Gottfried Benn, Edith Cavell, Egon E. Kisch

Thomas Mann 1918 "Die Weltöffentlichkeit beplärrt die Erschießung Edith Cavells. Warum?, man entehrte sie nicht, man ehrte sie, indem man sie, wie einen Mann, vor die Flinte stellte."

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Ein Buch aus dem Jahre 2008 von Jörg Döring / Erhard Schütz: "Benn als Reporter. Wie Miss Cavell erschossen wurde" spürt einer literarisch- politisch verhängnisvollen Kontroverse zwischen Gottfried Benn und Egon Erwin Kisch nach, die sich am Fall der standrechtlich von Deutschen in Belgien erschossenen britischen Krankenschwester Edith Cavell im Jahre 1915 entlang hangelt.

Der Morgen des 12. Oktober 1915 graute, als die britische Staatsbürgerin, Edith Cavell, 49 Jahre jung, eine, bis dato selbst vom deutschen Besatzungsregime geduldet, angesehene Leiterin einer Krankenpflegeschule in Brüssel, gemäß Kriegsgerichtsurteil vom 8. Oktober 1915 nach nur zwei Verfahrenstagen von einem deutschen Exekutionskommando standrechtlich erschossen wird

. Edith Cavell, 1865 geboren, versteckte im, völkerrechtswidrig vom deutschen Heer 1914 besetzten, Belgien verwundete englische, französische, belgische Soldaten, pflegte diese und verhalf diesen in hoher Zahl erfolgreich zur Flucht in die neutrale Niederlande.

Viele der Geflüchteten bekundeten, Wochen später glücklich in England, in Frankreich angekommen, Edith Cavell in Briefen überschwenglich, wie unheilschwanger, ihren Dank, dass sie nun, in vaterländischer Pflicht und Treue, weiter gegen die Deutschen kämpfen könnten,

Zur Vollstreckung der Todesstrafe bedurfte es nach militärischer Dienstvorschrift (DV) der Anwesenheit eines Sanitätsarztes.

Gottfried Benn, der im deutsch besetzten Brüssel im "Kriegslazarett IV mit 4000 Betten ausschließlich für Geschlechtskranke" als Oberarzt seinen Militärdienst absolvierte, wurde für diese Aufgabe abkommandiert,.

Die standrechtliche Erschießung von Edith Cavell, einer Frau, zusammen mit einem Belgier, löste im Herbst 1915 globale Empörung aus.

Die USA befanden sich 1915 noch nicht im Krieg mit dem Deutschen Reich.

Der US- Botschafter in Belgien, unterstützt vom spanischen Botschafter, einem Marquis ?, intervenierte bei dem deutschen Oberkommandierenden des Generalgouvernement Belgien, General von Bissing mit einem Gnadengesuch zu Gunsten der britischen Krankenschwester Edith Cavell vergeblich und biss auf Granit.

Das reichsdeutsche Besatzungs- und Terror- Regime mit dem deutschen Heer als Vollziehender Gewalt entwickelte, auf völkerrechtlich brüchigem Grund, unabhängig von Berlin, ein militärdiktatorisch brutales Eigenleben und setzte brachial auf drakonische Maßnahmen, die belgische Bevölkerung einzuschüchtern.
Zwangsarbeitslager, Umerziehungs- , Hunger- und Konzentrationslager waren in Belgien seit Einmarsch der deutschen Heere im August 1914 Alltag, gemäß "Schlieffen- Plan"

"Macht mir den rechten Flügel gegen Frankreich stark".

Kaiser Wilhelm II wurde erst nach der standrechtlichen Hinrichtung Edith Cavells durch die heftige Reaktion der Weltpresse, sonders in den USA, Spanien informiert und auf seine nachdrückliche Anfrage von der deutschen Heeresleitiung in Belgien ins Bild gesetzt.

Seine Majestät waren gar nich amused, dass eine Frau vor ein deutsches Erschießungskommando gestellt worden war. Das wollte und konnte nicht in die Kriegspropagandalinie der deutschen Militärs und Medien passen.

Weshalb tatsächlich von sofort an, Gnadengesuche nicht mehr an die gerichtsentscheidende Kommandoinstanz, sondern an die nächst höhere, dass hieß, letztendlich, an seine Majestät Kaiser Wilhelm II selber ergingen, wenn es sich um eine kriegsgerichtlich verurteilte Frau handelte.

Die Weltmedien erregten sich über Jahrzehnte immer wieder aufs Neue über den Fall, als der englische Regisseur Herbert Wilcox 1928 einen Spielfilm über Edith Cavell in die Kinos unter dem Titel "DAWN" brachte.

Bevor der Film zu sehen war, brachten die Zeitungen Inhaltsangaben, die von einem "Fangschuss" sprachen, den ein deutscher Offizier auf die ohnmächtig am Boden liegende Cavell abgegeben haben sollte: Statt realer standen fiktive Kriegsgräuel der Pickelhauben Boches erneut im Feuer nationaler, internationaler Kritik.

Es wurden Karikaturen lanziert, auf denen Schweine mit Pickelhauben sich an der Leiche Edith Cavells fressend und schmatzend zu schaffen machten.

Am 22. Februar 1928 im "8-Uhr-Abendblatt der Nationalzeitung" räumte ein berufener Augenzeuge mit den Fiktionen auf: Gottfried Benn outete sich als Zeuge und berichtete in seinem Artikel

"Wie Miss Cavell erschossen wurde".

Der Fangschuss sei eine Erfindung, die Sache verhielte sich so:

"Letzter Akt. Er dauert kaum eine Minute. Ein Kommando für beide: Feuer, aus wenigen Metern Abstand, und zwölf Kugeln, die treffen. Beide sind tot".

Gegen die Fiktion der grauenhaften Theatralik des Filmendes setzt Benn seinen Tatsachenbericht im betont ausgesuchten Stil eines Reporters.

Anlass zu grundlegenden Verstörungen gibt Gottfired Benns Tonlage seiner Reportage am ungeigeneten Objekt seiner Profession allemal.

Thea Sternheim, die damals einen literarisch- politischen Salon in Brüssel unter den Augen der deutschen Besatzung mit Gästen, wie Karl Einstein, Anton Kippenberg, Gottfried Benn pflegte, schreibt in einer Tagebucheintragung vom 2. Februar 1917, dass Gottfried Benn den Vorgang der Exekution Edith Cavells "....mit der erschreckenden Sachlichkeit eines Arztes erzählt, der einen Leichnam seziert".

Keine Stimmungen, keine Affekte, alles nüchtern zusammen gerafft, gedrängt, Gottfried Benn verwendet in seinem Artikel im Jahr 1928 das protokollarische Präsens einer militärischen Feldpostenbeschreibung:
Benn berichtet als militärischer Reporter, und er verstand sich wohl auch so bis zu seinem Lebensende, wenn er folgenden Satz in einem letzten TV- Interview mit Thilo Koch 1956, anlässlich seines siebzigsten Geburtstages kurz vor seinem überraschenden Ableben in Berlin, als Lebensmotiv intonierte:

"Leben, Brückenschlagen über Ströme, die vergehen"

Seine Reportage von 1928 hatte ein Nachspiel. Ein Jahr später kam es zum gesellschaftlichen Eklat zwischen ihm und Egon Erwin Kisch im linken Lager der Medien.

In der "Neuen Bücherschau" war ein hymnisches Lob der "Gesammelten Prosa" Gottfried Benns aus der Feder des Literaturkritikers Max Hermann-Neisse erschienen.

Dieser benutzte jedoch sein Lob auf Gottfried Benn vergiftet als Waffe gegen seine kommunistischen Redaktionskollegen: Er stellte den "überlegenen Welt-Dichter" Benn gegen die "literarischen Lieferanten politischer Propagandamaterialien", ohne Substanz, mit denen er offensichtlich Johannes R. Becher und Egon Erwin Kisch meinte.

Gottfried Benn versuchte sich zunächst als Katalysator von Richtungskämpfen innerhalb des linken Lagers. ohne selber zu brennen, und glühte doch im Verlauf, soweit ihm das von seinem Temperament her sichtbar möglich war, selber durch.

Becher und Kisch traten aus der Redaktion der "Neuen Bücherschau" aus. Kisch versäumte dabei nicht, seine ganzen Rabattmarken aus langen Jahren gegenseitig befruchtender Zusammenarbeit aufzuklauben, Benn in einem Artikel in eindeutiger Weise zu kritisieren. Er griff dazu auf Benns Reportage zurück, in der Benn 1928 keinen Zweifel daran gelassen hatte, dass die Erschießung einer Frau zu Recht erfolgt war:

"Sie hatte als Mann gehandelt und wurde von uns als Mann bestraft".

hatte Benn in seinem Artikel geschrieben und wollte das als "Teilnehmender Beobachter" und Zeuge leidenschaftslos verstanden wissen.
Gottfried Benn hatte mit dieser Formulierung wohl eine Aneihe aus Thomas Manns Buch

