Silvester 1989. „Hat Lene dir die Kassetten gezeigt“, will Mark von seinem Gast aus dem Westen wissen. „Du mußt doch denken, wir leben hinter dem Mond.“ Während der Leser bereits ahnt, was es auf diesen Videokassetten zu sehen gibt, ist die derart angesprochene junge Frau ziemlich schockiert, als sie das Wohnzimmer der Pankower Plattenbauwohnung betritt. Auf dem Bildschirm zucken Geschlechtsteile in Großaufnahme, und „Mark und Marlene sitzen davor, als schauten sie Sportschau“. Ein fremdes Land mit einer merkwürdigen Indifferenz in Sachen Sexualität, so präsentiert sich nicht nur die DDR kurz vor ihrem Untergang.
Auch in Spanien muss der nichtsahnende Reisende auf bizarre Entdeckungen gefasst sein, während er am Kiosk nach Zeitungen aus der Heimat Ausschau hält. „Die Verkäuferin räumte gerade Heftchen ein, von denen nicht zu sagen war, ob es sich um Pornographie handelte oder ob es um Tiere ging.“ Auch hier trifft die Enthüllung, leider sei beides der Fall, den Leser nicht unerwartet.
Die zwei zitierten Szenen entstammen Romanen, denen nicht nur gemeinsam ist, dass sie ihre Protagonisten Fremdheitserfahrungen aussetzen, die sich in der Retrospektive als wichtige Etappe ihrer persönlichen Entwicklung deuten lassen.
In beiden Fällen handelt es sich um Debüts, obwohl die Verfasser routinierte Autoren sind. Andreas Platthaus arbeitet seit vielen Jahren als Redakteur im Feuilleton der FAZ, hat neben anderen Büchern vor einigen Jahren eine Biographie des mutmaßlich von der RAF ermordeten Bankiers Alfred Herrhausen veröffentlicht und ist Experte für die Kunst der Comics.
Blogs im Netz
Peter Richter schreibt für die Sonntagsausgabe derselben Zeitung ebenso elegant wie polemisch über Kunst, Architektur und Alltag. Sein wöchentlicher Richterspruch gehört zu den vergnüglichsten Blogs im Netz. Und seit neuestem darf er sich als einer der Sidekicks in Harald Schmidts neuer Show probieren. Wir haben es also mit vielseitigen Talenten zu tun. Ob die erzählende Literatur auch dazu gehört, wird die Lektüre erweisen.
Richters Madridroman Gran Via spielt in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, zu einer Zeit als „die Deutschen noch nicht einmal ahnten, daß die Spanier eines Tages wohlhabender sein könnten als sie“. Letzteres hat sich zwar inzwischen in Folge der globalen Wirtschaftskrise wieder erledigt, doch für den Rückblick unseres Helden spielt das keine Rolle. Dieser nämlich, wie sein Erfinder „Richter“ mit Nachnamen, erinnert sich noch immer peinlich berührt daran, wie er vor dem Hochaltar des Escorial kurzfristig das Bewusstsein verlor. Sechs Stunden dauerte die kunsthistorische Exkursion bereits, da dürfen die Beine schon mal ein wenig nachgeben. Für „Richter“ jedoch ist es nur der Auftakt zu einer ganzen Reihe von mehr oder weniger peinlichen Erlebnissen, die sein Studienjahr in der spanischen Hauptstadt zu einer ganz besonderen Erfahrung werden lassen.
Man ahnt es schon, Gran Via ist die Art Roman, dessen Komik sich aus dem Missgeschick des Protagonisten speist. Und was wäre dafür geeigneter, als den armen Tropf in die Fremde zu schicken? Zumal dieser voller Erwartungen steckt, welche sich schon bald als naiv oder gar trügerisch erweisen sollen.
Dabei kann es um simple Dinge wie das Bestellen des richtigen Bieres gehen. „Richter“, den die Aussicht, ein Jahr in Madrid zu verbringen, kurze Zeit zuvor noch beinahe in die Luft hüpfen ließ, muss seine erste Niederlage bereits in einem Café einstecken, wo es ihm, trotz vermeintlich korrekter Intonation, nicht gelingt, den Einheimischen zu mimen. Und so geht es weiter.
