Dass die Zustände in deutschen Klassenzimmern besorgniserregend sind, weiß der gewöhnliche Zeitungsleser spätestens, seit vor gut einem Jahr die Ergebnisse einer Expedition von OECD-Experten durch unsere Schullandschaft Schlagzeilen machten. Und Schuld daran ist nicht zuletzt, so zumindest der erste Eindruck, die Lehrerschaft: zu alt, zu gut bezahlt und zudem noch fortbildungsunwillig. Mit solchem Personal lässt sich im 21. Jahrhundert kein modernes Bildungssystem betreiben, davon scheinen zumindest die Feldforscher von der OECD überzeugt. Und geben ihnen die just publizierten Ergebnisse der aktuellen Pisa-Studie nicht recht?
Unfähig, die tatsächlichen Begabungen der ihm anvertrauten Schützlinge korrekt zu diagnostizieren, schickt "der Lehrer", fast wie vor 100 Jahren, den Arztsohn und die Rechtsanwaltstochter aufs Gymnasium, während dem Arbeiterkind ein Hauptschulplatz zugewiesen wird. Sollten sich allerdings ausnahmsweise Kinder aus "bildungsfernen Schichten" auf die höhere Schule verirren, stoßen sie dort sicherlich auf Pädagogen, deren Welt aus Klassen- und Lehrerzimmer, sowie ihrer Doppelhaushälfte besteht. So weit, so schlecht. Komplexe Probleme provozieren gewöhnlich einfache Erklärungen. Außerdem ist die Schule eine gesellschaftliche Institution, die fast jeder von innen kennen gelernt hat. Und in Kindheit und Jugend erlittene Verletzungen verheilen gewöhnlich schlecht. Kein Wunder also, dass alle Diskussionen über die Probleme unseres Bildungswesens irgendwann bei der Lehrerrolle enden, besser gesagt, bei Erzählungen von jenen Lehrern, die einem selbst das Leben schwer gemacht haben. Und schon vermischen sich Mythos und Realität.
Denn in seine Zeit passte der deutsche Pauker eigentlich noch nie. Lebte nicht ein ganzes literarisches Genre, von Heinrich Mann über Hermann Hesse bis hin zu Heinrich Spoerl und Alexander Wolf, davon, weltfremde Lehrer vorzuführen, die sich mit ihren vorsintflutlichen Unterrichtsmethoden und grotesken Verhaltensweisen wahlweise als Schülerschreck oder als Witzfigur gerierten? "Unrat, der sich von den Schülern hinterrücks angefeindet, betrogen und gehasst wusste, behandelte sie seinerseits als Erbfeinde, von denen man nicht genug hineinlegen und vom Ziel der Klasse zurückhalten konnte. Da er sein Leben ganz in Schulen verbracht hatte, war es ihm versagt geblieben, die Knaben und ihre Dinge in die Perspektive von Erwachsenen zu schieben." Und was dieser Schreckenspädagoge mit seinen Eleven im Unterricht treibt, würde den Tatbestand der Körperverletzung auch ohne Rohrstock erfüllen: "Mit der Jungfrau von Orleans beschäftigte die Klasse sich seit Ostern, seit dreiviertel Jahren. Den Sitzengebliebenen war sie sogar schon aus dem Vorjahr geläufig."
Aber wie die Leser von Heinrich Manns Roman Professor Unrat wissen, schlägt in der Spießerbrust eines Paukers manchmal ein leidenschaftliches Herz, und es bedarf nur einer verruchten Person wie der Varietékünstlerin Rosa Fröhlich, um eine Säule der Gesellschaft zum Einsturz zu bringen.
Nun sind die Unrats samt ihren komischeren Kollegen aus der Feuerzangenbowle spätestens pensioniert worden, als die Welle der Paukerfilme mit Hansi Kraus und Uschi Glas in den frühen Siebzigern langsam verebbte. Ihre liberaleren Nachfolger gaben literarisch nicht so viel her, sieht man von einigen Selbstfindungsromanen, in denen die Nachwehen der Studentenbewegung verarbeitet wurden, ab. Auch in den Klassenzimmern schien es nicht mehr so schrecklich (und leider auch nicht mehr so lustig) zuzugehen.
Doch die Zeit der lehrerlosen Literatur ist vorbei. Während sich die Jungpädagogen der Reformära langsam in den vorzeitigen Ruhestand verabschieden, wird der Pauker als Romanfigur wiederentdeckt. Ob in den Romanen von Bodo Kirchhoff und Juli Zeh oder in den hier zur Debatte stehenden Büchern von Jakob Arjouni und dem Autorinnengespann Borger/Straub; offenbar wirkt die Lehrerrolle anregend auf die erzählerische Fantasie.
Aber kommt dabei tatsächlich mehr heraus als die Demontage einer vorgeblichen Autoritätsfigur? Jakob Arjounis Roman Hausaufgaben lässt daran zweifeln. Sein Deutschlehrer Joachim Linde ist ein Pappkamerad, den man allzu problemlos in seine Bauteile zerlegen kann. Nach 20 Jahren am selben Gymnasium ist vom pädagogischen Elan des engagierten Junglehrers nur noch eine maßlose Eitelkeit übrig geblieben. Vor der Klasse führt er sich als Sprachartist auf, der sich auf seine "außergewöhnliche(n) Formulierungen, Wortschöpfungen sowie Umdeutungen bekannter Wörter" einiges einbildet, einem größeren Publikum präsentiert er sich gerne in (ziemlich peinlichen) Leserbriefen an stern, Spiegel und FAZ. Dieser Knallcharge also begegnen wir zunächst im Literaturunterricht, als sich Schüler über die Frage des angemessenen Umgangs mit der deutschen Vergangenheit furchtbar in die Haare geraten. Lehrer Linde, der die Diskussion angezettelt hat, zeigt sich, trotz allen rhetorischen Talents, hilflos, während die jugendlichen Kontrahenten weitgehend Positionen referieren, wie man sie aus den Feuilletondebatten der vergangenen Jahre kennt. Zwangsläufig erscheinen die Äußerungen der Schüler trotz ihrer Widersprüchlichkeit immer noch klüger als die Einlassungen ihres Lehrers. Der nämlich zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass er vor lauter Borniertheit nicht merkt, was um ihn herum vor sich geht. Damit dies aber nicht auch noch dem Leser entgeht, hat Arjouni einen Erzähler installiert, der uns immer wieder mitteilt, wie beschränkt des Lehrers Weltsicht ist. Dass sich Lindes Ignoranz am deutlichsten zeigt, wenn es um die eigene dysfunktionale Familie geht, ist die tragende, in ihrer schalen Ironie wenig originelle Idee dieses schmalen Romans.
Während Hausaufgaben auf jeder Seite vorgibt, etwas Gewichtiges über unsere Gegenwart zu sagen zu haben, erhebt Borger/Straubs Roman Im Gehege keine derartigen Ansprüche. Wir befinden uns im Psychothriller-Land, da wo Liebe, Leidenschaft und Gewalt ganz nahe beieinander liegen und das Vergnügen des Lesers in dem Maße ansteigt, wie die Pein der Hauptfigur wächst.
Jon Ewermann, Oberstudienrat für Deutsch und Latein an einem Hamburger Gymnasium, sieht nicht nur für seine 51 Jahre sehr gut aus, sondern ist auch ein bei Kollegium und Schülerschaft respektierter, vielleicht sogar beliebter Kollege. Sein Lebensstil ist luxuriös, schließlich ist seine Frau Inhaberin eines großen Gartenbaubetriebs. Dumm ist nur, dass er sie nach über zwanzig Jahren Ehe nicht mehr ausstehen kann. Und als er sich in eine erheblich jüngere Kollegin verliebt, ist er wild entschlossen, sich endlich scheiden zu lassen. Warum das dann doch nicht nötig ist und was es eigentlich mit der Redensart vom "Glück im Unglück" wirklich auf sich hat, davon erzählt das Autorenduo ebenso gradlinig wie routiniert und mit einem Sinn für schwarzen Humor.
Ewermann ist als Figur zunächst zwar nicht ganz so unsympathisch wie Linde, doch in letzter Konsequenz ebenso skrupellos. Wer Leichen verschwinden lassen kann und danach lateinische Vokabeltests korrigieren, weist schon ein gehöriges Maß an menschlicher Kälte auf, der man den Respekt nicht versagen sollte. Dass Ewermann am Ende nicht davonkommt, ist eher der überraschenden Schlusspointe geschuldet als einem Sinn für poetische Gerechtigkeit.
Während Professor Unrat also auch als Lehrer keine gute Figur machte, kommt mit Jon Ewermann ein durchaus erfolgreicher Unterrichtsprofi zu Fall, allerdings auch jemand, der mit Hochmut auf jene Kollegen herabblickt, die sich der Attacken renitenter Pubertierender nur durch lautes Gebrüll erwehren können. Ausgerechnet ein solcher Versager ist es, der im Verlauf des Romans die Zuneigung des Lesers erwirbt, während der strahlende Pädagoge zum Opfer seiner Leidenschaft wird. Konnte also der Leser bei Heinrich Mann noch darauf hoffen, dass durch einen anderen Unterricht und durch bessere Lehrer eine menschlichere Schule möglich wäre, ist in den neuen Erzählungen aus dem Klassenzimmer davon wenig zu spüren. Im Unterschied zu den selbsternannten Experten, die jetzt wieder Spalten mit reformpädagogischen Allgemeinplätzen füllen, warten weder Borger Straub noch Arjouni mit Verbesserungsvorschlägen auf. Und dafür ist man fast schon ein bisschen dankbar.
Jakob Arjouni: Hausaufgaben. Roman. Diogenes, Zürich 2004, 189 S., 17,90 EUR
Borger Straub: Im Gehege. Roman. Diogenes, Zürich 2004, 379 S., 19,90 EUR
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