"Ansichten eines Unpolitischen"

aus dem Jahre 1918 wohlfeil entnommen, der da in etwa auf unsägliche Weise zum Fall Edith Cavell im offiziersmäßigen Stil der Zeit geschrieben hatte:
"Die Weltöffentlichkeit beplärrt standrechtliche Erschießung der Krankenschwester Edith Cavell. Warum?, sie war in Uniform. Kriegsrechtlich ist die Hinrichtung nicht zu beanstanden, politisch war diese töricht. Sie war keine Belgierin, man entehrte sie nicht, man ehrte sie, indem man sie, wie einen Mann, vor die Flinte stellte,"

Was für ein Männer- , was für ein Frauenbild, was für ein Bild von Frieden, von Krieg, Widerstand, zivilem Ungehorsam, Völkerrecht, Kriegsrecht?, trotz Haager Kriegsordnung seit 1890, 1907?

http://de.wikipedia.org/wiki/Haager_Landkriegsordnung

Im Jahre 2002 wusste, nach Nine Eleven 2001, im Wege des Einmarsches von ISAF- Trruppen in Afghanistan, darunter aus Deutschland, kurz vor dem Irakkrieg- Abenteuer der Koalition der Willigen unter Führung von US- Präsident George W. Bush und dem britischen Premierminister Tony Blair ein englischer Historiker überraschend zu berichten, dass die Krankenschwester Edith Cavell angeblich in eine Zusammenarbeit mit britischen Geheimdiensten verstrickt gewesen sei.

Kisch argumentierte jedoch völker- und menschenrechtlich überaus nachvollziehbar und bezeichnete Benns Beitrag als "Bericht über den Mord an der Krankenschwester", an dem der Arzt beteiligt war.

Hatte die britische Krankenschwester Edith Cavell in Belgien doch nicht strafbewehrt als Spionin, sondern als Helferin in der Not verwundeter Soldaten ganz unterschiedlicher, ja verfeindeter Nationen gehandelt.

Warum wurde ihr nicht 1915 der Friedensnobelpreis in Oslo verliehen?

Doch selbst britische Militärrechtler wollen da Kisch juristisch nicht folgen, und urteilen nach eingehender Prüfung im Jahre 1919 , dass die Hinrichtung Edith Cavells unter kriegsrechtlichen Gesichtspunkten angeblich rechtens war und strichen den Fall Edith Cavell aus der langen Liste jener deutschen Kriegsverbrechen, die zur Anklage gebracht werden sollten.

Die spätere Behauptung, Kisch, der ungekrönte Cäsar als legendär "Rasende Reporter" fürchtete in Benn einen ernst zu nehmenden Konkurrenten für die Gattung"Reportage" und habe deshalb Benn so grundlegend kritisiert, wird in den Erinnerungen von Nico Rost, Korrespondent holländischer Zeitungen, berichtet.

Da ist zu lesen, , dass Benn die Reportage als eine viel zu schlichte Ausdrucksform bezeichnete, jedoch mit dem Cavell-Bericht zeigen wollte, wie mühelos das Schreiben in diesem Genre sei:

"So ein Bericht macht dem Verfasser keinerlei Schwierigkeiten und ist kinderleicht und deutlich". Und Rost ergänzt bewundernd, nachdem er den Cavell-Bericht gelesen hat:

"Also das konnte er auch: eine derartige Reportage schreiben, in sachlichem Stil, in dem die Kraft der Beherrschung noch nachzitterte. Auch hier war er größer als viele soziale Reporter, für die ich damals eine so große Vorliebe hatte".

Was für eine journalistische Welt ungestillter, ungelebter Eitelkeiten:

"Und wenn die Welt zu Schanden fällt, wir haben, wir wissen, leidenschaftslos zu berichten, einer leidenschaftsloser denn der andere!"
Ging es mit dem Gerede über Eitelkeiten unter Literaten von Dritter Seite nicht vielmehr um die ästhetisch aufwendige Ummantelung eines wirklich ernshaften Konflikts, der aus der Wahrnehmung der Öffentlichkeit entschwinden sollte.

Der Konflikt ungehaltener Reden bestand in der Frage, ob ein terroristisches Unrechtsystem, wie das der deutschen Heere und der kaiserlichen Marine in Belgien ab August 1914, eingedenk eines natürlichen Widerstandsrechtes der Bevölkerung, die völkerrechtswidrig, entgegen der Haager Landkriegsordnung von 1890, 1907, 1925 in Lucarno konkretisiert, mit Krieg überzogen wurde, wirksam Recht sprechen kann oder nicht?

