Vor dem Untergang

Krimi Mit „Am Ende des Tages“ legt Robert Hültner den sechsten Band um den bayerischen Inspektor Paul Kajetan vor. Es könnte leider dessen letzter Einsatz sein
Ausgabe 21/2013

Kaum hat er sich’s versehen, liegt der SA-Mann am Boden. Man soll eben kleine Männer mit großer Klappe nicht unterschätzen. Gustav Kull heißt der in fernöstlicher Kampftechnik geschulte Fremde, der auch in einer bayerischen Dorfkneipe keinen Hehl daraus macht, dass ihm die Braunhemden zuwider sind. Der Privatermittler aus der fernen Hauptstadt ist in hochoffiziellem Geheimauftrag unterwegs. Es gilt, die Umstände eines rätselhaften Flugzeugabsturzes in den Alpen zu erforschen. Käme nämlich ans Licht, welch brisante Fracht die Maschine an Bord hatte, wäre das politische Schicksal von Reichsaußenminister Stresemann besiegelt.

Bayern 1928. In Berlin regiert eine große Koalition unter Führung des Sozialdemokraten Hermann Müller. Die Nazis haben bei den letzten Wahlen eine Schlappe erlitten und scheinen in der politischen Bedeutungslosigkeit zu versinken. Aber es gibt noch andere Demokratiegegner von rechts, deren frühere Beziehungen zu manchem Kabinettsmitglied nicht ruchbar werden dürfen. Also kraxelt der überzeugte Großstädter Kull auf Spurensuche in den Chiemgauer Alpen herum und bemüht sich, oft vergebens, den maulfaulen Eingeborenen Auskünfte zu entlocken. Dass er offenbar prinzipiell handfest auszutragenden Konflikten nicht aus dem Wege geht, erweist sich der Sache ebenso wenig als dienlich wie seine unübersehbare Arroganz.

Während sich Kull auf fremdem Terrain bewegt, sieht Paul Kajetan, früher einmal Kriminalinspektor bei der Münchner Polizei, die Chance, seine bürgerliche Existenz wiederzugewinnen. Der ebenso scharfsinnige wie störrische Ex-Beamte hatte sich in den von politischen Verbrechen geprägten Jahren nach der Zerschlagung der Münchner Räterepublik bei seinen Vorgesetzten ausgesprochen unbeliebt gemacht. Aus dem Polizeidienst entlassen, schlägt er sich mehr schlecht als recht als Privatdetektiv durch, ohne dass seine Querelen mit der Obrigkeit ein Ende hätten. Doch nun ergibt sich die Möglichkeit, in sein altes Amt zurückzukehren.

Zwei Exzentriker, eine Provinz

Falls es ihm nämlich gelingt, die Unschuld eines seit fast einem Jahrzehnt wegen Mordes an seiner Ehefrau inhaftierten Bauern nachzuweisen, hat sein Chef durchblicken lassen, werde man seinem Gesuch auf Wiedereinstellung stattgeben. Und im Unterschied zu Kull, den er zu diesem Zeitpunkt noch nicht kennengelernt hat, bewegt sich Kajetan in der bayerischen Provinz wie der sprichwörtliche Fisch im Wasser.

Die deutsche Krimilandschaft betrat Paul Kajetan 1993 zum ersten Mal. Da erschien unter dem Titel Walching ein Roman, in dem der Münchner Schriftsteller Robert Hültner seinen dickköpfigen Ermittler einen Mord im gleichnamigen Alpendorf aufklären ließ. Nun liegt mit Am Ende des Tages der sechste Band der Reihe vor. Wie seine Vorgänger überzeugt auch dieses Buch durch präzise Milieuschilderungen und ein gut recherchiertes Zeitkolorit.

Gleich den Geschichten und Romanen des großen Provinzschriftstellers Oskar Maria Graf wird mit viel Empathie, aber nicht unkritisch von der Welt der kleinen Leute erzählt, von Bauern, Tagelöhnern und Dienstboten, die von den historischen Ereignissen regelrecht überrollt werden. So wie der junge Valentin, der einmal im Leben gegen seine Prinzipien verstößt und sich etwas aneignet, das ihm nicht gehört. „Gegen ein Gesetz“, so redet er sich ein, „mochte er dabei verstoßen haben. Nicht aber gegen die Gerechtigkeit.“ Nützen wird ihm diese aus nackter Angst gewonnene ethische Unterscheidung nichts. Dass er der Versuchung nicht widerstehen konnte, bezahlen der Bauer und seine Familie mit dem Leben.

Kritische Heimatliteratur

Manchmal allerdings werden die Armen und um ihr Lebensglück Betrogenen auch selbst zu Tätern. Paul Kajetan gelingt es, durch hartnäckige Nachforschungen zu beweisen, dass Ignaz Rotter seine Frau nicht umgebracht hat. Doch die tatsächlichen Zusammenhänge sind leider kaum geeignet, das kindliche Bedürfnis des Lesers nach poetischer Gerechtigkeit zu befriedigen. Zudem muss der Ermittler feststellen, dass er als Werkzeug in einer politischen Intrige missbraucht wird. Dabei handelt es sich um eben jenes Komplott, das zu entwirren Gustav Kull aus Berlin nach Bayern gereist ist.

Gleich zwei Ermittler unterschiedlichen Typus antreten zu lassen, ist eine gelungene Reminiszenz an die Genretradition und einer der Vorzüge dieses Kriminalromans. Während Paul Kajetan vom Wesen her Friedrich Glausers Wachtmeister Studer und Simenons Kommissar Maigret verwandt scheint, ist Kull dem Modell des Privatschnüfflers amerikanischer Prägung verpflichtet: selbstbewusst, impulsiv und gelegentlichen körperlichen Einsätzen nicht abgeneigt. So einer hat es außerhalb seines vertrauten Großstadtreviers nicht leicht. Clever genug, um auf die richtige Fährte zu kommen, ist er aber allemal. Doch dann ist es auch für Kull zu spät. Gegen Ende des Romans müssen sich beide Ermittler ihrer Haut wehren. Sie haben sich mit einer Macht angelegt, der sie nicht gewachsen sind und der sich wenige Jahre später das ganze Land unterwerfen wird. Dass der Autor seinem Helden zum Schluss noch einen kleinen Triumph gönnt, scheint angesichts der historischen Perspektive Ausdruck rebellischer Verzweiflung. Ob und wie es mit Kajetan weitergehen wird, bleibt ungewiss. Naheliegend wäre, dass mit Das Ende des Tages zwanzig Jahre nach Erscheinen des ersten Bandes das Ende einer Krimireihe um einen bemerkenswerten Ermittler erreicht ist.

Am Ende des Tages Robert Hültner btb Verlag 2013, 320 S., 19,99 € Joachim Feldmann ist Mitbegründer der Literaturzeitschrift Am Erker

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden