LSD-Sekt aus dem Supermarkt

Zeitschriftenschau Wie man sich um 1968 die Zukunft vorstellte

Im Oktober 1967 treffen sich drei junge Männer mit dem Herausgeber einer damals vielgelesenen linken Zeitschrift, um ein Gespräch über die Zukunft zu führen. Dass es sich um eine post-revolutionäre Zukunft handeln würde, ist den dreien, die allesamt prominente Positionen in der studentischen Protestbewegung bekleiden, klar. Die Frage, wie eine Umwälzung der Verhältnisse denn zu bewerkstelligen sei, bereitet den Diskutanten allerdings ziemliche Schwierigkeiten. Nun möchte der Gesprächsleiter gerne wissen, wie denn "eine konkrete unmittelbare Zukunft" nach den Vorstellungen der angehenden Berufsrevolutionäre aussehen soll. Und zwar auf dem begrenzten Terrain Westberlins.

Begeistert entwerfen die drei ihre Utopie einer vom Kapitalismus befreiten Stadt. Zunächst wird das Rentnerproblem gelöst. Herunter von den Parkbänken und hinein in die Fabriken, lautet die Devise. Dort sei dank Rationalisierung die tägliche Arbeitszeit inzwischen auf fünf Stunden gesunken, so dass das Betriebskollektiv eine rege Debattenkultur pflegen könne, an der die reaktivierten Alten freudig teilnehmen. Es sei sogar zu erwägen, meint einer der revolutionären Futurologen, ob nicht Leute in der Fabrik wohnen sollten, um den ganzen Fabrikbetrieb zu "transzendieren".

Der Einwand des Herausgebers, ob sie nicht die Produktionssphäre überschätzten, wird rasch vom Tisch gewischt. Schließlich könne sich in einer "unter eigene Kontrolle" gebrachten Fabrik "Leben entfalten". Deshalb werde die "neue Struktur der Stadt" auch von den Produktionsstätten, um die sich "Kollektive von jeweils drei-, vier-, fünftausend Menschen zentrieren", bestimmt. Leben werde man in Kommunen, die Familien würden langsam verschwinden und die viele freie Zeit verbrächten die befreiten Menschen in "Lebenszentren".

Eine andere zeitgenössische Quelle ist da auskunftsfreudiger. Die Alten müssen allerdings auf ihren Parkbänken sitzen bleiben, ja, selbst unsere wackeren Studentenrevolutionäre wären nicht erwünscht. "Die Teenager sind in diesem Center ganz unter sich. Niemand darf in ihre Angelegenheiten hineinreden oder sie kontrollieren. Erwachsenen (über 20 Jahre!) ist der Zutritt verboten ... Die Teenager dürfen alle Bücher lesen und alle Filme sehen. Verstöße gegen die Ordnung werden von den Jugendlichen in eigenen Ehrengerichten abgeurteilt."

Im selben Jahr, als Hans-Magnus Enzensberger sein Gespräch mit Rudi Dutschke, Bernd Rabehl und Christian Semler im Kursbuch 14 veröffentlichte, erschien diese Vision eines Teenagerhimmels in einem Periodikum, dessen Auflage die der linksintellektuellen Vierteljahresschrift um ein Vielfaches übertraf. Bravo, Deutschlands größte Zeitschrift für junge Leute, hatte zwar mit studentischen Revolutionsfantasien wenig am Hut, traf aber mit ihren Vorhersagen für das Jahr 2000 den Nerv der aufmüpfigen Jugend vielleicht genauer als das theoriegestählte Trio vom SDS. Natürlich hatten die Redakteure des Blattes "mit führenden Futurologen gesprochen, die sich darüber Gedanken machen, wie wir im 21. Jahrhundert leben werden". Selbstverständlich versuchte die Serie "Im Jahr 2000" "ein getreues Bild der Welt von morgen zu entwerfen". Dass dieses aber zumindest in etwa den Träumen und Wünschen ihrer Leserschar entsprechen musste, dürfte den "Bravo"-Autoren klar gewesen sein.