Egon Erwin Kischs "vernichtendes" Urteil: "Gottfried Benn ist ein in seine krankhaften (schizophrenen) Hemmungen eingesponnener Snob, der keine Ahnung von der Welt hat, aber sie behandelt".

Eigentlich müsste der Satz sinnstiftend im Fall Gottfried Benn lauten:
"Blockierter Snob, der jede Ahnung von der Welt hat, aber sie, befohlen, behandelt, als hätte er keine Ahnung".

"Das kann als ein gehässiger Schlag gegen Benns Berufsehre als Arzt gewertet werden. Benn ließ den Angriff nicht auf sich beruhen und entgegnete mit einem Kommentar, der vor allem ästhetische Auffassungen betraf, gleichzeitig jedoch politische Seitenhiebe gegen die stalinistische Linke implizierte, zu der Kisch damals angeblich zählte.

Dass Gottfried Benn ausgerechnet das tragische Ereignis der Hinrichtung Edith Cavells zum Gegenstand machte, um Kisch und anderen gegenüber sein Talent als "Leidenschaftsloser Reporter" unter Beweis zu stellen, entfaltet mehr an emotionaler Selbstentlarvung Innerer Gemütsverfassung des Millitärarztes Gottfried Benn, der sich zum Dienst an der Dichtkunst befohlen hatte, denn alles andere.

1935 schien ein Brückenschlag Gottfried Benns über den NS- Strom zu kurz geraten, er drohte, unter anderem durch Diffarmierungen eines gewissen Baron von Münchhausen, einem damaligen Direktor der Berliner Akademie der Künste, schuldhaft verstrickt, final in den NS- Strom zu versinken, als ihm Heinrich Himmler mit Verweis auf dessen offiziersmäßiger "Cavell Reprotage" patriotisch aus seinem Brückenschlag Dilemma half.

Gottfried Benn wusste die Signale zu deuten und trat mit seinem erst nach dem Zweiten Weltkrieg offenbarten Gesinnungssatz als Autor und Dichter ins militärische Glied der Deutschen Wehrmacht zurück

"Die aristokratische Art der Emigration ist der Eintritt ins Heer"

Dieser Satz ist um so mehr bemerkenswerter, weil erstens, Gottfried Benn kein Aristokrat war, zweitens, weil es seit dem Jahre 1919 nach dem aristokratisch vermasselten Ersten Weltkrieg in Deutschland keine Aristokraten von Amtswegen mehr gab, auch wenn die, anders als in Österreich, ihre vormaligen adeligen Amtstitel als schlichten Namensteil, wie Müller, Schulze, Meier, weiter führen durften.

Da bleibt die Frage, ob dieser Satz der letzte Brückenschlag Gottfried Benns über einen Strom sein sollte, der vergeht, wenn ja, welchen?, den der Entwicklung der Demokratie auf deutschen Grund und Boden?, nämlich, auf brüchigem Untergrund, den Nimbus angeblich moralischen Reinheit des Heeres, der Deutschen Wehr als Hort des Widerstandes in dunkler NS- Zeit. landauf, landab mit den Dönitz, Jüngers, von Weizsäckers, Bismarcks, Brauchitsch, Hohenzollern u. a. bis in den Nimmerleinstag zu predigen?

1942 war Gottfried Benn jedenfalls als Militärarzt im vollen Wichs da wieder so leidenschaftslos mit seiner "Teflon. Gesinnung" angekommen, wie er 1917 von dort ungesehen entschwand, nämlich im deutsch besetzten Brüssel. als hätte es nie einen Hinrichtungs- Fall "Edith Cavell" im Jahre 1915 gegeben.

"Der Krieg ist da, nun will er ausgefochten sein"

Dieser seelenlos klugschnarrende Gottfried Benn Satz hatte schon in den Jahren 1915- 1917 dessen Gastgeberin Thea Sternheim in Brüssel gegen ihn aufgebracht

JP


Jörg Döring / Erhard Schütz: "Benn als Reporter. Wie Miss Cavell erschossen wurde". Universitätsverlag Siegen. 121 S., 8 Euro

http://www.deutschlandfunk.de/erster-weltkrieg-edith-cavell-dr-gottfried-benn-und-andere.1247.de.html?dram:article_id=270556
Beitrag vom 07.01.2014
07.01.2014, 19:15 Uhr
ERSTER WELTKRIEG
Edith Cavell, Dr. Gottfried Benn und andere

Von Werner Dütsch

https://www.youtube.com/watch?v=c6R4w3YaDQc
Gottfried Benn im Interview mit Thilo Koch

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Geschrieben von

Joachim Petrick

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Joachim Petrick

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