Historische Silvesterfeier
Schmerzhaft, aber um so amüsanter für den Leser, gestaltet sich der Lernprozess des jungen Mannes aus Deutschland, ob bei der Wohnungssuche oder an der Universität. Vollkommen unvorbereitet ist der Kunstgeschichtsstudent beispielsweise auf den linguistischen Reichtum des fluchgetränkten spanischen Alltagsidioms, der in der wörtlichen deutschen Übersetzung, die uns der Autor nicht vorenthält, besonders zum Tragen kommt. „Warum zum HODEN hältst du?“, fragt da beispielsweise ein Polizist, um sich kurz darauf mit dem schönen Wort „DUMMSCHWANZ“ zu verabschieden.
Neben „Richters“ persönlichem Bildungsroman, der seinem Helden ein Happy End nicht verwehren mag, kann Gran Via mit einem zünftigen Plot um die mysteriöse Schwangerschaft der Tochter einer franquistischen Aristokratenfamilie aufwarten. Doch da gönnt sich der inzwischen krisenerfahrene Protagonist nur eine Nebenrolle, so wie ihm überhaupt die Position des Beobachters am besten zu stehen scheint.
So heiter wie in Richters Spanienposse geht es nicht zu, wenn Platthaus ein paar junge Leute Anfang zwanzig auf eine Expedition in den fernsten Osten schickt. Sie kennen sich seit der gemeinsam verbrachten Schulzeit, die Ich-Erzählerin und ihre Freunde. Die Jahreswende 1989/90 wollen sie in Berlin verbringen, sie träumen von einer historischen Silvesterfeier auf dem Alexanderplatz.
Doch da ist niemand außer ihnen. Die große Party findet am Brandenburger Tor statt, doch dafür sind sie zu spät dran. Kurzentschlossen lassen sie sich von ein paar Ostberlinern nach Hause einladen. Und enden in Pankow bei Marlene, Norbert, Quint und Mark. Es wird getrunken, geredet und getanzt. Die Westler erwarten Begeisterung über den Mauerfall bei ihren Gastgebern, doch die DDR-Bürger verteidigen ihren Staat. Denn zumindest Norbert und Mark haben es im „realen Sozialismus“ zu etwas gebracht. „Wäre bei euch ein Arbeiterkind wie Norbert in den diplomatischen Dienst gekommen?“, will Marlene von ihrem Westbesuch wissen. Und kennt natürlich auch schon die Antwort.
Kurz, die Verständigung zwischen Ost und West mag nicht so recht gelingen. Da diskutieren Mittvierziger, die den Zusammenbruch ihrer Welt schon ahnen, mit jungen Leuten, deren einzige Sorge zu sein scheint, wie sie am Neujahrsmorgen wieder in ihre Westberliner Unterkunft zurückkommen. „Von Marlene und Mark, von Norbert und Quint hat niemand mehr etwas gehört“, lautet vieldeutig der letzte Satz des Romans.
Das Privatleben der Erzählerin und ihrer Freunde hingegen geht weiter. Früher einmal war sie mit Matthias zusammen, als sie nach Berlin aufbrechen, ist sie mit Thomas liiert, und auf der Rückreise denkt sie an ihre Zukunft mit Sixtus, mit dessen Anwesenheit sie zu Anfang gar nicht gerechnet hatte. Nun weiß sie, was sie will. Und wir Leser sind erleichtert, denn über weite Strecken des Romans erschien uns die junge Frau seltsam unentschieden. Aber manchmal dauert ein Reifeprozess ja nur eine Nacht.
Während Peter Richter sich traditionsbewusst zeigt, indem er die tragikomischen Abgründe des Bildungsromans auslotet, pflegt Andreas Platthaus, allerdings mit deutlichem politischen Akzent, das Erbe des vagen Realismus, wie ihn die einstmals junge deutsche Erzählliteratur um die Jahrtausendwende kultivierte. Beides liest man gerne und mit Gewinn.
Andreas Platthaus. Roman. Rowohlt Berlin, Berlin 2009, 206 S., 17,90
Peter Richter. Roman. 319 S., Goldmann, München 2009, 18,95
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.