Spielberger spinnt nicht

Fantastik In Christian Mährs „Tod auf der Tageskarte“ beschert eine Kopfverletzung dem Protagonisten Spielberger eine neue Gabe. Kann er wirklich in die Zukunft blicken?
Ausgabe 20/2014

Drei bewaffnete Männer stapfen durch die Nacht. „Man darf sagen“, verrät uns der Erzähler, „dass die drei für einen Banküberfall mit Geiselnahme adäquat ausgestattet wären.“ Doch eine Bank ist nirgendwo in Sicht. Schließlich befindet man sich im Gamperdonatal nahe der Grenze zur Schweiz. Und bei dem Trio handelt es sich auch nicht um Gangster, auch wenn der Holzschnitzer Lothar Mossmann einem üblen Zeitgenossen (aus Notwehr) einen Lochbeitel in den Bauch gerammt hat, was tödlich endete. Aber halt, das ist schon viel zu weit hineingewagt in die Handlung dieses aktionsreichen, dabei wunderbar bedächtig erzählten Kriminalromans. Fangen wir also von vorn an.

Die Rappenlochschlucht

Tod auf der Tageskarte lautet der rasant formulierte Titel des Buchs, das von Christian Mähr, 1952 in Nofels bei Feldkirch (Vorarlberg) geboren und heute in Dornbirn (ebenfalls Vorarlberg) ansässig, geschrieben wurde. Der studierte Chemiker ist nicht nur durch originelle Sachbücher, sondern auch durch eine kleine Anzahl gediegener Kriminalromane bekannt geworden. Sein neues Werk gehört, auch wenn der Titel auf einen Beitrag zur Lebensmittelchemie hindeuten könnte, zur Spannungsliteratur. Schließlich heißt es auf dem Cover nicht umsonst „Spielberger ermittelt“. Aber kann man das, was der Gastwirt Matthäus Spielberger so treibt, wirklich als Ermittlung bezeichnen?

Eigentlich schaut der Betreiber der Blauen Traube in Dornbirn (!) ja lieber in die Sterne – der Abneigung seiner Ehefrau gegen dieses Hobby zum Trotz. Aber ausgerechnet bei einem seiner astrologisch motivierten Ausflüge in eine entlegene Berghütte, wo die Dunkelheit der Nacht noch nicht durch Kunstlicht „verschmutzt“ wird, meint er, etwas beobachtet zu haben, das einen Polizeieinsatz erfordert. Doch er kommt nicht dazu, die Ordnungshüter zu benachrichtigen. Auf der vereisten Straße gerät sein Fahrzeug ins Schleudern, und Spielberger erleidet beim Aufprall auf die Frontscheibe eine Gehirnerschütterung. Was er gesehen haben will, bleibt ein Rätsel. Doch die Kopfverletzung beschert ihm eine neue fantastische, für den Alltag aber wenig brauchbare Gabe.

Wie weiland Josef in Ägypten träumt Spielberger von Dingen, die tatsächlich geschehen werden. Doch anders als der junge Mann aus dem Alten Testament bedürfen die Träume des Gastwirts keiner Deutung. „Eher wie ein Filmausschnitt, technisch nicht auf Kommerzkinoniveau, aber besser als ein verwackeltes Handyvideo“ präsentiert sich die Szene, in der zwei Männer einen dritten, der offensichtlich nicht mehr lebt, von der ihm wohlbekannten Brücke über die Rappenlochschlucht werfen. Muss man solche Träume ernst nehmen? Frau und Tochter Spielberger meinen, nicht. Ganz anderer Ansicht aber sind die Stammtischkumpane, ein pensionierter Chemielehrer, ein Buchhalter, ebenfalls im Ruhestand, und der besagte Holzschnitzer. Allesamt Männer, mit denen sich Spielberger „ohne lange Erklärungen“ versteht. Also bricht die Runde auf, um den Wahrheitsgehalt des Traums zu überprüfen. Und tatsächlich begegnet den Herren ein Mann, den der Wirt auf Anhieb wiedererkennt.

Wer nun verwirrt ist, darf Luft holen. Christian Mähr erzählt von diesen Vorkommnissen auf eine Weise, die viel weniger irritieren dürfte als diese knappe Inhaltswiedergabe. Zumal bislang nur annähernd erfasst wurde, was auf den ersten 80 Seiten des Romans alles geschieht. Außerdem verbietet es sich beim Krimi natürlich, des Rätsels Lösung auszuplaudern. Nur so viel sei gesagt: Außer der Frau, der Tochter und den drei Stammtischbrüdern tritt ein erlesenes Sortiment von Bösewichten und Mitläufern in Aktion.

Eine sensationelle Erfindung

Im Mittelpunkt des Geschehens steht eine ebenso bahnbrechende wie gefährliche Erfindung, deren Funktionieren allerdings recht ungewiss ist. Davon ahnen jene, die bereit sind, eine fürstliche Summe dafür zu zahlen, zunächst nichts, während das dem Geldempfänger ziemlich gleichgültig ist. Schließlich braucht er frisches Kapital, um seiner Glücksspielleidenschaft zu frönen. Und dann wäre da noch ein ausländischer Geheimdienst. Alfred Hitchcock hat für Kunstgriffe dieser Art den schönen Namen MacGuffin erfunden. Mal ist es eine Geheimformel, mal ein Koffer mit Geld, mal, wie in diesem Fall, eine sensationelle Erfindung. Wichtig ist, dass die Handlung in Gang gehalten wird.

Christian Mähr handhabt diese Spannungstechnik ebenso virtuos wie ironisierend. Überhaupt wäre es an dieser Stelle angebracht, die Erzählweise genauer ins Auge zu fassen. Denn die hat es in sich. Der Autor lässt seinem auktorialen Erzähler alle Freiheiten, er darf kommentieren, analysieren, interpretieren. Mehr als die einzelnen Figuren weiß er allemal. Aber auch mehr als der Leser. „Wir brauchen ihn ja noch“, heißt es ganz zu Anfang, nachdem Spielberger seinen Unfall erlitten hat. Wozu, das wird natürlich nicht verraten. Aber man ahnt es. Und Ahnung ist entscheidend in diesem großartigen Roman, der sich hier zu unserem Vergnügen auf solch spielerisch nonchalante Weise präsentiert.

Tod auf der Tageskarte Christian Mähr Deuticke 2014, 383 S., 17,90 € Joachim Feldmann schreibt als freier Kritiker u. a. der Freitag, Die Welt und crimemag.de

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