation abhängig Arbeitender, vornehmlich mit sprachlichen Mitteln. Auf diese Weise versucht der Werkkreis, die menschlichen und materiell-technischen Probleme der Arbeitswelt als gesellschaftliche bewusst zu machen. Er will dazu beitragen, die gesellschaftlichen Verhältnisse im Interesse der Arbeitenden zu ändern."
Groß war der Glaube an die Macht des Wortes, als am 7. März 1970 mit diesen Zeilen ein literarisches Programm eingeleitet wurde, das für mindestens ein Jahrzehnt eine nicht unwichtige Rolle im westdeutschen Literaturbetrieb spielen sollte. Hatte die "Gruppe 61" um Max von der Grün noch einen dezidiert ästhetischen Anspruch an die Darstellung der Arbeitswelt formuliert, ging es den im Werkkreis versammelten Autoren vornehmlich um gesellschaftspolitische und pädagogische Ziele. Durch "theoretische Anleitung und praktisches Beispiel" sollten die bislang unterdrückten "kritischen und schöpferischen Kräfte der Arbeitenden" in ihrer Entfaltung unterstützt werden, damit sich diese schreibend ihrer Klassenlage bewusst wurden. Ob sich in den Werkkreisen nicht doch statt der umworbenen Industriearbeiter vor allem linke Studenten und gewerkschaftlich organisierte Studienräte mit schriftstellerischen Ambitionen tummelten, sei dahingestellt. Die Fischer-Taschenbuchreihe mit dem Werkkreis-Enblem war jedenfalls bis in die frühen achtziger Jahre sehr erfolgreich. Letztendlich aber sorgten die "politische Engstirnigkeit und ästhetische Anspruchslosigkeit" (Gundel Mattenklott) des Werkkreises ebenso wie eine veränderte gesellschaftliche Situation dafür, dass das Leserinteresse an kämpferischen Geschichten aus Fabriken und Büros rapide abnahm.
Glücklicherweise bedeutete das Ende einer illusorischen Literaturpolitik nicht, dass die Welt der Arbeit, wie von manchen befürchtet, wieder zum "literarischen Niemandsland" (Mattenklott) wurde, im Gegenteil. So unterschiedliche literarische Temperamente wie Burkhard Spinnen (Langer Samstag), Annegret Held (Die Baumfresserin) oder Ralf Rothmann (Hitze) haben in den vergangenen Jahren gezeigt, dass sich von der Arbeitswelt realistisch erzählen lässt, ohne ständig den klassenkämpferischen Zeigefinger zu erheben.
Doch trotz der Etablierung von Sägewerken, Großküchen oder Großraumbüros als Handlungsort anspruchsvoller Romane, gilt es noch immer als Beinahe-Sensation, wenn tatsächlich der Kumpel zur Feder greift beziehungsweise sich an seinen Computer setzt und dabei etwas zu Stande bringt, für das sich nicht nur geschäftstüchtige Selbstkostenverleger interessieren. Dass das nicht nur in Deutschland so ist, zeigte die Reaktion der literarischen Öffentlichkeit Großbritanniens, als bekannt wurde, dass 1998 ausgerechnet der erste Roman eines Busfahrers für den hoch angesehenen Booker-Preis nominiert wurde. Seitdem ist Magnus Mills´ Erstlingswerk The Restraint of Beasts mit Übersetzungen in mehr als 15 Sprachen zu einem internationalen Bestseller geworden. Auch die deutsche Ausgabe Die Herren der Zäune stieß auf ein begeistertes Lesepublikum. Dabei ist die Geschichte auf den ersten Blick eigentlich nicht besonders aufregend. Der namenlose Ich-Erzähler, Angestellter eines schottischen Zaunbau-Unternehmens, erhält den Auftrag, gemeinsam mit zwei Kollegen in einem englischen Dorf ein Gelände einzuzäunen. Aber wie weiland bei Kafkas Landvermesser K. nimmt dieses Unternehmen Dimensionen an, die von den Protagonisten nicht mehr durchschaut werden können.
