Sohn eines Mörders

Lügen Der Mord an der Casino-Erbin Agnès Le Roux beschäftigte die französische Justiz seit 1977. Über eine fesselnde Rekonstruktion
Ausgabe 45/2017

Am Allerheiligenwochenende des Jahres 1977 verschwindet eine junge Frau spurlos. Es wird vermutet, dass sie einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist. Auch ein Suizid wäre möglich, schließlich hat sie in den Wochen zuvor bereits zweimal versucht, sich das Leben zu nehmen.

Eine Leiche wird nie gefunden. Dass der damalige Geliebte der jungen Frau dennoch fast 37 Jahre später, im April 2014, wegen Mordes zu einer 20-jährigen Freiheitsstrafe verurteilt wird, ist der (vielleicht vorläufige) Endpunkt eines der bizarrsten Kriminalfälle in der jüngeren Geschichte Frankreichs. Und er überrascht die Gerichtsreporterin Pascale Robert-Diard ebenso wie die anderen Prozessbeobachter. Denn niemand hätte damit gerechnet, dass der Sohn des Angeklagten plötzlich gegen seinen Vater aussagen würde. Die Journalistin will wissen, was ihn zu dieser Entscheidung bewegte. Das Ergebnis ihrer Recherche liegt nun als Buch vor. VerratDas dunkle Geheimnis der Familie Agnelet erzählt von Manipulation und falsch verstandener Loyalität. Es ist die Geschichte eines ebenso charismatischen wie skrupellosen Manipulators und seiner Familie. Aber auch diese Betrachtungsweise ist eine Frage des Standpunktes. Was wirklich in der Zeit zwischen dem 26. Oktober und dem 2. November 1977 entweder in Nizza oder im italienischen Cassino geschah, bleibt ungeklärt.

Der Name des Opfers war Agnès Le Roux. Anteile an einem der größten Spielcasinos Frankreichs hatten ihre Familie reich gemacht. Doch Agnès wollte ein anderes Leben. Ihr Erbteil sollte dazu dienen, eine Zeitung zu gründen. Den Titel wusste sie bereits. Für den gewieften Anwalt Maurice Agnelet muss es ein Leichtes gewesen sein, die naive Rebellin zu überreden, ihm für die Summe von drei Millionen Franc ihr Stimmrecht im Aufsichtsrat des Casinos zu übertragen. Mit dem Ergebnis, dass die Geschäftsführung auf den ärgsten Konkurrenten der Familie, dem man zudem Mafiaverbindungen nachsagte, übertragen wurde. Der neue Geschäftsführer gehörte derselben Freimaurerloge an wie Agnelet.

Er gefiel Männern und Frauen

Maurice Agnelet war attraktiv, „zog die Blicke der Männer an und gefiel den Frauen, er hatte große Erwartungen an seine Freimaurerfreundschaften“ und war aktiv in der Liga für Menschenrechte. Seine Frau Anne ignorierte seine Affären. Doch seine Anwaltskanzlei lief schlecht, die Verbindung zu der reichen Erbin Agnès kam ihm gut zupass. Dass nach deren Verschwinden der Verdacht auf ihn fallen würde, lag nahe. Im August 1983 wurde erstmals Anklage erhoben, aber handfeste Beweise gab es nicht. Im Gegenteil: Eine Aussage seiner zweiten Frau Françoise verschaffte Maurice Agnelet ein Alibi. Auch Anne, die sich schon einige Jahre zuvor von ihm getrennt hatte, sagte zu seinen Gunsten aus.

Auf Seiten des Vaters kämpft auch Guillaume, der mittlere von drei Söhnen. Auch wenn er es eigentlich besser wissen müsste. „Aber er verhält sich wie ein Sohn, der gelernt hat, mit der Krebserkrankung seines Vaters zu leben, und der sich immer wieder vorsagt, dass der Vater davonkommen wird, auch wenn die Untersuchungsergebnisse nicht gut aussehen, vor allem dann, wenn sie nicht gut aussehen.“ Maurice Agnelet fühlt sich so sicher, dass er sich gegenüber Guillaume zu Äußerungen hinreißen lässt, die seine Schuld nahelegen. Ein Wissen, das dieser jahrzehntelang mit sich herumträgt, aber lange erfolgreich verdrängen kann. Der erste Prozess im Frühjahr 1986 endet, ohne dass seinem Vater der Mord nachgewiesen werden kann, der Sohn ist erleichtert. „Man kann problemlos damit leben, dass der eigene Vater schlimmstenfalls ein kleiner Betrüger ist. (...) Man kann sogar stolz darauf sein.“ Lange hält dieses Gefühl nicht an. Er habe sich seit seinem 15. Lebensjahr beim Aufwachen schlecht gefühlt, gibt Guillaume im letzten Prozess gegen seinen Vater zu Protokoll. Geschwiegen habe er dennoch: „Weil es um meinen Vater geht. Um meine Familie.“ Eine Einstellung, die seine Mutter und sein jüngerer Bruder noch immer vertreten. Sie beschuldigen ihn der psychischen Labilität, ziehen seine Glaubwürdigkeit in Frage. Dabei hat Anne ihren Ex-Mann einst als den „leibhaftigen Teufel“ bezeichnet. Aber daran scheint sich nur Guillaume zu erinnern.

Die Le-Monde-Journalistin Robert-Diard, die auch den Blog Chroniques judiciaires betreibt, wurde für ihre Arbeit mehrfach ausgezeichnet. Sie steht auf Guillaumes Seite. Dessen Gewissenskonflikt veranschaulicht sie auf beinahe schmerzhafte Weise. Wider besseres Wissen bescheinigt er seinem Vater, dessen Gegenwart ihm nur kurze Zeit später unerträglich werden wird, im Gerichtssaal ein „moralisches Empfinden“ und beteuert dessen Unschuld. Maurice Agnelet hingegen porträtiert sie als wahres Scheusal, eiskalt, egoistisch und rachsüchtig. Er kann sogar darauf bauen, dass seine Ex-Frau Anne, trotz allem Hass auf den Mann, der sie ständig betrogen und gedemütigt hat, zu seinen Gunsten aussagen wird. Eine ausgesprochen komplizierte Gemengelage also, der die Autorin mit einer ziemlich komplizierten Textstruktur gerecht zu werden versucht, so dass es nicht immer einfach ist, bei der Lektüre den Überblick zu behalten. Chronologische Sprünge führen zwangsläufig zu Redundanzen, ohne das dies erkenntnisförderlich wäre. Dass man das Buch dennoch mit Interesse zu Ende liest, ist der Ungeheuerlichkeit des Falls geschuldet. Und die war letztendlich ja auch das Motiv der Autorin.

Info

Verrat. Das dunkle Geheimnis der Familie Agnelet Pascale Robert-Diard Ina Kronenberger (Übers.), 157 S., Zsolnay Verlag 2017, 18 €

Die Bilder des Spezials

Terje Abusdal lebt und arbeitet in Oslo. Für seine Reihe Slash & Burn erhielt der 1978 im norwegischen Evje geborene Fotograf den renommierten Leica Oskar Barnack Award.

2014 studierte er in Aarhus an der Dänischen Schule für Medien und Journalismus und besuchte anschließend mehrere Meisterklassen. 2015 veröffentlichte er sein erstes Fotobuch Radius 500 Metres. In seinen Arbeiten, die in Einzel- und Gruppenausstellungen zu sehen sind, widmet er sich vor allem den Themen Identität und Migration. Die Reihe Slash & Burn entwickelte sich zu einem Langzeitprojekt. Was bedeuten Tradition und Mystik? Wann gehört man zu einem Land, zu einer Gruppe? In Slash & Burn gelingt Terje Abusdal eine magische Annäherung an die Waldfinnen, eine historische naturverbundende Volksgruppe in Skandinavien. Bei ihnen sei „ganz unabhängig von deinem ethnischen Ursprung – das Kriterium der Zugehörigkeit eindeutig: Man spürt es einfach“. Die Bilder aus Slash & Burn erscheinen 2018 im Kehrer Verlag. Im Internet findet man Zugang zuseinem Werk unter: www.terjeabusdal.com

Joachim Feldmann ist seit 40 Jahren Mitherausgeber der Literaturzeitschrift Am Erker. Die aktuelle Ausgabe 73 trägt den Titel IchWolke MenschMaschine

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