Heimat ist kein Ort, es ist ein Gefühl

Lebenswelt Internet Immer mehr verschmilzt die digitale und analoge Welt. Wir sind als Gesellschaft mittendrin und sollten deshalb für Gestaltung und Kontrolle sorgen

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Heimat ist kein Ort, es ist ein Gefühl

Foto: Hannah Wei/Unsplash

Eine Woche lang sorgte ein Programmierfehler beim Online-Fantasy-Rollenspiel World of Warcraft im Jahr 2005 für Chaos. Ein Fluch namens „Corrupted Blood“, bei dem die Spielfiguren in regelmäßigen Abständen Schaden erlitten, bis sie letztlich starben, sorgte aufgrund eines Bugs im Programm dafür, dass seine virtuelle Ausbreitung auf die übrigen Onlinecharaktere, also auf damals weltweit rund 2 Mio. aktive Spieler*innen, nicht gestoppt werden konnte. Die Welt des Onlinespiels war plötzlich mit virtuellen Leichen übersät. Die restlichen Spieler reagierten sehr unterschiedlich auf die unbeabsichtigte Pandemie. Manche Nutzer versuchten, sich in entlegene Orte der Spielwelt zu retten, andere wollten mit rettenden Heilzaubern helfen. Das führte allerdings dazu, dass sich die Seuche nur noch weiter verbreitete. Wiederum andere Spieler suchten absichtlich das Risikogebiet auf, um einen gewissen „Kick“ zu erfahren. Der Hersteller musste letztlich das gesamte Spiel zurücksetzen, um das Virus zu besiegen. Heute helfen die wissenschaftlichen Erkenntnisse aus diesem Zwischenfall bei der Erklärung menschlichen Verhaltens während der Covid 19 Pandemie. Das, was 2005 in einer virtuellen Welt passierte, wurde 2020 in einer ähnlichen Form Realität. Auch wenn die beiden Ereignisse nicht mehr als purer Zufall verbindet, ist die real wachsende Verflechtung der digitalen und analogen Welt nicht aufzuhalten.

Kulturpessimismus bringt uns nicht weiter

Schon seit Jahren fordert Journalist und Buchautor Dirk von Gehlen die Schaffung einer „Internetstraße“, so wie es in jeder Stadt eine Post- oder Schulstraße gibt. Schon allein deshalb, um damit dem weit verbreitetem Kulturpessimismus und der Ablehnung des Neuen augenzwinkernd eins auszuwischen. Die Möglichkeit sich mit anderen über Sprach- und Ländergrenzen hinweg zu verbinden, zu lachen und Gemeinsamkeiten feststellen zu können, ist für den Autor eine besonders wertvolle Eigenschaft der Internet-Infrastruktur, dessen einzigartiger Charakter gern vergessen wird. Obwohl die Ära des mainstreamartigen World Wide Web bereits seit über zwei Jahrzehnten andauert, viele damit verbundene Hoffnungen in der Zwischenzeit von der Realität eingeholt wurden und neue Gefahren Einzug hielten, verzichtet Dirk von Gehlen gern auf das Lesen kulturpessimistischer Texte zum Thema Internet. Diese bringen nämlich niemanden weiter. Vielmehr interessiert ihn, welchen gesellschaftlichen Fortschritt wir mit dem Internet noch stimulieren können. Dirk von Gehlen plädiert dafür, nicht aus den zu Augen verlieren, um welche Mengen an tollen Ideen, Gestaltungsmöglichkeiten und Anwendungen wir heute ärmer wären und dass wir das, was uns das Netz ermöglicht, nicht nur entsprechend wertschätzen, aber auch schützen. Gerade jetzt, in der Corona-Krise, hat sich die enorm wichtige Rolle des Internets für die globale Gesellschaft neuerlich mehr als bestätigt.

Gefährliche Entwicklungen unter die Lupe nehmen

Es reicht ein kurzes Eintauchen in die Welt des Internet und man stellt fest, dass dieser positive und idealistische Blick, so unheimlich wichtig und notwendig er auch ist, insbesondere auf der Ebene der Information und Kommunikation in den sozialen Netzwerken, konkreten Handlungen weichen sollte. Die „Gesprächskultur“ auf Twitter, Facebook und Co lässt die letzte, chaotische Wahlkampf-Debatte zwischen Biden und Trump im amerikanischen Fernsehen, wie ein englisches Teekränzchen aussehen. Natürlich sind Social Media Kanäle der letzte Ort, für politische Meinungsbildung, doch diversen Studien zufolge informiert sich ein relativ großer Teil der jungen Leute gerade hier über das aktuelle Geschehen. Desinformation, Hate-Speech, Polarisierung durch Filterblasen und somit fragmentierten Zugang zu Information und nicht zuletzt die Belohnung von emotionalisierten, extremen Inhalten durch die Algorithmen in den sozialen Medien, führen zu einer erheblichen Manipulation und Verzerrung der Realität. Die Demokratie-gefährdende Wirkung dieser Entwicklungen betrifft Menschen aller Altersgruppen, im besonderen Maße aber die junge Generation, die in den sozialen Netzwerken praktisch aufwächst. Dabei darf nicht ausgeklammert werden, wie unterschiedlich Vermittlung von Medienkompetenz und Medienpädagogik an Schulen in den einzelnen Ländern gewichtet wird. Ebenso stellen sich folgende Fragen: Welchen Einfluss hat die Medienlandschaft des jeweiligen Landes auf die politische Wahrnehmung und Meinungsbildung der Jugend? Sind staatlich geförderte Gestaltungsprojekte und Initiativen zur Förderung des Pluralismus und der demokratischen Meinungsbildungsprozesse in Ländern wie Ungarn und Polen noch realisierbar bzw. wie lange noch? Wie kann hier zivilgesellschaftliches Engagement gefördert werden?