Nun ist jedoch ein Roman wie Das Schloss im Vergleich mit Die Herren der Zäune von einem geradezu atemberaubenden Handlungsreichtum. Magnus Mills zelebriert die Routine von eintöniger körperlicher Arbeit und ebenso trister Freizeitgestaltung auf solch trockene Art und Weise, dass man die in der Handlung versteckten Ungeheuerlichkeiten zunächst beinahe überliest. Durch Unachtsamkeiten beim Zaunbau kommt es nämlich nicht nur einmal zu tödlichen Unfällen, ein Umstand, der weder den Erzähler noch Tam und Richie, seine beiden Gehilfen, in besondere Aufregung zu versetzen scheint. Dieser offensive Gleichmut ist allerdings auch dafür verantwortlich, dass die drei Helden ahnungslos Opfer eines perfiden Plans werden, der sie am Ende ihre Freiheit kosten wird. Eine Schlüsselrolle spielen in diesem Zusammenhang die Hall-Brüder, die neben anderen Unternehmungen auch die führende Zaunbau-Firma der Gegend ihr eigen nennen. Die schon zu Beginn des Romans makabre Komik paart sich spätestens mit blankem Entsetzen, wenn den Protagonisten (und auch den Lesern) dämmert, dass sich nicht nur Tiere hinter Zäune sperren lassen. Dass Mills sich mit dem Werk Primo Levis und anderer Literatur über das Konzentrationslager-System beschäftigte, als er Die Herren der Zäune schrieb, fügt den möglichen Lesarten des Romans eine wahrhaft beängstigende hinzu.
Magnus Mills begann erst spät zu schreiben, doch sein vorheriges Arbeitsleben wirkt im Rückblick wie eine Art ausgedehnter Recherche für seine Bücher. Nach dem Besuch einer polytechnischen Hochschule arbeitete er einige Jahre auf einem Bauernhof im Lake District, eine Erfahrung, die in seinen zweiten Roman All quiet on the Orient Express ("Indien kann warten") eingehen sollte, dann kam es tatsächlich zu einem Job als Zäunebauer, bis er schließlich als Busfahrer in London landete. Seine Frau ermunterte ihn, seine Erlebnisse beim Zaunbau aufzuschreiben. "Ich begann damit zu beschreiben, wie man einen Spanndrahtzaun baut", erzählte Mills in einem Interview, "und dachte, ich sollte das besser in Dialogform machen. Also erzählte ich die Geschichte als Dialog und nach zehn Seiten hatte ich den Titel The Restraint of Beasts (wörtlich etwa: Die Bändigung von Tieren), der auch eine Art Thema vorgab. Als ich dieses Thema, nämlich Gefangenschaft, klar hatte, wusste ich, ich war auf dem richtigen Weg." So entwickelte sich aus der Beschreibung von Arbeitsvorgängen eine Vision der Hölle als gigantische Fabrik.
Dass es keines sichtbaren Zaunes bedarf, um Menschen gefangen zu halten, zeigte Mills in seinem zweiten Roman. Der namenlose Erzähler ist dieses Mal ein junger Mann, der als letzter Camper der Saison auf einem Zeltplatz im Lake District ausharrt. Eigentlich ist er, wie der deutsche Titel andeutet, mit seinem Motorrad auf dem Weg nach Indien, doch dort, das ahnt man bald, wird er nie ankommen. Aus kleinen Hilfstätigkeiten für den Betreiber des Campingplatzes entwickelt sich ein ausgeklügeltes System von Abhängigkeiten, so dass sich die Abreise immer wieder verzögert. Und eh man sich´s versieht, ist man Zeuge eines subtilen Versklavungsprozesses. Auch Indien kann warten beeindruckt durch ein trocken-lakonisches Erzählen alltäglicher Umstände, deren Bedrohlichkeit sich ebenso wie ihr komisches Potenzial geradezu beiläufig entfaltet. Selten ist die göttliche Verurteilung des Menschen zur Arbeit nach dessen Sündenfall so einleuchtend in ihrer ganzen diabolischen Konsequenz dargestellt worden. Und noch seltener so witzig.
In der Welt der Arbeit liegen Hölle und Paradies eben nahe beieinander, und manchmal sind sie sich sogar zum Verwechseln ähnlich. Diesen Fall schildert Mills´ jüngstes Buch, The Scheme for Full Employment. Was sich wie die lang ersehnte Gebrauchsanweisung zur Lösung des drängendsten Problems kapitalistischer Industriegesellschaften anhört, betitelt den bislang am stärksten satirischen Roman des Autors. Das Schema für Vollbeschäftigung ist denkbar simpel: Man gründet eine Spedition. Eine Flotte von Lieferwagen transportiert Frachtstücke von einem Depot zum nächsten nach einem ausgeklügelten System. Also müssen zunächst Fahrer eingestellt werden. Auch für die Wartung der Fahrzeuge wird Personal benötigt. Weitere Angestellte kümmern sich um die Planung der besten Routen, stellen Zeitpläne auf und führen Personalakten. Aber der fantastischste Teil des Systems ist die Fracht selbst. Was hier von Depot zu Depot befördert wird, sind ... Ersatzteile für die Lieferwagen.
Mills Roman schildert aus der Sicht eines Fahrers, wie dieses, in sich perfekt funktionierende, System scheitert. Und zwar nicht wegen des naheliegenden Umstands, dass der Betrieb alles andere als profitabel ist. The Scheme for Full Employment wird durch die Angestellten selbst zu Grunde gerichtet. Unüberbrückbare Differenzen zwischen jenen Fahrern, die gerne mal eine Fahrt abkürzen, um früh Feierabend zu haben, und denen, die sich strikt an die Vorschriften halten, vergiften das Betriebsklima, führen zu Arbeitskämpfen und schließlich zum Zusammenbruch des Systems. Parallelen zum Britannien vor Margret Thatcher sind naheliegend, aber nicht zwingend. Was Mills vorführt, ist entfremdete, weil vollkommen sinnlose, Arbeit par excellence. Andererseits wirkt dieser fingierte Betrieb in vieler Hinsicht authentischer als die bizarre, aber durchaus reale Welt der Zäunebauer.
Gemeinsam ist ihnen, dass es sich um fast ausschließlich männliche Welten handelt. Als ein Interviewer Mills auf die Asexualität von Die Herren der Zäune hinwies, meinte dieser nur, es gebe halt wenig Sex im Leben dieser Männer. Darum ist es um so bemerkenswerter, dass der einzige Roman Mills´, in dem Arbeit nur eine Nebenrolle spielt, das Geschlechterverhältnis in den Mittelpunkt rückt. Three to See the King erzählt von Männern, die sich in einer unwirtlichen Gegend fensterlose Blechhäuser gebaut haben, und so lange in Frieden dort leben, bis einer von ihnen, der Erzähler, Besuch von einer Frau erhält. Das klingt sehr abstrakt und symbolträchtig, ist aber trotzdem so lange recht witzig, bis die Handlung deutliche Züge einer existenzialistischen Parabel annimmt. Und dies ist vielleicht eine Schwäche, denn es wird deutlich, dass bei Mills immer - um die zu Beginn zitierte Werkkreis-Formulierung zu variieren - aus gesellschaftlichen und materiell-technischen Problemen menschliche werden.
Bücher von Magnus Mills
Three to See the King" target="_blank">Three to See the King. Flamingo, London 2001, 167 S., 6,99 £.
Zum König!: Roman" target="_blank">Zum König! Roman. Aus dem Englischen von Katharina Böhmer. Suhrkamp, Frankfurt 2004, 187 S., 16, 80 EUR
The Scheme for Full Employment. (Flamingo)" target="_blank">The Scheme for Full Employment. Flamingo, London 2003, 255 S., 10,00 £
Indien kann warten" target="_blank">Indien kann warten. Roman.Aus dem Englischen von Katharina Böhmer. Suhrkamp. Frankfurt am Main 2002, 229 S., 18,90 EUR
Die Herren der Zäune" target="_blank">Die Herren der Zäune. Roman. Aus dem Englischen von Katharina Böhmer. Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt am Main 2002, 216 S., 9,00 EUR
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