Wovon man erzählen kann

Klagenfurt ante portas Die deutsche Gegenwartsliteratur ist vielfältiger als ihr Ruf

Eine der meistgedruckten deutschsprachigen Kurzgeschichten heißt Das Fenstertheater und stammt von Ilse Aichinger. Sie erzählt von einer Frau, die mangels eigener Erlebnisse stundenlang aus dem Fenster schaut und darauf wartet, dass etwas Sensationelles geschieht. Im gegenüberliegenden Haus sieht sie einen alten Mann, dessen seltsames Verhalten ihr zu denken gibt. Sie benachrichtigt die Polizei, nur um festzustellen, dass die Kaspereien des Alten nicht ihr gelten, sondern einem kleinen Knaben in der über der ihren liegenden Wohnung.

Von den ersten Sätzen der Geschichte an wird kein Zweifel daran gelassen, dass wir es mit einer ebenso niederträchtigen wie verachtungswürdigen Person zu tun haben. Dafür sorgt schon die manipulative Erzählweise, deren denunziatorisches Potential hier nicht sonderlich feinsinnig, aber effektiv genutzt wird. Dass der Text sich seit Jahren größter Beliebtheit im Deutschunterricht erfreut, ist ebenfalls auf die Erzählstruktur zurückzuführen. Nicht allzu viele Kurzgeschichten lassen sich nämlich so schön in ein Tafelbild verwandeln und weisen gleichzeitig eine gängigen Vorurteilen problemlos kompatible Aussage auf.

Verfasst wurde der Text bereits im Jahre 1949. Den Deutschen steckte der verlorene Krieg und manches andere, von dem sie eigentlich schon nichts mehr wissen wollten, in den Knochen. Da freute man sich, wenn es in den Geschichten nicht ganz hoffnungslos zuging. Lustige alte Männer durften kleine Jungs mit ihren Faxen aufheitern, während die missgünstige Nachbarin zu Recht beschämt wurde. Das Fenstertheater ist in dieser Hinsicht typisch. Nicht wenige Kurzgeschichten der Nachkriegszeit, seien sie von Borchert, Böll oder Lenz, erzählen, wie Menschlichkeit überraschend an Orten zu Tage tritt, wo man sie nicht vermuten würde.

In einer Erzählung des Jahres 2003 blickt ebenfalls jemand durch erleuchtete Fenster in fremde Wohnungen. Es ist ein alter Mann, der das betreffende Haus in einer ihm fremden Stadt geerbt hat. Durch ein Fernglas beobachtet er, wie der Wirt einer im Erdgeschoss gelegenen Kneipe seine Kinder misshandelt. Er tut nichts, um die Tat zu verhindern. Stattdessen studiert er weiter seine Umgebung. Und fragt sich ausgerechnet, ob das "Fixiertsein auf den Umgang mit Gegenständen, in Situationen, wo es um Menschen ging" typisch für junge Leute sei. Der Text endet mit einer Szene, die den Mann fast paralysiert am Boden zeigt. Unter unsäglichen Mühen schleppt er sich ins Schlafzimmer und denkt ans Sterben. Vielleicht ist er auch schon fast tot.

Die 1967 geborene Autorin Inka Parei gewann mit diesem "Anfang eines längeren Textes" im vergangenen Jahr den Ingeborg Bachmann-Preis des Klagenfurter Lesewettbewerbs, der in genau einer Woche wieder am Kärntner Wörther-See ausgetragen wird. Die Jury lobte die sprachliche Meisterschaft eines Erzähltextes, "der einen ganz eigenen bezirzenden Ton hat und in dem das Kleinste groß wird" (Iris Radisch), der "nichts Geringeres erzählt als die Geschichte der Conditia Humana" (Ursula März). Und es ist ja auch beeindruckend, wenn eine Autorin Mitte dreißig sich in einen Mann hineinversetzt, der mit seinem Leben bereits abgeschlossen hat.

Aber diese Figur ist natürlich ebenso Fiktion wie die bösartige Frau, in deren Innerem sich die siebenundzwanzigjährige Ilse Aichinger auszukennen glaubte. Dass man sie für authentisch nimmt, bezeugt vielleicht wirklich die Qualität von Pareis Erzählung. Oder sprach aus der Begeisterung der Juroren, die sich später auch in den Feuilletons wiederfand, nur die Erleichterung, dass man erzählen kann, ohne "ich" zu sagen? Dass Protagonisten auch erheblich älter als ihre Erfinder sein dürfen? Und nicht zuletzt, dass es bei einer einzigen Reminiszenz an die Pop-Kultur bleibt, den Blick des alten Mannes auf ein Bild Elvis Presleys "kurz vor seinem Tod"?

So wie manche Zehntklässler heutzutage nach einer Überdosis Borchert der Ansicht sind, Kurzgeschichten spielten grundsätzlich gegen Ende des 2. Weltkriegs, erlag man in den letzten Jahren leicht der Vorstellung, dass sich am besten von verzweifelten jungen Menschen in schicken Szene-Bars erzählen lasse. Von Frauen wie der Fernsehredakteurin Kati, die ihren Kopf gegen den Spiegel im Frauenklo rammen, aber trotzdem nichts fühlen. (Sibylle Berg: Sex II) Dabei stimmt das überhaupt nicht. Vor allem nicht für jene Geschichten, denen bescheinigt wurde, sie seien von den "besten deutschen Erzählern" verfasst worden.

Stattdessen finden sich in der ersten, im August 2000 erschienenen, Anthologie, die für die deutsche Literatur das zu leisten versprach, was seit 1915 die Best American Short Stories im Mutterland des handfesten ökonomischen Erzählens alljährlich vorführen, skurrile Tanten, die gefälschte Antiquitäten herstellen, und xenophobe Onkel, die jede "artfremde" Pflanze in ihrem Obstgarten wütend verfolgen. Ingomar von Kieseritzkys anspielungsreiche Erzählung Transaktionen oder die Schule des Lebens ist ein ironischer Bildungsroman im Miniaturformat und eines der zeitlosen Glanzstücke der Sammlung. Ebenso beeindrucken Ilse Aichingers erinnerungsstarke Feuilletons zu Kino und Verhängnis (aus denen später ein ganzes Buch werden sollte), und einmal mehr wünscht man sich, diese würden anstelle des "Fenstertheaters" die Lesebücher zieren.

Auch Alter und Tod spielen bereits eine wichtige Rolle, sei es in Peter Stamms Episode Der Aufenthalt oder in Lydia Mischkulnigs Geschichte Herzilein, deren Erzählerin das Sterben ihrer Bettnachbarin im Krankenhaus eben nicht mitbekommt. Und die Straßenverkäufer, von denen Georg Kleins Großstadt-Ethnologie Im Lande Od zu berichten weiß, tragen zu viel Vergangenheit mit sich herum, als dass sie die ökonomische Hochstimmung der späten neunziger Jahre hätte infizieren können.

Auch die Beiträge, mit denen Herausgeberin Verena Auffermann die Jahresbände 2001 und 2002 füllte, wirken weitgehend unberührt von popliterarischen Moden. Die Autoren Hans-Ulrich Treichel und Hanns-Josef Ortheil, beide Anfang fünfzig, erinnern sich, natürlich ironisch gebrochen, an ihre Jugend. Burkhard Spinnen protokolliert auf bewährte Weise den simulierten Alltag, und Martin Mosebach erzählt von den Leiden der Tenöre. Als zeitgenössisches Accessoire tauchen hier und da Mobiltelefone auf, und in Kathrin Rögglas atemlosem Intercity-Text Sprinter spielen sie sogar eine tragende Rolle. Merkwürdigerweise wirkt die aufdringliche Gegenwart gerade dieses Beitrags, verstärkt durch die vor einem halben Jahrhundert avantgardistische Kleinschreibung, schon jetzt, nur drei Jahren nach Erscheinen, schwer angestaubt. Auch Helmut Kraussers Medienfantasie Screening atmet den Charme vergangener Science-Fiction.

