Keltischer Tiger

Europa Im irischen Nein spiegelt sich die Angst vor Fremdbestimmung

Als sich gegen Ende der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts die politische Geographie Europas nachhaltig zu verändern begann, trieb manch irischen Studenten vor allem eine Frage um: Was wird aus meinem Ferienjob in der "gherkin factory"? Zwar galt die Arbeit in einer irgendwo im Süden der alten Bundesrepublik gelegenen Sauerkonservenfabrik nicht gerade als angenehm, aber besser als den Sommer untätig und vor allem unbezahlt zu Hause zu verbringen, war sie allemal. Doch nun war die Grenze nach Osten offen. Binnen kurzem würde eine deutschsprechende industrielle Reservearmee bereitstehen, um bei saisonbedingten Engpässen einzuspringen. Und für junge Arbeitsmigranten aus Galway, Cork oder Limerick blieben nur schlecht bezahlte Kellnerjobs in Irish Pubs übrig.

Nur wenige Jahre später war klar, dass Befürchtungen dieser Art grundlos waren. Durch niedrige Unternehmenssteuern und ein gutes Bildungsniveau befördert, verwandelte ein rasantes Wirtschaftswachstum das ehemalige Armenhaus Westeuropas in ein Konsumparadies, wo das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen (ebenso wie die individuelle Verschuldung) Spitzenwerte erreicht. Verließen früher junge gut ausgebildete Iren in Scharen die Insel, so finden sich heute, vor allem für den Servicesektor, längst nicht mehr genügend einheimische Arbeitskräfte. Aber nur wenige der Einwanderer, die inzwischen zwölf Prozent der Bevölkerung ausmachen, dürften von der einst vielgerühmten irischen Fremdenfreundlichkeit berichten können.

Irland hat sich verändert, ist moderner und auch materialistischer geworden. Nicht wenige finden diese Entwicklung beunruhigend. Selbst ein kritischer Geist wie der Romancier John Banville, dem jeder nostalgische Rückblick auf das repressive katholische Irland der fünfziger Jahre zuwider ist, empfindet die zunehmende Verweltlichung des Landes als Verlust. Dass sich die ökonomischen Aussichten mittlerweile stark eingetrübt haben, wirkt allerdings auch nicht identitätsstärkend, zumal längst nicht alle Iren vom Aufschwung der letzten Jahre profitiert haben. In einer solchen Situation überrascht die Ablehnung des Vertrags von Lissabon wenig. Verwunderlich erscheint eher die enttäuschte Reaktion von Politikern, die offenbar davon ausgehen, dass es nur entsprechender Aufklärungsarbeit bedürfe, um das Wahlvolk zur richtigen Entscheidung zu bringen.

Gäbe es in anderen Ländern die Möglichkeit eines Referendums, hätte wahrscheinlich kein einziges Papier aus Brüssel, unabhängig von seinem Inhalt, eine Chance auf Ratifizierung, denn um das Vertrauen der EU-Bürger in ihre Institutionen ist es ziemlich schlecht bestellt. Deshalb reichte es auch, dass die bunt gemischte Ablehnungsfront aus Rechtskatholiken, Linksnationalisten und US-Lobbyisten den diffusen, aber nicht unbegründeten Sorgen vieler um einen Verlust nationaler Souveränität mit teils abenteuerlichen Argumenten Ausdruck verlieh. Dass ein populärer Protestsong der Neinsager ausgerechnet im Country-und-Western-Gewand daherkam, ist da nur konsequent, handelt es sich bei Irland doch, wie ein Kommentator des Irish Independent feststellte, um das "am stärksten amerikanisierte Land Europas".

Dabei galten die Iren, anders als die Briten, einst als regelrecht europabegeistert. Und das lag nicht nur an den ungefähr 40 Milliarden Euro Nettosubventionen, die seit 1973 in das Land geflossen sind. Die schwache Ökonomie harmonierte prächtig mit einem ungebrochenen nationalen Traditionsbewusstsein, dem Chauvinismus und Rassismus fremd schienen. Deshalb konnte man sich auch betont tolerant geben. Irische Fußballfreunde beispielsweise beeindruckten bei internationalen Wettbewerben durch ihre ansteckende Fröhlichkeit, und sie waren stolz darauf, sich positiv von den weit weniger friedfertigen britischen Fans zu unterscheiden. Außerdem ist die irische Kultur seit Jahrzehnten ein ausgesprochen attraktiver Exportartikel. In Brüssel, so heißt es, ertränkten nicht nur die irischen EU-Diplomaten ihren Ärger über das mehrheitliche Nein der Inselbewohner in einem Irish Pub. Sich als "keltischer Tiger" zu fühlen, ist da kein angemessener Ersatz. Und je unsicherer man sich der eigenen Identität ist, desto stärker fürchtet man deren Verlust.

Nun, wie der Schriftsteller Richard Wagner, auf die "Marotten einer Insel-Nation von 4,3 Millionen Menschen" zu schimpfen, die das "Projekt einer halben Milliarde Kontinental-Europäer zerstören", verfehlt den Kern des Problems. Dieses "Projekt" in seiner momentanen Verfassung weckt schließlich nicht nur bei den Iren starke Zweifel. Die Entscheidung gegen den Vertrag von Lissabon zeigt vielmehr, wie notwendig es ist, den Zusammenhang von kultureller und nationaler Identität neu zu diskutieren. Denn auf die Ökonomie ist, wie nicht erst die momentane Entwicklung zeigt, kein Verlass.

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