Die aufgebrachte Menge skandiert: „Ordo Iuris, wypierdalać!“ (Ordo Iuris, verpisst euch!) Versammelt hat sie sich in der Zielna-Straße 39 in Warschau, vor dem Hauptsitz der ultrakonservativen Juristenvereinigung „Ordo Iuris – Institut für Rechtskultur“. Mit dem gotisch-romanischen Turm hebt sich das Gebäude von den benachbarten Neubauten ab. Nach den Protesten prangt am historischen Gemäuer der skandierte Slogan als Graffiti. Weitere Botschaften auf dem Gehsteig, darunter „Ihr habt Blut an den Händen“, verbalisieren an diesem Abend Ende Oktober die geballte Wut darüber, dass trotz massiven Widerstands eines der strengsten Abtreibungsgesetze in Europa weiter verschärft wurde. Seit der Verkündung durch das Verfassungsgericht ist die Spaltung der Bevölkerung zwischen liberal-progressiver und katholisch-traditionalistischer Wertegemeinde größer denn je. Und sie wird von den Regierenden stets aufs Neue angeheizt.
Neben der rechtspopulistischen Regierung und der erzkonservativen katholischen Kirche gibt es einen dritten wichtigen Akteur, der diesen reaktionären Wind fördert. Es ist die Juristen-Denkfabrik Ordo Iuris, die 2016 den Gesetzesentwurf für ein vollständiges Abtreibungsverbot vorlegte und das jüngste Urteil des Verfassungsgerichts als eigenen Erfolg verbucht. Leider scheint mit dem De-facto-Verbot von Abtreibungen nicht das Ende der reaktionären Agenda in Sicht. Ordo Iuris will die Istanbul-Konvention, also das Übereinkommen des Europarates zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen, durch eine „Konvention über die Rechte der Familie“ ersetzen. Ein entsprechender Antrag wird derzeit im Sejm, einer der beiden Kammern des Parlaments, debattiert.
Jerzy Kwaśniewski, der Präsident der Stiftung, die sich dem „Verteidigen der christlichen Werte" verschrieben hat, wurde beim Ranking des US-amerikanischen Magazins Politico unter die 28 Menschen in Europa gewählt, die die europäische Politik und ihre Regeln im Jahr 2021 prägen werden. Im Vorwort stellt die Redaktion klar: „Wichtig ist der Grad des Einflusses, nicht ob er gut oder böse ist.“ Ungewöhnlich, dass ein in Europa weitgehend unbekannter Kopf einer ebenso wenig bekannten Organisation in einer Rangordnung mit Politgrößen wie Ursula von der Leyen, Angela Merkel oder Jens Stoltenberg auftaucht? Genau darin liegt die Brisanz des Phänomens Ordo Iuris. Seit der Gründung im Jahr 2013 konnte der Thinktank seinen Wirkungsgrad und Einfluss in höchste politische Sphären Polens und darüber hinaus ausbauen.
Der Anti-Gender-Klebstoff
An dieser Stelle ist ein kleiner Sprung in die Zeit notwendig, in der sich die Rechte neu zu erfinden beginnt. Mitte der 1990er Jahre als im Zuge der Welt-Frauenkonferenz in Peking (1995) der Begriff „Gender“ erstmals in internationale Beschlüsse aufgenommen wird, sind heftige Proteste die Folge. Einer der ersten, der den Begriff „Gender-Ideologie“ verwendet, ist Josef Ratzinger, auch bekannt als Papst Benedikt XVI. Die Angst vor der Zerstörung der „natürlichen Heterosexualität“, der Abschaffung der Geschlechter und damit der Auflösung des bürgerlichen Familienmodells als Basis des Staates werden seitdem von vielen befürchtet. Bereits mit Beginn der Nullerjahre formt sich also die sogenannte Anti-Gender-Bewegung gegen die Gleichstellung der Geschlechter, Gender Mainstreaming sowie gegen die sexuelle Selbstbestimmung und fungiert fortan als das symbolische Bindeglied der antifeministischen milieuübergreifenden Vernetzung und politischen Emotionalisierung innerhalb des rechten Spektrums. Dabei greift die Bewegung auf „religiöse Denk- und Argumentationsfiguren zurück, um mittels dieser einen autoritären Absolutheitsanspruch für sich zu begründen. All dies vollzieht sich – mal mehr, mal weniger offensichtlich – in vielen sich bislang demokratisch und liberal verstehenden Gesellschaften Europas und prägt derzeit das Regierungshandeln etwa der EU-Staaten Polen und Ungarn“, ist im Vorwort zum Sammelband Anti-Genderismus in Europa. Allianzen von Rechtspopulismus und religiösem Fundamentalismus zu lesen. Die Religionssoziologin Kristina Stoeckl, eine der Autor*innen, gibt in ihrem Aufsatz Konservative Netzwerke über Konfessionsgrenzen hinweg einen genauen Einblick in die Genese und die Entwicklung einer Organisation, dessen Gründung auf einen US-Amerikaner und einen Russen zurückreicht. Dabei analysiert sie insbesondere die interreligiöse Dimension. Die Rede ist vom weltweiten, antifeministischem Netzwerk World Congress of Families (WCF), dessen Konferenzen bereits seit 1997 jedes Mal in einem anderen Land stattfinden. Stoeckl beobachtet einen „Aktivismus, der einer »konservativen Ökumene« zwischen rechten und fundamentalistischen Gruppen innerhalb der unterschiedlichen, christlichen Konfessionen den Weg bereite“. Interessant ist dabei, „dass die Gegner*innen von sexuellen und reproduktiven Rechten sich zunehmend auf die gleiche Art und Weise zu organisieren beginnen, wie sie dies der von ihnen kritisierten „Gender-Lobby“ vorwerfen: transnational, über Kultur-, Länder- und Konfessionsgrenzen hinweg und mit dem Ziel, internationale Organisationen und politische Akteur*innen in nationalen Kontexten in ihrem Sinne zu beeinflussen“.
Ungefähr hier scheint der ultrakonservative Backlash in seiner zunehmend professionalisierten und strukturierten Form den Anfang zu nehmen. Es besteht unter anderem darin, das universelle Verständnis der Menschenrechte anzugreifen und an die eigenen Wertvorstellungen anzupassen. Dabei wird im Laufe der Zeit immer deutlicher, dass Antifeminismus und Anti-Genderismus eine ungewöhnliche Einigungskraft quer durch die sehr unterschiedlichen Lager des rechten Spektrums mit sich bringen: von Rechtsaußen, christlich-fundamentalistischen Kreisen, „besorgten Eltern“ bis hin zu den Bürgerlich-Konservativen.
Die vernetzte religiöse Rechte
Eine große, gut vernetzte Menge an Anti-Gender-NGOs und -Akteuren gibt es schon länger. Die Finanzierung und tatsächlichen Ziele vieler dieser Gruppen sind oft intransparent, dank wachsender wissenschaftlicher Aufmerksamkeit kommt aber mehr Licht in den Bereich. Einer, der dafür sorgt, ist Neil Datta vom Europäischen Parlamentarischen Forum für sexuelle und reproduktive Rechte. „Ihre zunehmende strategische, transnationale Präsenz und der Zugang dieser Organisationen zu europäischen Institutionen, wo sie mit demokratischen Instrumenten, wie Gesetzesentwürfen, Petitionen oder Referenden, gegen bestimmte Menschenrechte Lobbying betreiben, könnte die demokratische Ordnung gefährden“, sagt er. 18 Gesetzesinitiativen gegen Abtreibung und Gleichstellung sexueller Minderheiten werden dem informellen, geschlossenen Netzwerk Agenda Europe zugeschrieben. Datta untersuchte dieses Netz, das über 100 Organisationen und Politiker*innen aus rund 20 europäischen Ländern verbinden soll, darunter auch US-amerikanische Akteure, spezialisiert auf politisches Lobbying, gerichtliche Prozessverfahren und Bürgerinitiativen.
Die theoretische Basis für den Umbau der vorherrschenden Rechtsordnung und Gesellschaft bildet das Manifest Wiederherstellung der natürlichen Ordnung, in dem gleich zu Beginn die Notwendigkeit eines von Gott gegebenen „Naturrechts“ so dargelegt wird: „Echte moralische Grundsätze basieren nicht auf subjektiven 'Werten', sondern auf objektiven Wahrheiten - und deshalb ist es nicht nur legitim, sondern auch notwendig, sie denen aufzuzwingen, die sie nicht akzeptieren." Unverhohlen wird eine Kampfansage an liberale Gesellschaften formuliert, die „Akzeptanz von Scheidung, Empfängnisverhütung, Abtreibung, Homosexualität, Leihmutterschaft usw. hat tiefgreifende Auswirkungen nicht nur auf die direkt Beteiligten, sondern auch auf die Gesellschaft insgesamt. Diese als bloße 'private Angelegenheiten' zu akzeptieren, in denen jeder seine eigenen Entscheidungen treffen sollte, bedeutet zu akzeptieren, dass diejenigen mit den niedrigsten moralischen und kulturellen Standards die Standards der Gesellschaft festlegen".Die Forderung nach Umgestaltung der Menschenrechte entlang der Vorstellungen eines „Naturrechts“ erfüllt für viele ultrakonservative Akteur*innen, darunter auch Ordo Iuris, eine Art Kompassfunktion.
Brasilianische Wurzeln
Um die Wurzeln von Ordo Iuris zu ergründen, ist ein größerer Sprung notwendig, und zwar ins Jahr 1960 nach Brasilien. Der katholische Publizist und Politiker Plinio Corrêa de Oliveira gründete damals die TFP (Tradition, Familie und Privateigentum), er trat für eine antiegalitäre, antiliberale und totalitär-katholische Kultur und Politik ein. TFP ist eine religiöse und soziale Bewegung zugleich, historisch gesehen oft nah an südamerikanischen Diktaturen und mit Verbindungen zu rechtsextremen Akteuren. Unter anderem wurde der Organisation Indoktrination von Minderjährigen und kultähnlicher Charakter vorgeworfen. Der Name ist gleichzeitig Doktrin. Man möchte zu einer idealisierten Version der mittelalterlichen Ordnung zurückkehren. 1995, nach dem Tod von Oliveira, kam es zur Spaltung der brasilianischen TFP und der TFP-Gruppierungen anderer Länder. Neil Datta untersuchte die Aktivitäten des europäischen TFP Netzwerks, das NGOs in mindestens zehn europäischen Ländern hat und derzeit in Estonien, Kroatien, Litauen, den Niederlanden und der Slowakei expandiert. Die unterschiedlichen Filialen sind häufig nicht durch einen gleichen Namen oder das charakteristische Löwen-Logo als Teil des selben Verbands erkennbar. Aufschlussreicher ist die Zusammensetzung der jeweiligen Vorstände, die meist aus den selben, wenigen Personen bestehen. Oft werden die internationalen, nicht als Teil des Netzwerks erkennbaren Ableger als „Partnerorganisationen“ angeführt. Diese verbreiten medial gleiche oder leicht abgeänderte Inhalte und suggerieren eine breite zivilgesellschaftliche Aktivität und damit auch einen entsprechenden gesellschaftlichen Rückhalt.
Im katholisch geprägten Polen fand das TFP-Netzwerk Ende der 90er-Jahre das perfekte Klima für seine Tätigkeit. Journalistischen Recherchen zufolge scheint das Fundraising der Non-Profit-Organisation mittels Massenversand von religiösen Medaillons, Marienbildern und christlichen Publikationen so erfolgreich, dass es die Gründung immer weiterer Filialen möglich macht. Etwa im Jahr 2012 startet die katholische Kirche in Polen eine Anti-Gender-Kampagne. Bischöfe und Priester entwickeln eine aggressive Rhetorik gegen Feminismus und Homosexualität. Ein Jahr später gründet einer der beiden polnischen TFP-Ableger die Denkfabrik Ordo Iuris. Als der oppositionelle Warschauer Bürgermeister eine LGBTQ-Deklaration für Toleranz unterzeichnet, erklären sich viele Gemeinden, vor allem im Südosten Polens, zu „LGTB-Ideologie-freien Zonen“. Bei der Deklaration der Gemeinden spielt Ordo Iuris die Hauptrolle, mit der eigens für diesen Zweck vorbereiteten „Kommunalen Charta der Rechte für Familien“. Die Deklarationen haben keinen formalrechtlichen Status, leisten aber Schützenhilfe für homophobe Angriffe. Die PiS erkannte im Thema LGBTQ das Polarisierungspotenzial und setzte es erfolgreich bei der jüngsten Präsidentschaftswahl ein. Mit dem knappen Wahlsieg des PiS-nahen Kandidaten ist die politische Macht für die nächsten Jahre garantiert und der Weg für weitere Ordo-Iuris-Kampagnen geebnet.
Urszula Grycuk, Anwältin und internationale Koordinatorin in der Föderation für Frauen und Familienplanung, nahm mit anderen Expert*innen in der Publikation Ordo Iuris – Kulturelle und religiöse Gegenrevolution die Strategien und Arbeitsmethoden der NGO unter die Lupe. „Ihr Bestreben besteht unter anderem darin, in Polen ein Gesetz einzuführen, das die Trennung der säkularen von der religiösen Welt nicht anerkennt und das Leben aller Bürger*innen nach den Grundsätzen einer Religion organisiert.“ Besonders besorgniserregend ist für die Juristin die zunehmende Vernetzung von Ordo Iuris mit den Regierungsparteien PiS und Solidarna Polska, die Legislative, Exekutive als auch das Verfassungsgericht weitgehend kontrollieren.
Verzahnt mit der Macht
Um die „natürliche Ordnung“ herzustellen, rücken Handlungen gegen Abtreibung und das Diskriminierungsverbot und gleichzeitig für den Ausbau der Rechte im Bereich der Religionsfreiheit sowie Ehe und Familie ins Zentrum. Ordo Iuris ist auf all diesen Gebieten aktiv, mit Gesetzesentwürfen, Expertisen, Gerichtsprozessen, Vorträgen, medialen Auftritten oder Schulungsprogrammen. Der Begriff „biologische Familie“ wird konsequent durch „natürliche Familie“ ersetzt. Ebenso wie den Aufklärungsunterricht an Schulen, der zur „Sexualisierung“ der Kinder führe, bekämpfen die reaktionären Aktivist*innen alles, was zur Gleichstellung von LGBTQ- Personen beiträgt. Die Organisation ist unermüdlich darin, nicht heteronormative Menschen als Element familienfeindlicher und antichristlicher Propaganda und „Ideologie“ darzustellen. Den Einsatz der „Gewissensklausel“, die Ärzten, Krankenschwestern und Hebammen erlaubt, eine Gesundheitsleistung zu verweigern, würde Ordo Iuris auf alle Dienstleistungen erweitern.
„Ordo Iuris lässt immer wieder mit völlig abstrusen Ideen aufhorchen, so wie 2016, als im Rahmen ihrer ersten Gesetzesvorlage für ein totales Abtreibungsverbot zusätzlich eine Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren bei Verstoß vorgesehen war“, sagt Urszula Grycuk und erinnert an die landesweite Protestwelle des Strajk Kobiet. „Damals haben sie sich verzettelt, aber bald danach begannen sie im Mainstream anzukommen. In der Vergangenheit lud niemand Vertreter*innen dieser NGO zu öffentlichen Debatten ein, heute ist das Gegenteil der Fall, und so sind sie maßgeblich an der Produktion öffentlicher Botschaften beteiligt, insbesondere in regierungsnahen Medien.“ Die Stiftung beschäftigt rund 40 Mitarbeiter*innen, vor allem Anwält*innen, führt eine konsequente PR und baut in den Augen vieler konservativer Adressaten ihre Glaubwürdigkeit auf ihrer Rechtsexpertensprache und der angeblichen Verteidigung christlicher Werte auf.
Ziel ist es, das rechtliche Verständnis von Konzepten wie „Diskriminierung“, „Gewissens- und Religionsfreiheit“ oder „Privatleben“ zu verzerren. In ihrer Kommunikation ist auf vielen Ebenen Manipulation erkennbar, sei es durch gezielte Fehlinterpretation der polnischen Verfassung, die ideologisierte Sprache oder die Umkehrung eines Sachverhalts wie bei der „Christianophobie“, also der angeblich „diskriminierten“ Mehrheit. Wer auch immer die finanziellen Wohltäter sein mögen, Ordo Iuris nutzt das Geld nicht nur für ideologische Kämpfe und Imagepflege, sondern vielmehr auch, um die nächste Generation radikal-konservativer Rechtstheoretiker auszubilden. Im Rahmen ihrer kostenlosen Ausbildungs- und Praktikumsprogramme, die sich an Student*innen oder Absolvent*innen von Rechts-, Verwaltungs-, Sozial- und Geisteswissenschaften richten, verspricht man den perfekten Mix für die Karriere.
Sogar eine eigene Universität, das Collegium Intermarum, wurde inzwischen von Ordo Iuris gegründet. Deren Eröffnung Ende Mai 2021 soll ein weiteres Mosaiksteinchen bei der Bildung neuer konservativer Eliten sein, und zwar für die gesamte „Intermarium Region“ von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer. Inspiration für dieses Projekt war interessanterweise der ideologische Konterpart George Soros und seine „Central European University“ die laut Ordo Iuris eine Generation links-liberaler Eliten hervorgebracht hat. Das Flaggschiff der neuen Universität sind die Rechtswissenschaften, sowie das erste englischsprachige Aufbaustudienprogramm in Mitteleuropa, das sich der „Problematik der Menschenrechte“ widmen will.
Aber nicht nur im universitären Bereich versucht man sich auszubreiten. Kürzlich wurde Artur Górecki, der mit Ordo Iuris im Vorstand einer gemeinsamen Programmreihe sitzt, zum Beauftragten des Bildungsministeriums ernannt. Der Mitorganisator von Vorträgen wie „Gott und Jesus Christus segnen keine homosexuellen Beziehungen“ wird nun die Inhalte schulischer Lehrpläne verantworten. Es überrascht nicht, dass der für ultrarechte Ansichten und homophobe Aussagen bekannte Bildungsminister Przemysław Czarnek als Vortragender der Ordo Iuris Academy geführt wird. Das Ausmaß der Verzahnung mit Regierungskreisen ist beklemmend. Der ehemalige Präsident der Stiftung und Gründer der Stiftung, Aleksander Stępkowski, der bereits eine steile Karriere bis hin zum Richterposten am Obersten Gerichtshof hinlegte, galt sogar als einer von den insgesamt drei polnischen Kandidat*innen für die Stelle des Richters am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Die dafür zuständige Kommission des Europarates lehnte jedoch, aufgrund mangelnder Transparenz des Nominierungsprozesses alle drei von der PiS-Regierung vorgeschlagenen Kandidat*innen ab. Somit muss das Wettbewerbsverfahren in Polen wiederholt werden.
Kreuzzug gegen die Moderne
Wie andere Gruppen dieses Typs, die einen Kreuzzug gegen die moderne, liberale Gesellschaft führen, versucht Ordo Iuris bei den Vereinten Nationen, der EU, dem Europarat und der OSZE an Bedeutung zu gewinnen. Themen, die der Thinktank auf internationaler Ebene diskutiert, unterscheiden sich nicht von denen, auf die er sich in Polen konzentriert. Reden, Berichte und Analysen, die einzelnen Organen internationaler Organisationen vorgelegt werden, enthalten eine kohärente ideologische Agenda. Obwohl die von Ordo Iuris verbreiteten Ansichten oder Ideen im Widerspruch zur Universalität des gegenwärtigen Verständnisses der Menschenrechte stehen, nutzt die Organisation die eigene internationale Präsenz geschickt für PR und Legitimationszwecke.
Urszula Grycuk, die sich seit mittlerweile drei Jahren innerhalb ihrer NGO für Frauenrechte engagiert, ist frustriert darüber, wie sehr sich seit dem Antritt der PiS-Regierung die Lage in Bezug auf Frauen- und Minderheitenrechte in Polen verschlechtert hat. Das Abtreibungsverbot und der Missbrauch der Gewissensklausel im Gesundheitswesen bereiten vielen Frauen große, manchmal existenzielle Probleme. Ein Ausstieg aus der Istanbul-Konvention, wie ihn die Juristen von Ordo Iuris anvisieren, würde die Situation weiter verschärfen. Und die Organisation verschwendet keine Zeit, um auch Allianzen mit anderen Ländern in der Region, die sich gegen die Istanbul-Konvention aussprechen, einzugehen. Die Entstehung eines regionalen Bündnisses in Mittel- und Osteuropa, wodurch die Ausweitung von LGBTQ- und Frauenrechten in der EU verhindert werden könnte, ist nicht ausgeschlossen. Im vorigen Jahr bestätigte das ungarische Zentrum für Grundrechte zusammen mit Ordo Iuris die Schaffung eines europäischen Netzwerks von Denkfabriken zu planen, die in politischen Debatten ein ausreichendes Gewicht haben, um sich für die „Werte Gottes, des Landes und der Familie“ einzusetzen. „Wir glauben nicht an Supranationalität, aber wir glauben an die Zusammenarbeit zwischen den nationalen Konservativen verschiedener Länder“, erklärte der Direktor des Zentrums, Miklós Szánthó. Auch in Kroatien und der Slowakei sind Ordo Iuris Denkfabriken bereits aktiv. Es scheint als würde man in Ost- und Zentraleuropa Fahrt aufnehmen.
Urszula Grycuk und ihre Kolleg*innen werden sich weiter gegen diese reaktionären Ideen und Initiativen einsetzen und Aufklärungsarbeit leisten. „Wir müssen uns fragen, ob wir in einer Gesellschaft voller Heuchelei und sozialer Ungleichheit leben möchten und alles in unserer Macht stehende tun, um diese Manipulation zu bekämpfen“, sagt sie. „Organisationen wie unsere sollten über mehr Ressourcen verfügen, um internationale Koalitionen zu bilden und sich gegenseitig informieren zu können. Wir sind zu klein, um angemessen gegen finanziell starke und international vernetzte Akteure wie Ordo Iuris vorzugehen. Niemand von uns möchte zurück ins Mittelalter, in das Ordo Iuris uns entführen will. Dennoch versucht man direkt vor unseren Augen, unsere grundlegenden Menschenrechte zu stehlen. Und das Schlimmste dabei: Es scheint einen Teil der Gesellschaft nicht zu stören.“
Erosion der Demokratie
Organisationen wie Ordo Iuris, die transnational vernetzt im Rahmen der Anti-Gender-Bewegung in Europa agieren, können bereits einige erfolgreiche Initiativen vorweisen. Dazu zählen: das De-facto-Abtreibungsverbot in Polen; die Ablehnung der Ratifizierung der Instanbul- Konvention in Bulgarien und der Slowakei oder die Abschaffung der Gender-Studies an ungarischen Universitäten durch die Orbán-Regierung. Nicht alle dieser reaktionären Initiativen haben Einfluss auf die EU-Politik und sind erfolgreich. Ihr Aktivismus trägt jedoch dazu bei, ein Klima der Angst und des Hasses zu schaffen, in dem komplizierte Themen nicht als Teil eines fairen, öffentlichen Diskurses behandelt, sondern auf „Pro“- und „Contra“ Positionen reduziert werden. Die Soziologin Franziska Schutzbach sieht zudem Antifeminismus und Anti-Gender als eine Art zentrale Chiffre, mit der rechte Positionen in verschiedenen politischen Milieus gesellschaftsfähig werden: „Denn die Ablehnung von Feminismus oder Gender erscheint auf Anhieb nicht – wie etwa Fremdenfeindlichkeit oder plumper Nationalismus – eindeutig rechts. Etwas salopp gesagt: Mittels Antifeminismus und Anti-Gender lassen sich beispielsweise demokratische Prämissen wie Egalität delegitimieren, ohne 'Ausländer-raus-Parolen' zu bemühen.“
Der Erfolg von Ordo Iuris, sich innerhalb weniger Jahre einen Platz auf Augenhöhe im Kreise der ideologisch kompatiblen politischen Eliten zu erarbeiten, ist ein Signal für den Rest des reaktionären, europaweiten Netzwerks. Dieser Erfolg könnte sich in anderen Ländern, in denen das Machtgefüge der konservativen Kräfte groß genug ist, ähnlich entwicklen. Die Intransparenz der finanziellen Quellen ist deshalb ein Thema, das dringend auf den Tisch gehört, aber auch die Rolle der Kirche in diesem ideologischem Feldzug, sollte genauer beleuchtet werden. Die zunehmende Vernetzung von konservativen Milieus mit rechtsextremen oder illiberalen Bewegungen und Parteien in Europa sieht Neil Datta als ernstzunehmendes Problem: „Wir erleben die Erosion der Demokratie von innen durch Gruppen in der Zivilgesellschaft und politische Parteien, die die Grundlagen des internationalen Menschenrechts nicht teilen. Unsere Systeme sind für eine solche interne Bedrohung nicht gerüstet.“
In der Zielna-Straße 39, wo Ende 2020 Tausende Menschen vor dem Hauptsitz von Ordo Iuris ihren heftigen Protest zum Ausdruck brachten, ist heute wieder Ruhe eingekehrt. Protestkundgebungen gibt es zwar noch, aber an anderen Orten und die Intensität ist nicht mehr die gleiche. Das Haus, in dem der ultrakonservative Thinktank Einzug gehalten hat, ist ein geschichtsträchtiger Ort. Eine kleine, am Gebäude angebrachte Steintafel erinnert daran. Während des Warschauer Aufstands im Jahr 1944 wurde der Bau zu einem Ort heftiger Kämpfe. Das Symbol der polnischen Widerstandsbewegung im zweiten Weltkrieg, der sechs Meter hohe und vier Meter breite, vergoldete P-Anker, mit den Buchstaben P und W für Polska Walcząca („Kämpfendes Polen“) ziert heute das Dach des Gebäudes. Vergleiche mit der Situation von damals sind nicht zulässig, aber der Kampf um die Freiheit scheint erneut hier, in der Zielna 39, für viele Pol*innen einen nicht nur symbolischen, sondern einen durchaus realen Austragungsort gefunden zu haben.
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