"Ich heiße Alpha und bin 15 Jahre alt. Morgen, am 3. Mai des Jahres 2000, werde ich Cliff heiraten." Die junge Frau hat ihren Auserwählten zwei Wochen zuvor in einem "Jugend-Center" kennen gelernt. Die beiden sind sich auf Anhieb sympathisch, also kauft Alpha in einem "Drugstore" die Pille und eine Flasche LSD-Sekt (macht garantiert nicht süchtig) und verbringt die Nacht mit Cliff in dessen Apartment im 10. Stock eines Hochhauses. "Nie war die Liebe für mich so schön", weiß die junge Frau, deshalb geht es auch schon bald auf Hochzeitsreise, mit dem "Rocket-Jet" nach Kenia. Alphas Vater Michael ist nicht sehr begeistert von diesen Plänen, doch seine Macht ist begrenzt. Sollte er versuchen seine Tochter zu maßregeln, gar mit Gewalt, bekäme er es mit der Staatsgewalt zu tun.

Cliff, der seinen Namen wahrscheinlich der von Dietmar Schönherr gespielten Hauptfigur der sechziger Jahre-Science-Fiction-Serie Raumpatrouille verdankt, ist achtzehn und arbeitet als Programmierer in einem Roboter-Werk, wo er 2.500 Mark im Monat verdient. Seine Freizeit ist reichlich bemessen, denn es gilt, wie im "befreiten" Westberlin der APO-Strategen, die 25-Stunden-Woche.

Es ist der ungebrochene Glaube an den technischen Fortschritt, der den beiden Zukunftsentwürfen gemeinsam ist. Doch während Dutschke, Rabehl und Semler von der großen kollektiven Arbeits-, Lern- und Wohnmaschine träumen, entpuppt sich das "Wohn-Center" der Bravo als eine Freizeit- und Konsumwelt, die vor allem an den Hedonismus ihrer Leser appelliert: "Im Innern des Hauses befindet sich ein Einkaufszentrum, in dem man von LSD-Sekt bis zum Oben-ohne-Hochzeitskleid alles kaufen kann. Das Haus liegt in einem Park mit Swimming-pool, Tennisplätzen und einer Bastelhalle." Ähnliches schwebte wahrscheinlich auch den Architekten der so genannten Trabantenstädte in den sechziger und siebziger Jahren vor.

Völlig fremd sind dem Jugendmagazin alle familienfeindlichen Tendenzen. Natürlich wächst Alpha in einer Kleinfamilie auf. Unverheiratet zusammenzuleben scheint, trotz aller sexuellen Befreiung, vollkommen indiskutabel zu sein, lieber prognostiziert man die Frühehe als alltägliches Phänomen. Eine eigenständige Jugendkultur manifestiert sich ausschließlich in Strukturen, die denen der Erwachsenenwelt nachgebildet sind.

Und so falsch ist diese Darstellung auch nicht, nur eben in anderer Hinsicht, als den Autoren des Bravo-Reports geträumt haben mag. Ein "Erfolg" der 68er-Revolte ist schließlich die Verlängerung der Adoleszenz bis weit ins vierte Lebensjahrzehnt hinein, so dass den Jugendlichen die Abgrenzung von den Erwachsenen immer schwerer fällt.

Im Wettbewerb der Zukunftsentwürfe gewinnt also das kommerzielle Jugendmagazin gegen die SDS-Theoretiker nach Punkten. Bedauern mag man, dass sich die Prophezeiung einer radikalen Verkürzung der Arbeitszeit nicht bewahrheitet hat. Erleichtert allerdings sollten die Verkünder eines "Methusalem-Komplotts" zur Kenntnis nehmen, dass die demographische Prognose für das Deutschland des Jahres 2000 "Überbevölkerung" lautete. Geburtenkontrolle, so endet der Bravo-Artikel, werde zur gesetzlichen Pflicht eines jeden Bürgers. Je nach Zugehörigkeit zu einer der drei gesellschaftlichen "Intelligenz-Gruppen" würden Familien zwischen einem und drei Kindern zugestanden. Wie gut, dass uns diese Ausgeburt eines familienplanerischen Totalitarismus erspart geblieben ist. Auf den LSD-Sekt und die "vielen anderen Rauschmittel, die man im Jahr 2000 in jedem Supermarkt kaufen kann", verzichten wir unter diesen Umständen doch gerne.

Kursbuch 14, August 1968

Bravo 21 vom 31. Mai 1968


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