Teflon

Emanzipation Joachim Bauer liefert in seinem Buch "Lob der Schule" lebensnahe Vorschläge zur Bildungsreform

In einem kleinen Artikel für die Zeitschrift La città futura widmet sich Antonio Gramsci dem Analphabetismus, der damals (1917) vor allem unter der italienischen Landbevölkerung noch stark verbreitet war. Weil für es für das Leben im Dorfe und in der Familie ausreiche, sich im Dialekt zu unterhalten, konstatiert der Philosoph, fehle das Bedürfnis, Lesen und Schreiben zu lernen. Unter solchen Umständen sei die Aneignung dieser Fähigkeiten "eine Tortur, etwas gewaltsam Aufgezwungenes". Aus diesem Grunde habe die sozialistische Propaganda die "Kenntnis des Schreibens und Lesens weiter vorangebracht als alle Gesetze zur Schulpflicht zusammengenommen", denn sie erwecke "das lebhafte Gefühl, dass man nicht nur Mitglied eines kleinen, durch unmittelbare Interessen bestimmten Kreises ist, sondern zusammen mit anderen Bürgern einer viel weiteren Welt, deren Ideen, Hoffnungen und Leiden es einander mitzuteilen gilt". "Das Gesetz ist Zwang", schreibt Gramsci, "es kann dich verpflichten, die Schule zu besuchen, aber nicht, zu lernen, und wenn man gelernt hat, nicht wieder zu vergessen."

Die Vorstellung, dass Bildung die Emanzipation einer unterdrückten Klasse befördern könne, und damit natürlich auch die Emanzipation der ihr angehörigen Individuen, war lange Zeit ein zentraler Gedanke der Arbeiterbewegung. Spuren davon finden sich noch in den bildungspolitischen Debatten der sechziger und siebziger Jahre in Westdeutschland, die immerhin dazu führten, dass der Anteil von Kindern, die eine "höhere Schule" besuchen durften, stark anstieg. Allerdings waren es, wie der Dortmunder Bildungsforscher Hans Günter Rolff schon früh feststellte, weniger Arbeiterkinder, die von den Reformen profitierten, als die Sprösslinge der Mittelschicht. Und heute?

"Große Teile des deutschen Schulsystems stecken in einem allseits bekannten und dennoch beharrlich fortbestehenden Desaster. Dieses System entlässt Schulabgänger, die zu einem hohen Anteil weder für eine weiterführende Ausbildung tauglich noch aufs Leben vorbereitet sind." Was der Freiburger Psychotherapeut Joachim Bauer beschreibt, dürfte keinen Schulpraktiker überraschen. Bei den Jugendlichen, an denen "zehn oder mehr Jahre ihrer Schulzeit abgetropft" sind "wie Wasser an einer Teflonschicht", handelt es sich übrigens nicht nur um jene zehn Prozent eines jeden Jahrgangs, die ihre Bildungslaufbahn ohne jeglichen Abschluss beenden. Längst schon garantiert selbst die so genannte "mittlere Reife" nicht mehr, dass ihr Inhaber richtig rechnen, schreiben und lesen kann. Und auf einen Ausbildungsplatz hoffen nicht selten auch besser Qualifizierte vergebens.

Nun ist Bauer niemand, der die bekannten Mängel unseres Schulsystems noch einmal ausgiebig beklagen will, im Gegenteil. Schließlich heißt sein Büchlein provozierend Lob der Schule. In einer Zeit, da vielen Bildungspolitikern nur einfällt, es komme darauf an, mehr Stoff in immer kürzerer Zeit durchzunehmen und diesen in standardisierten Prüfungen wieder abzufragen, setzt Joachim Bauer auf Veränderungen im Schulalltag, die für viele Schüler überhaupt erst wieder akzeptable Lernbedingungen herstellen. Dabei handelt es sich um grundvernünftige Empfehlungen, die eigentlich jedem, auch Schulpolitikern, einleuchten müssten. Dass Bauer sich auf neurobiologische Erkenntnisse beruft, verleiht seinem Plädoyer zusätzliches Gewicht.

Der Forderungskatalog ist schnell zusammengefasst: Um Kinder für das Lernen zu motivieren, brauchen wir Ganztagsschulen, kleinere Klassen, mehr musische und sportliche Aktivitäten, engagiertes Lehrerpersonal und kooperative Eltern. Angesichts der sozialen Wirklichkeit mögen diese Forderungen in ihrer Knappheit naiv wirken. Das täuscht. Bauers Ratschläge für Eltern und Pädagogen sind lebensnah und praktikabel. Weniger Anlass zum Optimismus geben seine Forderungen an die Politik, zum Beispiel nach einem Investitionsprogramm für die Modernisierung von Schulen. Und wenn der Autor am Ende seines Buches die zunehmende Ökonomisierung unserer Gesellschaft beklagt, wird schmerzlich klar, welche Hindernisse eine sinnvolle Bildungspolitik zu überwinden hätte. Zumal die Zeiten, als die Sehnsucht nach der weiten Welt außerhalb des eigenen beschränkten Horizonts Bildungshunger zu erzeugen vermochte, schon lange vorbei sind.

Joachim Bauer: Lob der Schule. Sieben Perspektiven für Schüler, Lehrer und Eltern. Hoffmann Campe. Hamburg 2007, 140 S., 12,95 EUR


Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden