Lange ist es her und fast schon nicht mehr wahr, da machte sich einer der führenden Intellektuellen des Landes, berühmt als Essayist und Lyriker, Gedanken über die Literatur. Nein, er behauptete nicht deren Tod, auch wenn dies noch Jahrzehnte später kolportiert werden sollte; er konstatierte nur, dass sich für »litarische Kunstwerke« »eine wesentliche gesellschaftliche Funktion in unserer Lage nicht angeben lasse«. Dann warnte er vor einer »politischen Bewegung, die sich statt mit der Staatsmacht mit älteren Belletristen anlegte«. Den Schriftstellern selbst aber, die sich mit »ihrer Harmlosigkeit« nicht abzufinden vermöchten, empfahl er, und hier überrascht der ungebrochene Glaube an die aufklärerische Macht des Wortes doch ein wenig, sich am politischen Journalismus eines Börne und einer Rosa Luxemburg zu orientieren. Und er nannte Beispiele: Günter Wallraff, Bahman Nirumand, Ulrike Meinhof, Georg Alsheimer. Industriereportagen, kritische Kolumnen, Berichte aus Vietnam und dem Iran. Dass die Fortschritte bei der »politischen Alphabetisierung Deutschlands« dennoch begrenzt seien, führte er darauf zurück, dass auch für die genannten Autoren die Distributionsgesetze des Buchmarktes gelten würden. Der Aufsatz endet mit Andeutungen über eine alternative Form des Austausches zwischen Schriftsteller und Leser, doch hier bleibt der Autor bemerkenswert unkonkret.
An dieser Stelle muss unser Ausflug in die Vergangenheit zunächst enden, und die Frage, inwieweit sich durch das weltweite elektronische Kommunikationsnetz eine Praxis des Austausches etabliert hat, von der damals nicht einmal geträumt wurde, bleibt auch unbeantwortet. Die Texte, um die es im Folgenden gehen soll, können zwar eine gewisse Verwandtschaft mit der vor dreißig und mehr Jahren propagierten, heute nur noch historisch interessanten Dokumentarliteratur nicht leugnen, doch um »Protokolle«, wie es damals gerne hieß, handelt es sich nicht, obwohl sogar eine der Geschichten in Bottrop spielt.
Angelika Overath, die 1957 geborene Tübinger Journalistin und Kritikerin, schreibt »wahre Geschichten«. Das Attribut verheißt zunächst nichts Besonderes, denn dass uns wahrheitsgemaß berichtet wird, ist ein Anspruch, den wir Leser von Zeitungen und Magazinen seit jeher an Artikel und Reportagen stellen. Es ist die Bezeichnung »Geschichten«, die neugierig macht. Als literarische Gattungsbezeichnung ist der Begriff eher unspezifisch; in einschlägigen Wörterbüchern findet man Definitionen der Kurzgeschichte, der Novelle, des Romans, aber zur Geschichte lässt sich eigentlich kaum mehr sagen, als dass sie die Form ist, mittels derer man einem Geschehen durch Erzählung einen Sinn verleiht. Aber was heißt »kaum mehr«? Wahrscheinlich ist das Erzählen von Geschichten eine der ältesten Formen menschlicher Kommunikation.
Angelika Overath also erzählt wahre Geschichten. Vielleicht treibt sie die eigene Neugier hinaus in die Welt, vielleicht schicken sie auch die Redaktionen der Zeitungen und Zeitschriften, die ihre Texte drucken, auf Entdeckungsreise. Eine solche Reise führt die Journalistin dann zum Beispiel in das »Kloster der Opfer des Heiligen Herzen Jesu«, in dem sich fromme Mystikerinnen strengsten Regeln des Zusammenlebens unterwerfen. Vierzehn Tage lebt sie gemeinsam mit den Frauen, schaut ihnen zu und führt Interviews. Die Geschichte, die sie anschließend in der Zeitschrift Geo veröffentlicht, verschweigt diese Bedingungen der journalistischen Arbeit nicht. Erzählt wird natürlich auch die Geschichte des Klosters, doch im Mittelpunkt stehen das Alltagsleben und die Biographien der Nonnen, die in ihrem Gast eine sensible und unvoreingenommene Beobachterin gefunden haben. »Reine Aussteigerinnen« heißt der doppeldeutige Titel des Textes, in dem eine Welt zur Darstellung kommt, die für den Leser ebenso exotisch sein dürfte wie die des afrikanischen Dorfes, in dem Angelika Overath von der Ausbildung der Feticheusen, also von Frauen, die sich auf magische Gegenstände verstehen, erfährt.
Es mutet fast programmatisch an, dass die beiden Geschichten, »Reine Aussteigerinnen« und »Unter Feticheusen« den Auftakt bilden zu der ersten Sammlung mit Angelika Overaths, die vor zwei Jahren im Schweizer Libelle Verlag erschienen ist. Händler der verlorenen Farben lautet deren sehr poetisch klingender Titel, dabei geht es in der gleichnamigen Geschichte zunächst einmal um eine durch die industrielle Entwicklung geschaffene Marktlücke. Porträtiert wird ein gelernter Drogist, der nach alten Rezepten auf tierischen und pflanzlichen Rohstoffen basierende Farben herstellt und vertreibt. Nun ist dieses Geschäft schon deshalb faszinierend, weil eine Farbe wie das aus dem Halbedelstein Lapislazuli gewonnene Ultramarin vor allem zur Restauration verblassender Kunstschätze benötigt wird. Außerdem ist der Drogist eben nicht nur Geschäftsmann, sondern ein im besten Sinne Besessener, der auf der Suche nach verschollenen Farbrezepten und seltenen Rohstoffen die Welt bereist. Und staunend steht der Leser gemeinsam mit der Autorin vor diesem besonderen Menschen und seiner Geschichte. Denn hier liegt das Faszinosum dieser Texte, die mit jeder Zeile die Freude an der Entdeckung vermitteln, ohne in den Gestus der Besserwisserei zu verfallen.
Deshalb ist es eine besondere Freude, dass in diesem Herbst ein zweiter Band mit »wahren Geschichten« erscheint, der dieses Mal einen ganz eigenen Titel trägt: Vom Sekundenglück brennender Papierchen. Da gibt es natürlich eine Beziehung zu der Geschichte von den bunten Orangenpapierchen und ihren Sammlern, doch andererseits könnte man diese bildliche Darstellung flüchtiger Freude auch auf den zerstreuten Leser von Zeitungen und Zeitschriften beziehen, den die Lektüre eines gelungenen Textes kurzfristig in Hochstimmung versetzt. Manchmal greift er in einem solchen Fall zur Schere, aber wirft er später tatsächlich noch einmal einen Blick auf die gesammelten Ausschnitte? Da verhält es sich mit dem Glück beim Leser eines soliden Buches doch ganz anders. Der Rezensent kann dies mit besonderem Nachdruck behaupten, da er nicht wenige der Geschichten in den beiden Büchern schon einmal gelesen hatte, und das sträflicherweise ohne auf den Namen der Autorin zu achten. So erschloss sich erst jetzt, bei der zweiten Lektüre, ein Zusammenhang zwischen den Porträts dreier Familien in Das Abendmahl und der Vorführung der Gebrüder Enzensberger als die »bösen guten Buben«, die beide im Abstand von einigen Monaten in der Schweizer Kulturzeitschrift du erschienen.
Auch im zweiten Band finden sich Erkundungsreisen, in fremde Länder wie auch in die unbekannten Sphären unseres Alltagslebens. Aber ob Angelika Overath Zimmermädchen bei der Arbeit beobachtet, eine Schule für Blindenhunde besucht oder bei der Algenernte in der Bretagne zuschaut, stets folgt ihr der Leser bereitwillig und gern. Und das liegt nicht zuletzt an ihrer Sprache, die, wie das Handwerk des farbensammelnden Drogisten aus dem ersten Band, nüchtern und poetisch zugleich ist. Diese Eigenschaft zeigt sich vor allem dann, wenn sie sich einem vielbetretenen, aber selten gewürdigten Gegenstand wie dem Teppichboden zuwendet oder dem Bücher fressenden Silberfischchen ein liebevolles und kenntnisreiches Porträt widmet.
Natürlich sind solche Geschichten Luxus. Einen Beitrag zur politischen Aufklärung leisten sie nur sehr bedingt. Man braucht sie eigentlich nicht, vor allem nicht in der Form eines schönen Buches. Sie sind von jener Nutzlosigkeit, wie sie einst nicht nur der berühmte Intellektuelle aus den Anfangszeilen dieser Besprechung der »bürgerlichen Literatur« insgesamt attestierte. Aber man möchte nicht auf sie verzichten, auch wenn sie ihre Leser manchmal sogar mit der Welt versöhnen.
Angelika Overath: Händler der verlorenen Farben. Wahre Geschichten. Libelle Verlag. Lengwil 1998, 169 S., 28.- DM
Angelika Overath: Vom Sekundenglück brennender Papierchen. Wahre Geschichten. Libelle Verlag, Lengwil 2000, 240 S., 36.- DM
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