Immer war es der rote Faden aller revolutionären Bewegungen: Der Einzelne, sollte er gegen die Gruppe handeln, musste sozial geächtet werden. Im Jargon gesprochen: Das Arschloch/ das bürgerliche Individuum/ die Heuschrecke und so weiter sollte sein egoistisches/ kapitalistisches/ volksfeindliches Verhalten vor einem Bürgerkomitee/ Kommando/ Standgericht/ Parteitag verantworten müssen und danach mit einem Schild um den Hals herumlaufen: „Ich habe wider das Volk gehandelt“/ „Ich bin den revolutionären Massen in den Rücken gefallen“/ „Ich bin ein dekadenter Bourgeois“ und so weiter.
In unserem heutigen Rechtsstaat ist das anders. Wer legal damit durchkommt, darf die Allgemeinheit schröpfen und schädigen, ohne dafür geächtet zu werden. Nur im Fall Suhrkamp gegen Barlach beobachten wir staunend eine Ausnahme. Hans Barlach, eine klassische Heuschrecke, wird für seinen Versuch, den Suhrkamp Verlag gewinnbringend zu zerschlagen, an den Pranger gestellt. Von Leuten, die etwas davon verstehen: den betroffenen Autoren.
Zu Recht? Natürlich. Gehen die schreibenden Widersacher mit ihrer öffentlichen Verteufelung zu weit? Keineswegs. Können sie damit Erfolg haben? Gerade hat Barlach erneut vor Gericht gesiegt. Suhrkamp muss ihm 2,2 Millionen Euro überweisen, angeblich ein entgangener Gewinn aus einem früheren Geschäftsjahr. Ein weiterer schwerer Schlag gegen die Lebensfähigkeit des Verlages, der Berufung einlegte.
Wird es dem „abgrundbösen Unhold“ (Peter Handke über Barlach) nützen? Kollege Rainald Goetz fasst das hysterische Bashing gegen Barlach wie folgt zusammen: „Es gibt nur schlimme Geschichten über ihn, und wenn man ihn sieht, glaubt man sie alle. Die blaue Blumenhändler-Rolex, das schütter gewellte, mittelbraun getönte Haar, die dicke, glasig gespannte Sonnenstudiohaut im Gesicht. Ich habe ihn in einer Prozesspause angesprochen, was er seine Anwälte da für einen wahrheitswidrigen Unsinn erzählen lässt. Da reagiert er wie ein stumpfer Automat, redet sofort von seinen Rechten, die er ja nur in Anspruch nimmt. Er ist auch noch ein Wimp, nicht nur ein Rechtsquerulant, ein Feigling, ein unsicherer Mensch!“
Um die Lage einschätzen zu können, lohnt ein Blick in die Geschichte des Konflikts. Der Suhrkamp Verlag, der die höchste geistige Sphäre unserer Demokratie verkörpert, wurde nach dem Krieg gegründet und ein halbes Jahrhundert lang von einem großen, äußerlich grobschlächtigen Mann namens Siegfried Unseld geprägt. Wenn man von Suhrkamp-Kultur spricht, meint man nie den früh verstorbenen Gründer Peter Suhrkamp, sondern diesen normannischen Kleiderschrank Unseld, der die in Deutschland einzigartige Gabe besaß, alle namhaften Talente ungeachtet ihrer politischen Haltung zusammenzuführen.
Ihm geschah in seinen letzten Jahren, was vielen älteren Herren seiner Generation und Position geschieht, nämlich die freundlich-feindliche Übernahme durch eine jüngere, attraktive Frau: Ursula Schmidt, die sich mit dem Künstlernamen Ulla Berkéwicz anreden lässt. Sie ist 33 Jahre alt, als Unseld ihr zuliebe einen ‚Roman‘ aus ihrer Feder bei Suhrkamp veröffentlichen lässt. Später, schon im siebenten Lebensjahrzehnt stehend, heiratet er die verführerische, als leicht spinnert-esoterisch verschriene Frau.
Sie gab in den folgenden Jahren die Klischee-Hexe in dem unappetitlichen Stück „Der Untergang des Hauses Suhrkamp“. Wie einst die Mao-Witwe, nur viel erfolgreicher, riss sie die Macht nach Unselds Tod an sich. Wer bis dahin etwas zu sagen gehabt hatte im Verlag, wurde abgeräumt. Die besten Autoren wurden vergrault, „sogar der scheußliche Martin Walser“ (Rainald Goetz). Geschäftsführer und Leiter der Theaterabteilung Rainer Weiss, für viele der gefühlte Kronprinz des Patriarchen, der es auch von der Sache her gekonnt hätte, wurde ebenso weggemobbt wie Joachim Unseld, der keineswegs ungeniale Sohn des Alten.
Das Imperium zerfiel nicht
Damit begann aber das heutige Debakel: Dieser Sohn warf genervt seine Anteile am Verlag weg – und Hans Barlach in den Rachen. Dass dieser eine Heuschrecke war, hätte er wissen können. Barlach hatte sich sein ganzes Geschäftsleben lang darauf spezialisiert, Zeitungen und andere Medien auszuplündern. Heute ist Joachim Unseld entsetzt über seine Tat. Aber er hatte den Krieg mit der Frau seines Vaters wohl einfach nicht länger ausgehalten.
Die offenbar macht- und geltungssüchtige neue Chefin legte von Anfang an zielstrebig die ganze Suhrkamp-Tradition in Schutt und Asche. Obwohl das Haus so untrennbar mit der Stadt Frankfurt am Main verbunden war wie die deutsche Klassik mit Weimar, verfügte sie den Umzug in ein kulturloses Neuberliner Szeneviertel. Das Stammhaus wurde abgerissen, das kostbare Archiv verscherbelt. Die verbliebenen Mitarbeiter erzählten sich Schauergeschichten über die böse Witwe, die bald ihren Weg in die Redaktionsstuben der Feuilletons fanden. Etwa die: Der alte Unseld war gerade unter die Erde gebracht, da lotste sie das Führungspersonal in einen Raum mit großen Lautsprechern. Über Tonband erklang die krächzende Stimme des sterbenden Chefs, man möge fortan seiner jungen Frau folgen: „Ihr müsst jetzt alle der Ulla helfen!“
Nach fünf Jahren Regentschaft schien die Geschichte zu Ende erzählt zu sein. Insider rechneten mit dem Aus des Verlages binnen einem Jahr. Was sollte noch kommen? Ein Imperium zerfällt nach dem Tod des Königs. Doch es kam anders. Die verbliebenen Autoren entwickelten ein enges Verhältnis zur Chefin. Es wuchs so etwas wie echte Solidarität. Die ständigen Angriffe des abgrundtiefen Unholds schweißte Belegschaft, Autoren und Verlegerin zusammen.
Viele einsame Entscheidungen der schönen Witwe erwiesen sich als politisch glücklich und modern. Auch und gerade der Wechsel vom absterbenden Frankfurt in die aufblühende Weltmetropole Berlin. Das Verlagsprogramm wirkte attraktiver und gegenwartsbezogener als zu Unselds Zeiten. Finanziell ging es aufwärts. Im Jahr 2010, acht Jahre nach Unselds Tod, konnte seine Nachfolgerin einen Millionengewinn ausweisen. Schließlich entwickelten sich die vielen literarischen Stellungnahmen der Autoren zum Prozess mit Barlach zu einer echten Gruppendynamik.
Fast alle gegen Barlach
Wie einst bei der Spiegel-Krise im Jahr 1962 kam es zu einer lagerübergreifenden Solidarisierungswelle. Die irrationale Forderung ‚Enteignet Springer‘, die dann sechs Jahre später die Studentenbewegung befeuerte, hatte wohl gedanklich denselben Nährboden: Kultur und Meinungsfreiheit so zu lieben, dass fiese Spekulanten, die dagegen vorgehen, bekämpft werden müssen. Nun gibt es natürlich selbst bei Suhrkamp ein paar spießige Bedenkenträger gibt, die den fanatischen Kampf gegen Barlach nicht mitmachen, jedenfalls wenn sie aus der behäbigen Schweiz kommen, in den fünfziger Jahren geprägt wurden und Adolf Muschg heißen.