Internet als gelebtes Multi-Kulti

Für die Gestaltung des digitalen Umfelds als Informations- und Debattenraum, sollten also nationale, europäische und weltweite Rahmenbedingungen ins Blickfeld geraten. Idealerweise sollte sich Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft kontinuierlich darüber verständigen, welche Leitbilder sie für die Entwicklung der digitalen Gesellschaft zugrunde legen will. Doch wir sollten nicht nur darüber reden, wie unsere Demokratie gestärkt, sondern wie die Demokratie in anderen Ländern der EU geschützt werden kann, siehe Entwicklungen in Polen und Ungarn und die Verwässerung des angekündigten Rechtstaatmechanismus.

Es ist schon zynisch, dass gerade die Rechte es versteht, das Netz für sich zu nutzen. Was bei der letzten Trump vs. Biden Debatte so plakativ sichtbar wurde, nämlich das sog. Derailing, also Entgleisung der Konfrontation durch nicht Beantworten von Fragen, ständigen Themenwechsel, Desinformation und Angriffe, lässt sich auf die Gesamtstrategie rechter Trollarmeen und Desinformationskampagnen im Netz übertragen. Dabei ist Internet eigentlich ein Ort, meint Dirk von Gehlen, den Nationalisten meiden sollten, denn es ist gelebtes Multi-Kulti. Dem Internet als Infrastruktur liegt eine Idee zu Grunde, in der die Kategorie der Hautfarbe, des Geschlechts, des Glaubens, der Nation etc. völlig egal ist, seine Aufgabe ist, über alle Grenzen hinweg zu verbinden. Wenn wir uns diesen Gedanken klarer vor Augen führten, nämlich dass die Infrastruktur Internet nur deshalb funktioniert, weil wir Nationalismen hinter uns gelassen haben, wären die Nationalisten im Web nicht eine besonders absurde Erscheinung? Noch absurder erscheinen nationalistische und rechtsextreme Ideen, wenn man sie im Kontext solcher Projekte wie Folding@home betrachtet, bei dem mehrere Millionen Menschen aus der ganzen Welt die ungenutzte Rechenkraft ihrer Computer spenden, um die Erforschung von Krankheiten wie Alzheimer, Krebs oder Covid-19 voranzubringen. Die Corona-Pandemie hat die Zahl der freiwilligen Mitrechner explodieren lassen und die Leistungskraft auf mehr als die Summe der sieben besten Supercomputer der Welt ansteigen lassen. Ohne die Überwindung des nationalen Denkens, wären solche Projekte niemals möglich.

Heimat braucht Brauchtums- und Gemeinschaftspflege

Für alle die ein Gefühl von Bindung und Heimat haben, ohne es an einen physischen Ort zu knüpfen, richtet sich Dirk von Gehlens Idee des Heimatverein Internet. Für ihn ist Heimat kein Ort, es ist ein Grundgefühl das im Plural existieren kann. Nicht zuletzt geht es auch darum, den Begriff „Heimat“ neu zu definieren. Genauer betrachtet wächst bereits die Millenials-Generation in diesem Grundgefühl auf, sie kennt keine Welt ohne das grenzenlose Internet. Für diese jungen Menschen, ist die Verflechtung der analogen und digitalen Welt von Kindesbeinen an, gelebte Normalität und jeder Versuch einer Trennung dieser zwei Welten ist zum Scheitern verurteilt. Es wäre auch für die meisten eine große Herausforderung, den Alltag ohne digitale Medien zu meistern. Der Durchschnittsteenager wirft bereits nach dem Aufwachen, als Teil der Morgenroutine, einen kurzen Blick auf die Status-Updates seines Smartphones. Nach der Schule trifft sich die Peergroup auf Live - Streaming oder Gaming - Plattformen wo zusammen geplaudert, kommentiert und gespielt wird. Die jungen Leute schätzen es sehr, sich im Netz mit Gleichaltrigen und Gleichgesinnten zu vernetzen und sie finden es wichtig, Teil einer Community zu sein. Doch die Community, basiert nicht wie früher, zwingend auf räumlicher Nähe. Ein „Heimatverein Internet“ für ein bisschen Brauchtums- und Gemeinschaftspflege, könnte als das erste Gebäude in der virtuellen „Internetstraße“ eines jeden virtuellen Dorfes entstehen, das weiter wachsen und gestaltet werden will. Dieser Gestaltungsgedanke gehört – nicht nur unter den Jugendlichen - stark gefördert, denn wir alle sind längst Bewohner dieser virtuellen Welt. Es wäre kurzsichtig nur unsere Wohnzimmer, nicht aber auch das Hausumfeld so einzurichten, dass wir uns auch in Zukunft hier wohl fühlen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden