Angst, schamfreies Weiten der Enge

Hubert Fichte 1936-1986 schreibt 1962 aus Agadir in Marokko als "Allessagenkönner" an seine Freundin Leonore Mau in Hamburg-Blankenese "Ich ficke viel und hoffe von Dir das gleiche“

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Hubert Fichte, der Allesaussprechenkönner

Frühkindiche Prägungen in Kriegen: Wenn Angst nicht Seele auffrißt, sondern Reibungswärme erzeugt, denn wer Angst spürt, lebt noch.

Hubert Fichtes Universum behausen Gestrauchelte, Entrwurzelte, Gestrandete, Gammler, Strichjungen, traumatisierte Kriegsversehrte, neurotisch Verwahrloste, Exil- und Kriegsheimkehrer, Flüchtlinge, Vertriebene, Verfolgte, Holocaust- Überlebende, Psychiatrieerfahrene, missbraucht entlaufene Heimzöglinge, Halbstarke, Trinker, Morphinisten und Prostituierte. Sie hatten vom Leben frühreif viel erwartet aber bereits in jungen Jahren unterm Strich nichts bekommen, außer Futter für ihre Lebensangst, vergeblich das Weite in bindungsarm wechselnd sexuellen Beziehungen zu suchen.

Hubert Fichte, ein zarter und empfindsamer Chronist, schaut ihnen aus´fs Maul, öffnete ihnen in Interveiws den Mund.

Welche Bedeutung hat Hubert Fichte? fragt Hans-Emil Schuster, Hamburg im Jahr den Literaturpapst der Faz Marcel Reich- Ranicki

Das wichtigste Buch dieses Autors isei sein Roman „Die Palette“ aus dem Jahr 1968, gibt Reich- Ranicki zur Antwort.

Hubert Fichte gruppert in seinen Roman "Die Palette " um das Kellerlokal in der Hamburger ABC- Straße, visavi Pik- As, das legendäre Nachasyl für Gestrandete, Trunkenbolde, Schnapsdrosseln, Obdachlose im Hamburg der Vorkriegs- , Kriegs- und Nachkriegszeit mit seinen innerstädtischen Trümmerlandschaften, das sich dadruch prekär auszeichnet, dass es keine Betten, Britschen, Bänke zum Schlafen gab, sondern ein Seil, das durch den "Schlafsaal gespannt war, das sich die Schlafsuchende unter die Schulter klemmten und wie betäubt die Nacht durchhängtenm bis Morgens um Acht, der Hauswart das Seil entkoppelte und rief "Aufstehen" und alle, noch schlaftrunken zu Boden stürzend, sich Blessuren holten.

Das Zentrum des Romans "Die Palette" ist also ein Kellerlokal, eben die „Palette“. Dort trifft sich Fichtes episches Personal: Gammler, Gauner und Ganoven, Nutten, Strichjungen und Zuhälter, Alkoholiker und Narkomanen, Desperados und Selbstmörder, Clochards und entlassene Häftlinge. Was sich in der ,Palette’ abspielt, ist ganz bestimmt nicht vom Feinsten, sondrn der Gang, Klang, Gesang der Hefe des Volkes. Aber nicht Ecklokal als Stammkneipe mit ein Lang zwei Kurz, sondern mit Jazz und Tanz. Doch der, mit dessen Augen hier das Leben gehört, geschaut wird, ist ein zarter und sammet weicher Hubert Fichte, nicht verzärtelt aber empfindsam und verletzlich.

Oszillierend von Berichterstaatung des Chronisten mit betontem Understatement zu Innerlichkeit jammervoll schluchzender Klage, auf dem schmalen Grat zwischen drastischer Metropol- Hafenpoesie und überbordender Sentimentalität larviert Hubert Fichte, sich selbst häutend, bei erfindungsreichem Charme und Grazie. Elegisch geraten Fichte seine Figuren, die er ja nicht erfinden muss, denn er findet sie vor.

Als wollte Hubert Fichte dem Hamburger, Alltags- Käse an der Waterkant nach 1945 die Löcher heraus piefen, greift er kühn ins Klischee, wie es damals auch andere in Lübeck, Kiel, Wismar, Rostock, Stralsund, Saßnitz, Bremen, Emden, Flensburg, tun, zu Sätzen wie:

, Ich wollte mal die wahre, die geistige Liebe kennenlernen und lernte nur die käufliche Liebe kennen.“

Zur geistigen Liebe, die körperlich.ihren saftigen Ein- und Ausgang sucht, sind die Kellergeister geistlicher Getränke da unaufgefordert gern und stets dienstbare Geister.

Die Liebe sucht nicht nur das willige Objekt ihrer obskuren Begierde, ihren Ausdruck, sondern ihren Ort, Raum, warum da nicht auch im dichtgedrängt reibungssatten Miteinander der Kellerbar "Die Palette" bei Bier, Coca Cola, Wein Tanz und Jazz, bei allgemeiner Wohungsnot, dem Kuppelparagrafen der Adenauer- Ära, und nicht zu vergessen, den Strafgesetzbuch § 175 aus der Kaiserzeit gegen gleichgeschlechtliche Liebe

Die Gäste der Kellerbar sehnen sich nach verlässlich schnellem Glück durch Wiedererkennen. Hubert Fichte baut sich als "Jäckie", der "Schwarze Engel" , seine Freundin Leonore Mau als "irma" in den Erzählstoff "Die Palette" ein

Um zum Augenblick zu sagen, verweile doch, du bist so schön, wären sie bereit, jeden Pakt auf Erden zu unterzeichnen, meint Reich- Ranicki (1920- 2013), Nur ist leider nirgendwo ein Mephisto zu sehen. So nehmen sie Preludin und Pervitin, und die Walpurgisnacht, die ihnen niemand bieten will, bereiten sie sich selber, mitten in der würdigen Hansestadt Hamburg - so gut sie es können. Freilich können sie es nicht. Denn sie sind nicht reif - weder für die Liebe noch für das Leben überhaupt. Daher ist ihre ganze Sexualität unendlich traurig und allen Anstrengungen zum Trotz auch langweilig. Daher fehlt ihren Orgien jegliche Pikanterie, ihre Spiele geraten makaber, ihre Erprobungsriten muten lächerlich an und kindisch.".

Hier irrt der "Dichter" Reich- Ranicki, wenn auch sein Hinweis auf Preludin und Pervitin als Durchhalte- und Power- Droge der Deutschen Wehrmacht zutreffend ist, wenn Captagon noch dazu gerechnet wird, denn Hubert Fichte (1936- 1986) steht mit seinen Generationsgenossen, zu denen Freimut Duve, Jahrgang 1936, Peggy Parnass, Jahrgang1934, Ulrike Meinhof (1934- 1976) in Hamburg, so gut wie Fritz Raddatz (1930- 2015) in Berlin und viele andere gehören, fest im Leben, wie er es von Kindesbeinen kennt "Wer Angst hat, lebt noch" , die als Kinder wissentlich, unwissentlich ein gefährliches Geheimnis in sich tragen, jüdische Wurzeln zu haben.

Das Leben von Kindern, Pubertären, die in adrenalingesteuerter Vor , Kriegs- und Nachkriegszeit, Kaltem Krieg emotional missbraucht, hypersexualisiert zu jedem Minimalkontakt mit Älteren aufgelegt sind, wenn sie nur ein bisschen Freundlichkeit, gar Achtsamkeit, menschliche Wärme erfahren. Denn die sind damals im nornalen gesellschaftlichen Alltag des Wiederaufbaus hüben und drüben für viele Heranwachsende als Schlüsselkinder, meist gefallenen, ermordeten, abwesenden Vätern, der Unfähigkeit über deren Abwesenheit zu trauern (Alexander Mitscherlich 1908- 1982) , der vaterlos skeptischen Generation (Helmut Schelsky 1912- 1984 ), eine nahezu unerschwingliche Währung, außer.....?

- Fritz Raddatz schreibt in seinen Erinnerungen "Unruhestifter" 2003 davon, dass er mit anderen Jünglichen während des Krieges 1944/45 in Berlin auf dem weitläufigen Gelände rund um den S- und Fern- Bahnhof Westkreuz, wissbegierig wartende Wehrmachtssoldaten mit Marschbefehl Richtung Ostfront im Tornister zu finden wusste, die ihnen gegen sexuelle Dienste Zigaretten und Sonstiges an Dingen des Genusses und täglichen Bedarfs zukommen ließen.

Die notgeil beim Masturbieren in aller Seelenruhe rauchten. Die Dienste bestanden nach Raddatz Bericht meist darin, am Spalier nackt entblößter Landser- Schwänze unter Bahnbrücken entlang, aus kriegsbedingt stressgeplagt blutleer schlaffen Schläuchen vergeblicher Fleischeslust durch fingerfertig flinke Handreichungen unschuldig den strammen Max gewienert und gemolken bis zum Samenerguss herbei zu zaubern -

Freimut Duve berichtet in seinem autobiografisch angelegten Buch

"Vom Krieg in der Seele"

Eichborn Verlag, 1994, Seite 36, 37, 63, dass er Jahrzehnte später vom Schicksal Hubert Fichtes in einem Interview mit ihm von dessen Doppelung erfahren habe, die seiner als Halbjude gleicht. Hubert Fichtes Vater war jüdischer Theatermann in Hamburg, der 1938 nach Schweden entschwinden konnte und unauffindbar blieb, während er bei seiner Mutter blieb, die ihn in ein Waisenhaus nach Süddeutschland schickte. 1943 sei er nach Hamburg zurückgekommen, nach der Zerstörung Hamburgs am 27. Jui des Jahres durch das britische Bomberunternehmen "Gomorrha" sei er bis zum Kriegsende nach Schlesien verschickt worden, später bei seinen Großeltern in Hamburg aufgewachsen, wie Freimut Duve.. Die Mütter beider hätten nur wenige Straßen voneinander in Hamburg gelebt, hätten sich in einer kleinen Gruppe der verbotenen Anthroposophen kennengelernt, seien wochenends mit ihren Kindern mit dieser Gruppe heimlich zu illegalen Vereinstreffen in Heidebauernhöfen Niedersachsens gewandert.

"Diese Generation der Kriegskinder, Mitte der dreißiger Jahre geboren, hatte sehr viel Ähnliches erlebt, das sie aber, anders als die Nachkriegskinder , die APO-Studenten , selten als kollektive Erfahrung dargestellt findet." schreibt Duve auf Seite 37 mit Hinweis auf den Kirchenmusiker und Autor Helmut Krüger, Jahrgang 1926, und dessen Buch "Der halbe Stern", 1994.

Der halbe Stern steht als Synonym für "Halbjude" bei permanenten Schuldgefühlen gegenüber deportierten Volljuden, gemäß Nürnberger Rassengesetze 1935, in ständiger Angst, doch noch als Mischling deportiert zu werden.

Hubert Fichte weiss den episch breiten Erzählstrom zufälliger Gesprächspartner/innen meisterhaft protokolliert zu kanalisieren, zu sezieren. Das will wohl und muss in Zeiten des Aufbaus so sein, wo jedes Detail gleich wesentlich wie unwesentlich ist. Da heißt es, sich bis in Nuancen freier Assoziation zu ergehen, treiben zu lassen, dem bis dato vermeintlich Unerhörten, dem Unausgesprochenen, der Schamlosigkeit Audienz zu geben, vom Details befeuert fasziniert eingefangen zu sein bis hin zu Gefühlen flutender Überwältigung. Wo Anfangen, wo Aufhören Allesaussprechenkönnen?

Fichte rührt seinen Roman aus vielen einzelnen Wahrnehmungen über Momentaufnahmen zusammen, eingeschoben knappe, nie langatmig ausschweifende Reflexionen gesellen sich dazu, unmittelbare Einlassungen seiner Figuren und seien es nur Dialogfetzen, alles wirkt wortwörtlich fleißig zu Protokoll gegeben.

Marcel Reich- Ranicki fragt 2012 Hubert Fichtes Roman

"Die Palette":

"Was tun wir alle miteinander uns an?

- "..... kann Fichte streckenweise nicht entgehen: der Gefahr der Monotonie. Sie macht sich vor allem da bemerkbar, wo er Material sammelt, statt es zu verwerten. Doch welche Bedenken es auch sein mögen, zu denen Fichtes Sprache Anlass gibt - der fundamentale Impuls, der ihre Fragwürdigkeit mitverschuldet hat und dem sie zugleich ihre Qualität verdankt, ist unübersehbar: „In Maulbec hatte er eines Nachts geträumt von dem Allesaussprechenkönnen: ,Ich werde jetzt alles sagen. Ich muß jetzt reden, reden und jetzt dies noch und das noch . . . Wellen von Worten. Die eine ist noch nicht zurückgeflutet, da schlägt die nächste schon drauf’.

Es ehrt Fichte, dass er in dem Bedürfnis, alles auszusprechen, vor nichts zurückgeschreckt ist." -

Der fundamentale Impuls, der poetische Furor, der Hubert Fichte als Kriegskind erst auf Betriebstemperatur bringt, ist keine Fragwürdigkeit, wie Reich- Ranicki meint, kein Selbstverschulden, kein Unvermögen, Unzuläglichkeit, sondern kündet von einer dunklen Zeit voll Bangen, wo das normal ausgeprochene Wort, ein Ticket für den Fahrstuhl zum Schafott, für Heranwachsende die Fahrkarte in ein geschlosenes Heim für Schwererziehbare, gar in ein Strafbataillon an der Front sein konnte.

- Das Alleinstellungsmerkmal der Hubert Fichte Jahrgänge ist, sie haben nicht nur daheim, sondern selbst im öffentlichen Raum z. B. im Kellerlokal "Palette" noch hautnah mit Kriegsversehrten, Bein- und Armamputierten an Krücken, Einäugigen, die mit ihrem Glasauge Murmel spielten, gelebt.

Mit Beginn der 68er Jahre waren diese Kriegsversehrten an Leib und Seele im öffentlichen Raum und Bewusstsein plötzlich verschwunden. als hätte es sie nie gegeben, Mein kriegsversehrter Vater starb 1966 an den Spätfolgen und unzulänglicher Behandlung seiner Verwundung.

Was Rudi Dutschke für die 68er, war Hubert Fichte für diese Freimut Duve Jahrgänge und gleichzeitg wollte er als Zeitgefangener bindungslos über diese hinaus wirken, wodurch er sich, wenn Du mich fragst, in gewisser Weise autonom und unkenntlich zu machen suchte, -

So hat sich Hubert Fichte sein Medium gesucht, wo er sich in einem intim geschützten Raum als Allesaussprechenkönner ausprobieren konnte. Gefunden hat er diesen Raum in Briefen an seine 20 Jahre ältere Freundin, dann Frau, die zu Lebzeiten hochangesehene Fotografin Leonore Mau (1916- 2013) in Hamburg- Blankenese.

Hubert Fichte war von Kopf bis Fuss, vom Scheitel bis zur Sohle, auf Mitgefühl eingestellt. Auch wenn er drastisch schroff schreibt, wie im Mai 1962 aus Agadir in Marokko an seine Leonore, meint er es doch als praktizierender Allesaussprechenkönner aufmunternd herzensgut.

„Ich ficke viel und hoffe von Dir das gleiche“, und fährt fort: „Ich habe ein paar gute Geschichten. Suhrkamp will mein Stück nicht. Der Arsch! Ich war niedergeschlagen.“

Zum Ende des Briefes lässt Fichte dann den eindeutig doppeldeutigen Maiskolben grüßen und schließt mit „Vive la Trance Hubert“. Aus Anmerkungen ist zu erfahren, zu jener Zeit hing in Leonore Maus Wohnung in Hamburg- Blankenes ein Maiskolben an der Wand, der auch in Fichtes Werk wiederholt in doppelter Funktion vorkommt.

- Beate Uhse, die Wehrmachts- Fliegerin a. D. in Mission über dem Bodensee praktizierenden Sexus voller Dildos lässt dort apparativ grüßen, wo Oswald Kolle nie hinkommt. -

Die Briefe seiner Leonore an ihn konnten im Nachlass Hubert Fichtes nicht gefunden werden, weil er kurz vor seinem Tod testamentarisch verfügte, so als ob er sämtlich persönliche Spuren tilgen wollte, alle privaten Notizen, Briefe, Unvollendetes zu vernichten.

Seine Briefe an Leonore in der Zeit von 1962 1986 sind dagegen erhalten geblieben und wurden nun durch den Fischerverlag veröffentlicht.

Hubert Fichte starb im März 1986 im Hamburger Hafenkrankenhaus, sein Leichnam liegt auf dem Friedhof Hamburg- Nienstedten begraben.

JP

"Heilige Schamlosigkeit"
Volker Weidermann
Aktueller Spiegel 31- 128- 2016

http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/fragen-sie-reich-ranicki/fragen-sie-reich-ranicki-der-traum-vom-allesaussprechenkoennen-11788468.html
Fragen Sie Reich-Ranicki
Der Traum vom Allesaussprechenkönnen

http://www.taz.de/Briefe-von-Schriftsteller-Hubert-Fichte/!5322834/
Briefe von Schriftsteller Hubert Fichte
1. 8. 2016
CORD RIECHELMANN

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Geschrieben von

Joachim Petrick

Aktuelles: Meine sichere Route- Refugee-Airlift - Petition "Luftbrücke für Flüchtlinge in Not" an die MdBs des Bundestages erhofft Debatte

Joachim Petrick

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