Wie wird die Sache ausgehen, jetzt, und am Ende? Zuletzt haben die Gerichtsbeschlüsse durchaus so etwas wie Weisheit gezeigt: Man vertagt gern, am liebsten so weit nach vorn wie möglich, damit dem Verlag Chancen erwachsen. Die Witwe, das ist klar, wird bis zur letzten Stunde des letzten ihr von den Gerichten zugestandenen Tages im Amt verbleiben.
Schon im vergangenen Jahr wurden sie und die Geschäftsleitung offiziell abberufen. Jeder normale Manager hätte sich nach solch einem desavouierenden Urteil empört davongemacht. Nicht so Uschi Schmidt, äh, Ulla Berkéwicz. Sie ging in Berufung, und die scheint sich zu ziehen. Das ist gut für den Verlag. Ein, zwei Jahre werden Ulla wohl bleiben. Viel Zeit, um den öffentlichen Shitstorm gegen den sonnenstudiogebräunten Kulturbarbaren so weit anschwellen zu lassen, dass der Gesetzgeber eingreifen muss. Vielleicht mit einer Lex Suhrkamp. Dann, und das wird nicht nur Rainald Goetz so sehen, sollte man Ulla Berkéwicz ein Denkmal bauen. Direkt am Hackeschen Markt, in Berlin-Mitte.
Nur hat Hans Barlach auch gegen diese Strategie inzwischen ein Mittel gefunden. Im Spiegel ließ er unlängst auf vier Seiten breit und bräsig einen offenen Brief abdrucken, der gar nicht erst versucht, ins langweilige juristische Dickicht einzudringen, sondern das viel wichtigere Ziel hat, das eigene Image umzudrehen. Begleitet von einem älteren, vorteilhaften Foto, das den heute 57-Jährigen als jungen Recken im Rainald-Goetz-Outfit zeigt, bastelt der Schreiber unentwegt an Verbindungen zu seinem Großvater Ernst Barlach.
Was Ulla Berkéwicz der angenommene Name ihrer jüdischen Großmutter einbringt, nämlich die semantische Verbindung zu den Opfern des Naziregimes, soll bei Barlach der nicht einmal angenommene, sondern echte Name des Großvaters bewirken. Was natürlich nur funktioniert, wenn der Bildhauer Ernst Barlach irgendwie in die Nähe der sogenannten Inneren Emigration geschoben wird, was der Enkel hurtig versucht.
Spätestens jetzt wird endlich klar, dass dieser nicht nur die Millionen will. Der will genauso mit einer feinen, hochkulturellen Ich-bin-einer-von-denen-die-auf-der-richtigen-Seite-standen-Identität herumlaufen wie seine Gegnerin. Deswegen sagt er in dem im altertümlichen Stil gehaltenen Brief auch nichts über den aktuellen Streitpunkt: Nämlich dass er das Geld, das der Verlag beim Verkauf des Tafelsilbers erhielt, nicht zur Rettung desselben einsetzen will, sondern für sich und sein Luxusleben. Stattdessen fantasiert er sich in einem altertümelnden Stil eine hochmoralische Familiengeschichte zusammen, in der selbst der Vater das Schicksal des verfemten Großvaters mitgetragen haben soll.
Schlimm ist das keineswegs. In den meisten deutschen Familien lassen sich diese Phänomene der eigenen Geschichtsschreibung beobachten. Schon gar nicht schlimm ist die Geste der Verlegerin, den Namen der jüdischen Verwandten anzunehmen, eine Tat, die emotional total in Ordnung ist. Nun kann das Schattenboxen weitergehen. Die verfolgte Enkelin gegen den widerständigen Enkel. Viel Spaß dabei!
Joachim Lottmann ist Schriftsteller und Journalist. Siehe auch: Popliteratur. Sein Roman Mai, Juni, Juli wurde erst viele Jahre nach Erscheinen zu einem Kultbuch. Joachim Lottmann veröffentlicht nicht bei Suhrkamp
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.