Wie ein Schlag auf den Kopf

Kalkulierter Schock Vor 25 Jahren versetzte Punk der Rockmusik zum letzten Mal einen Innovationsschub

Kurz sind jene Momente des Aufbegehrens, aus denen die Legenden der Avantgarde gestrickt werden. Wahrscheinlich ahnte niemand, der am 23. Juni 1916 im Zürcher Cabaret Voltaire den Auftritten eines in seltsamer Verkleidung Lautgedichte deklamierenden Mannes beiwohnte, dass hier Radikalkritik "an der Institution Kunst, wie sie sich in der bürgerlichen Gesellschaft herausgebildet hat" (so der Literaturwissenschaftler Peter Bürger in seiner einflussreichen Studie Theorie der Avantgarde von 1974) geübt wurde. Auch der Künstler selbst war mehr von der romantischen Idee beflügelt, durch den Verzicht auf das verständliche Wort, "der Dichtung ihren letzten heiligsten Bezirk" zu bewahren.
Seine Kritik galt nicht der Kunst, sondern der "durch den Journalismus verdorbene(n) und unmöglich gewordene(n) Sprache". Und selbst wenn sich die Bewegung des Dadaismus, unabhängig von den Intentionen ihres Protagonisten Hugo Ball, durch ihre bloße Existenz der "bürgerlichen Institution Kunst" entgegengestemmt hätte; lange dauerte es nicht, bis letztere den Kampf für sich entschieden hatte. Wunderbar lässt sich die Absorptionskraft dieser gesellschaftlichen Einrichtung an Marcel Duchamps, einem anderen von Bürgers Kronzeugen, beobachten. Wenn nämlich das in der Londoner Tate Modern ausgestellte Exemplar seines berühmtesten Readymade Fountain mit dem Hinweis versehen ist, es handle sich nicht um das originale Pinkelbecken - dieses sei verloren - sondern um eines von fünfen, die der Künstler in den sechziger Jahren durch eine nachträgliche Signatur zum Kunstwerk veredelt habe, ist das alles andere als ein "Zeichen des Hohns gegenüber allen Ansprüchen individuellen Schöpfertums". Es ist nämlich kaum zu vermuten, dass sich das Museum mit einem Exemplar, das ein anderer als der Künstler mit dem Phantasienamen "R. Mutt" versehen hat, zufrieden gegeben hätte.
Und dennoch hat die Revolte gegen die etablierten Kunstverhältnisse immer wieder von neuem Konjunktur. Aber sie ist auch schwieriger geworden, denn die Zeit, die der Betrieb braucht, um sich die jungen Rebellen gefügig zu machen, wird immer kürzer.
Als die etablierte deutsche Popmusikpresse das Phänomen "Punk" endlich zur Kenntnis nahm, geschah dies zum Teil schon in Form von Nachrufen. Punk - die verratene Revolution hieß beispielsweise ein Artikel des Melody Maker-Journalisten Allan Jones in der 1978er Ausgabe des Jahrbuchs Rock Session. Jones beklagte die rasch einsetzende Kommerzialisierung des Aufstands gegen die satt und träge gewordene Rockszene und kolportierte gleichzeitig den gängigen Entstehungsmythos des letzten nachhaltigen Innovationsschubs in der Rockmusik.
Mitte der siebziger Jahre waren die "progressiven" Bands wie Yes, Genesis, Emerson, Lake Palmer, aber auch Schwermetallpioniere wie Led Zeppelin in die Jahre gekommen. "Die Musik dieser Gruppen war akademisch, trocken, gelehrt: ihr fehlte der Bizeps und das Feuer des hungrigen Rock´n´Roll", konstatierte Jones und lobte dagegen die Energie der ersten Punkbands, die ab 1976 in London auftauchten. "Sie beschränkten ihre Ausbrüche auf dreiminütige Vitriolgüsse, die oft wie ein Schlag auf den Kopf wirkten." Von dieser Zeit berichtet der britische Journalist Jon Savage in seiner ultimativen Geschichte der frühen Jahre des Punk England´s Dreaming, die erstmals 1992 erschien und seit dem letzten Jahr endlich auch in einer deutschen Ausgabe vorliegt. Im Zentrum von Savages großer Erzählung stehen die Sex Pistols und ihr umtriebiger Manager Malcolm McLaren.
Der 1946 geborene Impressario, der später behauptete, die Pistols seien Teil eines von ihm strategisch inszenierten Schwindelunternehmens gewesen, spielte bereits seit den sechziger Jahren eine kleine Rolle in der Londoner Popszene. Inspiriert von den subversiven Theorien der Situationisten und ihres Propheten Guy Debord versuchte sich McLaren an unterschiedlichen Projekten im Spannungsfeld von Pop, Kunst und Politik, aber erst die raubauzigen Sex Pistols verschafften ihm Erfolg. Akribisch zeichnet Jon Savage nach, wie aus dem Bandprojekt des heute fast vergessenen Gitarristen Steve Jones unter der Ägide des Marketing-Genies McLaren Pioniere einer neuen Jugendkultur wurden. Für das Styling war McLarens Freundin Vivienne Westwood, heute eine geadelte Mode-Designerin, zuständig. Es ging um den kalkulierten Schock. Musikalisch griff Punk auf den brachialen Beat von 60-er Jahre-Gruppen wie Pretty Things, Kinks oder Troggs zurück, was tatsächlich provozierte, waren Habitus und Aussehen der Bands. Und jeder konnte dabei sein. Mit der Absage an jede Form von Virtuosität löste Punk für kurze Zeit eines der Versprechen der historischen Avantgardebewegungen ein.
Da wundert es kaum, dass nicht wenige der ersten Düsseldorfer Punks, die sich im Szenelokal Ratinger Hof trafen, aus dem Umfeld der Kunstakademie kamen. Zu diesen gesellten sich jene, die sich weder in der noch immer dominanten Hippie-Subkultur heimisch fühlten, noch mit der gerade beginnenden Diskowelle a la Saturday Night Fever etwas anfangen konnten. Da waren heftigste Konflikte vorprogrammiert, gerade weil die Szene im Unterschied zu Großbritannien so winzig war. Vielleicht machte sich aber auch nur ein typisch deutscher Hang zu ideologisierten Diskussionen bemerkbar. Die Lektüre von Jürgen Teipels spannendem Doku-Roman über den deutschen Punk und New Wave, der im Haupttitel auffordert: Verschwende Deine Jugend, lässt eine Reihe von Erklärungsmöglichkeiten offen. Wie Jon Savage hat Teipel Interviews mit den maßgeblichen Protagonisten der Szene geführt, doch wo in England´s Dreaming ein kundiger Erzähler den Leser bei der Hand nimmt, waltet in dieser Oral history das Montageprinzip. Aus mehr als 1.200 Seiten Interviews hat Jürgen Teipel eine sich selbst kommentierende Chronik zusammengestellt, die sich wirklich wie ein Roman liest. Der Rezensent fühlte sich nicht nur einmal an Balzacs Verlorene Illusionen erinnert. Da wird ein Erbe durchgebracht, um ein Plattenlabel zu finanzieren, während auf der anderen Seite der Vorwurf der Kommerzialisierung im Raum steht. Oberschüler haben mit einem Mal die Taschen voller Geld und werfen mit Scheinen nur so um sich. Starke Gefühle entladen sich immer wieder auch in physischen Auseinandersetzungen. Während sich die einen für ihre Musik ruinieren, schließen andere Megadeals mit der Schallplattenindustrie ab. Und einem der zentralen Protagonisten gelingt es immer wieder, in seinen bürgerlichen Beruf zurückzukehren, bevor er zum Popstar mutiert. Vielleicht ist Peter Hein, Sänger der legendären Bands Mittagspause, Fehlfarben und Family Five, sogar die perfekte Verkörperung der kurzen Geschichte des deutschen Punk, die mit dem ersten Auftritt der Toten Hosen am 29. April 1982 eigentlich schon wieder zu Ende ist. Die Altbier-Rocker konnten sich seitdem als fester Bestandteil des Popgeschäfts etablieren, während ein Avantgarde-Unternehmen wie die Einstürzenden Neubauten den Sprung in die Hochkultur geschafft hat.
Das Bedürfnis vieler Jugendlicher nach Provokation bedienen heute andere. Dass es einmal leibhaftige Nazi-Bands geben würde, haben sich viele frühe Punks wohl nicht träumen lassen, als sie versuchten, mit Hakenkreuzabzeichen spießige Linke zu schockieren. Obwohl auch im Ratinger Hof schon Mitglieder der Wiking-Jugend auftauchten. Andererseits gelingt es einer Band der links-autonomen Szene wie Atari Teenage Riot "500.000 Platten mit einer Musik zu verkaufen, die unhörbar ist", wie ein Korrespondent des Tagesspiegel verwundert feststellt. Für Jon Savage lebt Punk "als allgemeines Symbol für jugendliche Unzufriedenheit, Rebellion und Störung der öffentlichen Ordnung" auch fünfundzwanzig Jahre nach seinem Höhepunkt weiter: "Wenn nichts in Frage gestellt wird, wird schließlich auch nichts verändert." Es fragt sich nur, in welche Richtung.
Jon Savage: England´s Dreaming. Anarchie, Sex Pistols, Punk Rock. Mit einem Vorwort zur englischen Neuausgabe. Aus dem Englischen von Conny Lösch. 540 Seiten. Edition Tiamat. Berlin 2001. 540 S., 29,- E

Jürgen Teipel: Verschwende Deine Jugend. Ein Doku-Roman über den deutschen Punk und New Wave. Suhrkamp Verlag. Frankfurt 2001, 375 S., 12,50 EUR


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