Willy Brandt "HUNDERT?"(1913- 2013)

Lars Brandt redet Helmut Schmidt macht sich auf seine sympathisch schnodderig gemeinte Art bis heute folgenden Reim auf das "WILLY- Phänomen" "Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen!".

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"Alles Willy!, oder was?"

Ruth und Willy Brandts zweitgeborener Sohn, Lars Brandt, Jahrgang 1951, gibt in der aktuellen SPIEGEL- Ausgabe 51- 124- 2013 in einem Essay unter dem Titel "Hundert?" Aufschluß über sein Sohn- Vater- Verhältnis, das ich so noch nirgendwo gelesen habe.

Anders als Matthias Brandt, der jüngste Sprößling, Jahrgang 1961, aus der Ruth und Willy Brandt Brut, leidet Lars gar nicht unter der angeblichen Unnahbarkeit seines Vater, sondern macht sich die Leseleidenschaften seines Vaters frühzeitig zunutze, inspiriert diesen zu teueren Anschaffungen von dicken Wälzern, wie den Roman "Quatre" von Heinrich Mann, den Papa Willy ununterbrochen folgsam lesend, sei es im Garten, im Wohnzimmer, beim Frühstück, Mahlzeiten, dabei sein Buch nie aus der Hand legend, unter zwischenzeitlicher Beteilung an familiaren Tischgesprächen, bis zum Abend in der eher kleinen Wohnung am Schlachtensee in Westberlin durchliest.

Um diesen Literatur- Schinken darauf seinem Sohn Lars als herbeigesehnte Lektüre zu überlassen, der diesen so dann später, ebenfalls gelesen, besitzerstolz, in sein Regal stellt

Lars Brandt schreibt davon, sein Vater Willy Brandt (erst 1933 USPD Deckname im Untergrund, dann angenommener Name, eigentlich Herbert- Ernst- Karl Frahm) sei am 18. Dezermber 1913 in Lübeck; † 8. Oktober 1992 in Unkel, in eine Epoche geboren worden, die gerade einmal 100 Jahre von der Völkerschlacht in Leipzig entfernt war, als Chamisso seinen "Pe- Schlemühl" schrieb, Beethoven seine 7. Sinfonie in Wien aufführte, um 100 Jahre später im August 1914 in die Ur- Katastrophe des 20. Jahrhunderts zu führen.


Was Lars Brandt nicht schreibt, ist, dass jene Epoche unheilschwanger diese Ur- Katastrophe lange in sich barg, die, getrieben vom ungestüm militaristisch wüsten Willen vieler Herrschenden, Regierenden der damaligen Zeit in den Großmächten Europas, dass zumindest unabdinglich alles durch die Ausweitung kolossal kolonialer Kampfzonen in aller Welt so bleibe, wie es ist, diese Ur- Katastrophe aus "nichtigen" Grund (Sarajewo Attentat auf den k.u.k. Austria Thronfolger) erst auslösten.

Unbefangen, wie Ruth ((* 10. Januar 1920 in Hamar, Norwegen; † 28. Juli 2006 in Berlin, geborene Rut Hansen, verwitwete Rut Bergaust) und Willy Brandt Söhne nun einmal sein können, attestiert Lars Brandt seinem Vater, den habe am 23. März 1987 sein politischer Instinkt verlassen, als er vom SPD- Parteivorsitz zurücktrat, nachdem an seiner Nominierung von Margarita Mathiopoulos als Kandidatin für das neu zu besetzende Amt der Parteisprecherin harsche parteiinterne Kritik geäußert wurde.

Dabei war Willy Brandt mutmaßlich aus anderem Grunde auf die SPD- Vorständler und Oberen stinksauer und insbesondere von Oskar Lafontaine, seinem Favoriten für den Posten des SPD- Spitzen- und Kanzlerkandidaten im Bundestagswahljahr 1987 enttäuscht.

Wie anders wäre die deutsch- deutsche Geschichte und vor allem mindestens ein Jahr "eher" verlaufen, wenn Oskar Lafontaine, dank Willy Brandts maßgeblich programmatischer Bundestagswahlkampf 1987 Unterstützung als SPD- Vorsitzender, mit dem SPD- SED- Papier der "kleinen Schritte" von Ehrhard Eppler in der Tasche, damals Bundeskanzler geworden wäre?

Johannes Rau war als SPD- Kanzlerkandidat für den Bundestagswahlkampf 1987 nomniert, weil Oskar Lafontaine als saarländischer Ministerpräsident und designierter Enkel Willy Brandts noch die Courage und das Standing dazu fehlte?

Auf dem außerordentlichen Parteitag am 14. Juni 1987 wurde Willy Brandt zum Ehrenvorsitzenden auf Lebenszeit gewählt; zu seinem Nachfolger als Parteivorsitzender wurde Hans-Jochen Vogel gewählt.

Was Lars Brandt n. m. E. aufschlussgebend gut in seinem Essay herausarbeitet, ist, dass die angebliche Einsamkeit, die Rückzugstendenzen, Verschlossenheit, Unerreichbarkeit Willy Brandts auch ganz andere Ursachen gehabt haben könnte, als die gemeinhin kolportierten, denn in solchen Zusammenhängen gebe es erfahrungsgemäß immer mindestens zwei Seiten ein und derselben Medaille

Meine persönliche Mutmaßung ist, Willy Brandt geriet "links und frei", aus seinem Exil in Norwegen kommend, in ein kulturelles, parteipolitisches und gesellschaftliches Klima im Nachkriegsdeutschland, insbesondere in der Frontstadt des Kalten Krieges Westberlin, das nicht nur aus eisern verschlossen hochgezogenen Schweige- und zugleich Klagemauern bestand, sondern als "Mitte" wie ein kristallin bizarrer Eisberg in der Gemütslandschaft der Gemeinschaft der Menschen stehend, umschifft sein wollte, um nicht, wie die Titanic 1912, mit diesem Eisberg zu kollidieren.

Diesem schicksalhaft kollektiven Umstand, aus hunderttausendfach eingebrannten Traumata in den Seelenhaushalten der Menschen als Opfer wie Täter des NS- Terrors, des Krieges, der von Staatswegen organisiert und administrierten Verbrechen, Verfolgung, Inhaftierung, Zwangsarbeit, Kriegsversehrtheit, Vertreibung, Demütigung, Exil begegnete Willy Brandt, gleich in welche Richtung, mit einer menschlichen Milde, ja zugewandter Güte, die einerseits bei nicht wenigen zunächst Fassungslosigkeit, andererseits in stetig wachsender Zahl bei vielen Befreiung von innerer Erstarrung auslöste, wenn sie "Willy" nur im Radio, auf Versammlungen mit seinem breiten skandinavisch- deutschen Sprachduktus zuhörten.

Bei direkten Begegnungen Willy Brandts mit wildfremden Personen, gleich welchen Geschlechts, konnte so unvermittelt ein Vorgang angestossen sein, dass aus den inneren Eiszeitzonen der Menschen, unvermittelt etwas Wärmendes zu strömen begann, bis sie endlich und unerwatet für erste Momente wieder auf ihre emotional normale Betriebstemperatur gerieten.

Willy Brandt war der letzte, der sich diesen menschelnden Vorgang als sein persönliches Verdienst zugeordnet hat.

Willy Brandt reagiert vielleicht auf solcher Art Gefahrenlagen aus Traumata entanden emotionalem Frost in der Mitte von Versammlungen, nahen und fern stehenden Menschenkreisen, mit seismografisch Gespür und Achtsamkeit zunächst mit Verstummen, Rückzug, um sich innerlich selber zu versichern:

"Beeilt euch zu handeln, bevor ihr bereut, zu spät zu handeln!"
"Kranz nieder legen reicht nicht, meinte Willy Brandt nach seinem Kniefall vor dem Mahnmal an das Juden Ghetto in Warschau 1970 Egon Bahr gegenüber, denn die deutsche Poiltik hatte es, hüben und drüben, so zu organisieren gewusst, dass er damals mit leeren Händen auf seinem Besuch nach Polen kam.

Manchen Polen galt Willy Brandts Niederknien vor dem Ghetto Mahnmal, statt vor dem nationalen Heldendenkmal des "unbekannten Soldaten" in Warschau als Affront.

Willy Brandt war ein richtiger Kerl, wie seine Frau Ruth von ihm in Norwegen zu schwärmen wusste, der nicht nur, ohne Spuren von Eitelkeiten, proletarische. sondern auch Weihnachtslieder auf seiner Mandoline spielen und singen mochte, der über sich selber und vor allem gute Witze, die er selber gerne zum Besten gab, herzhaft, bis über beide Ohren grinsend, schallend, lachen konnte

So konnte Willy Brandt durchaus laut und unüberhörbar in die Menge seiner geneigt zahlreichen Zuhörer vor dem Schöneberger Rathaus in Westberlin oder anderswo rufen:

"Wir brauchen in der SPD und für die SPD keine Bewunderer, wir brauchen Menschen, die mittun!"

Willy Brandts Nachfolger im Kanzleramt Helmut Schmidt macht sich auf seine sympathisch schnodderig gemeinte Art bis heute folgenden Reim auf das "WILLY- Phänomen"

"Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen!"

Dass manche Visionen nicht selten den Arztbesuch ersparen, darauf kommt Helmut Schmidt nicht, auch nicht darauf, dass er sozusagen, gewollt, ungewollt, zu Lasten des Ansehens und Verständnis der Person Willy Brandts jedem, der eine Vision sein eigen nennt, indirekt, wie ein Kainsmal, öffentlich auf die Stirn pappt

"Bei Dir piept es ja! Du hast wohl einen "Alles Willy!, oder was!"

Davon abgesehen, wer, wie Altkanzler Helmut Schmidt, dem ich, mit seinen in wenigen Tagen 95 Jahren, weiterhin ein fideles Dasein wünsche, nahezu lebenslang aus nichtigem Anlass, smoekend, Rauchzeichen unter der Devise

"Lieber Emissionen statt Visionen"

in den Himmel sendet und auf Erden gibt, sollte den Ball möglichst flach unter der Grasnarbe halten, wenn er sich über Visionen mokiert.

JP

https://www.freitag.de/autoren/joachim-petrick/willy-brandt-life-under-the-waterline

JOACHIM PETRICK 14.11.2013 | 00:45

Willy Brandt "Life under the Waterline"

Geheimdiplomatie Treibende Kraft für den Aufbau, die Organisation und Pflege dieser geheimen Kanäle ist die Idee, die Brandt/Bahr Ost- und Entspannungspolitik, ins Gelingen zu bringen

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Geschrieben von

Joachim Petrick

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