Wiedersehen in Norwich

Campuskrimi In Kate Weinbergs psychologischem Thriller „Die Lügner“ sucht man lange nach einem, der die Wahrheit sagt. Das ist auch ein Vergnügen für Literaturdetektive
Die University of East Anglia im englischen Norwich, ein Schulbeispiel brutalistischer Architektur
Die University of East Anglia im englischen Norwich, ein Schulbeispiel brutalistischer Architektur

Foto: Imago Images/UIG

Die 1963 gegründete University of East Anglia in Norwich gilt als Schulbeispiel brutalistischer Architektur. Nicht jedem gefällt das. „Wenn man am Wohnheim rechts abbog und an der Mensa vorbeiging, verlor man alle Gedanken und Erinnerungen an die Natur“, heißt es beispielsweise im Debütroman der englischen Autorin Kate Weinberg, der nun unter dem Titel Die Lügner in deutscher Übersetzung vorliegt. Weinberg selbst hat hier Kreatives Schreiben studiert und gehört damit zu einer illustren Riege. Den 1970 etablierten Studiengang haben immerhin auch Ian McEwan, Kazuo Ishiguro und Anne Enright, um nur die bekanntesten Namen zu nennen, absolviert. Weinbergs Protagonistin allerdings, die junge Jessica Walker, will keine Schriftstellerin werden, sondern hat sich für englische Literatur eingeschrieben. Dass sie dennoch als talentierte Erzählerin auftritt, ist das Verdienst der Autorin.

Jessicas Entscheidung für Norwich (und gegen das traditionsreiche Cambridge), hat nur einen Grund: Lorna Clay. Berühmt geworden ist die charismatische Literaturprofessorin mit einer Sammlung von Schriftstellerporträts, allesamt Außenseiter der Literaturgeschichte. „The Truants“ (wörtlich etwa „Die Bummler“ oder „Die Schwänzer“, in der deutschen Übersetzung „Die Absteiger“) heißt das fiktive Werk, dem Weinbergs Roman auch seinen Originaltitel verdankt. Mit 17 hat Jessica das Buch gelesen. Seitdem steht der Entschluss, dass es Lorna Clay sein wird, die sie aus ihrer „kleinen muffigen Welt“ herausholt. Aufgewachsen als mittleres von fünf Kindern einer Mittelschichtfamilie, ist ihr Leben bislang ziemlich unspektakulär verlaufen, sieht man von zwei miteinander verknüpften traumatischen Erlebnissen ab, deren Signifikanz allerdings ausgiebig diskutiert wird. Denn Jessica Walker erzählt ihre dramatische Geschichte von Freundschaft, Liebe und Verrat im Rückblick. Sechs Jahre sind vergangen, seit sie sich mit Alec, dem inzwischen unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommenen Geliebten ihrer besten Freundin einließ. Und sie fragt sich, ob alles anders ausgegangen wäre, hätte sie „die überall verstreuten Zeichen gedeutet“. Dabei sollte sie als eifrige Leserin der Romane Agatha Christies (der Freitag 17/2020) wissen, dass es selbst einem Hercule Poirot ziemlich selten gelingt, Verbrechen zu verhindern. Manchmal müssen sogar mehrere arme Teufel dran glauben, bevor der große Detektiv jenen Anhaltspunkt findet, der ihm erlaubt, alle Spuren korrekt zu lesen und den Tathergang zu rekonstruieren. In Professor Clays Seminar über die berühmteste Krimiautorin der Welt scheint es allerdings vordringlich um ethische Probleme zu gehen, zum Beispiel ob es unter Umständen gerechtfertigt sein könnte, einen Menschen zu töten, „um weitere, schlimmere Straftaten zu verhindern“. Dass diese Frage nicht nur hypothetisch gemeint sein könnte, treibt Jessica Jahre später noch um. Denn auch Lorna Clay hat ein Geheimnis. Und das betrifft den geheimnisvollen Alec.

Kate Weinberg reichert den Plot eines typischen Entwicklungsromans mit Elementen des psychologischen Thrillers an. Reminiszenzen an klassische Campusromane wie Evelyn Waughs Wiedersehen mit Brideshead sind beabsichtigt. Auch wer sich als Literaturdetektiv betätigen möchte, findet reichlich Gelegenheit, denn die Autorin hat ihren Roman als attraktives Interpretationsangebot konzipiert und geizt nicht mit entsprechenden Zeichen. Wer tiefere Bedeutung sucht, wird vor allem in den symbolisch aufgeladenen Passagen der zweiten Hälfte des Buches fündig werden. All das ist sehr unterhaltsam und zeigt, dass Weinberg ihr Handwerk gelernt hat. Leider kann die deutsche Fassung des Romans da nicht ganz mithalten. Verglichen mit dem Original wirkt der Stil öfter umständlich und holperig. Es mag eine lässliche Sünde sein, das derbe „bugger off“ mit „aus dem Staub machen“ zu übersetzen, aber man sollte schon wissen, dass es sich bei einer britischen „public school“, anders als der Name vermuten lässt, eben nicht um eine öffentliche, sondern um eine Privatschule handelt, denn auf solch feine Unterschiede kommt es im Roman durchaus an.

Info

Die Lügner Kate Weinberg Aus dem Englischen von Anne Brauner und Alexandra Berg. 399 S., dtv 2020, 18 €

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