Manche der Protagonisten kommen weit herum, wohnen in New York oder irren durch Bangkok, andere ziehen aufs Land, um dort zu sterben. Das Erzählhandwerk ist oft solide, manchmal verspielt und selten artistisch. Ein wahres Unikat ist Ulrich Holbeins hyperrealistische Kinderheimgeschichte Ziska von der Zwergbirke, die haarscharf zwischen Burleske und Tragödie balanciert. Andere Texte vergisst man schneller. Allerdings auch, weil man sich über keinen Beitrag so richtig ärgert.

Aber was ist aus dem immer wieder betonten Anspruch, das deutsche Pendant zu den Best American Short Stories zu liefern, geworden? Vor allem nachdem der Kölner Literaturkritiker Hubert Winkels, der Verena Auffermann im letzten Jahr als Herausgeber ablöste, auf den Abdruck bereits publizierter Texte vollkommen verzichtet hat? Die amerikanische Anthologie bietet bekanntermaßen eine Auswahl von Geschichten, die bereits in Zeitschriften veröffentlicht wurden. Bei uns hingegen werden die Schriftsteller gebeten, einen Beitrag beizusteuern. Und dann kommen eben, mag Winkels in seinem Vorwort auch anderes behaupten, nicht immer Geschichten und schon gar keine Short Storys.

Die Besten deutschen Erzähler des Jahres 2003 präsentieren sich heterogener als je zuvor. Da steht eine klassische Kurzgeschichte wie Dieter Wellershoffs Wann kommt Walther? neben Patrick Roths rätselhafter und faszinierender, gleichermaßen religiös wie filmhistorisch inspirierter Erzählung Der Mann an Noahs Fenster, gefolgt vom scheinbar kruden Alltagsrealismus in Tobias Hülswitts Text Fußballgott. Und in Winkels´ Auswahl kommt auch der Pop endlich zu seinem Recht; am deutlichsten in Thomas Meineckes Jonglage aus Film- und Musikreferenzen, aber auch in Peter Glasers kunsttheoretisch grundierter Geschichte Die finnische Ameise. Was allerdings die Kalauerprosa eines Thomas Kapielski, deren heutigen Kultstatus zu ergründen künftigen Literaturhistorikern schwer fallen wird, in dieser Bestenauswahl verloren hat, bleibt ebenso unklar wie der Sinn eines Dramoletts des Alleinunterhalters Benjamin von Stuckrad-Barre. Die Anthologie endet mit einem Text, der den Leser dorthin führt, wo die deutsche Literatur wirklich zu Hause ist, in die Provinz. Norbert Scheuers Prosa Kall, Eifel, vermutlich ein Romanauszug, erzählt behutsam von Liebe und vom Alltag, von Alter und Jugend und natürlich auch von der Gegenwärtigkeit des Vergangenen. Also von den Themen, die auch heutige Schriftsteller noch immer am meisten zu interessieren scheinen.

Und vielleicht gelingt es einigen der "besten deutschen Erzähler" demnächst sogar dahin vorzudringen, wo bislang die Literatur der Nachkriegszeit und der frühen Bundesrepublik dem Anspruch auf Gegenwart weitegehend zu genügen scheint: ins Lesebuch für den Deutschunterricht. Denn wenn irgendwo in Deutschland noch Geschichten gelesen werden, dann in der Schule.

Iris Radisch (Hrsg.): Die Besten 2003. Klagenfurter Texte. Piper, München 2003,
224 S., 13,40 EUR

Verena Auffermann (Hrsg.): Beste deutsche Erzähler 2000. DVA, Stuttgart 2000,
288 S., 16,40 EUR

Verena Auffermann (Hrsg.): Beste deutsche Erzähler 2001. DVA, Stuttgart 2001,
315 S., 17,40 EUR

Verena Auffermann (Hrsg.): Beste deutsche Erzähler 2002. DVA, Stuttgart 2002,
288 S., 19,90 EUR

Hubert Winkels (Hrsg.): Beste deutsche Erzähler 2003. DVA, München 2003,
320 S., 19,90 EUR


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