OZEAN OHNE WIEDERKEHR

Langlebigkeit. Buchkritik zu "Horcynus Orca" von Stefano D'Arrigo

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Manche Bücher sind "Werke". Das klingt antiquiert. Kaum vorstellbar. Und doch kommt so etwas vor: Bücher, die uns ahnen lassen, wie schwer es ist, die einfachsten Dinge zu verstehen. Doch gerade darin besteht ihre Leistung: Gebilde, die uns zeigen, wie es ist. Will sagen: Wie sich das Phänomen von sich her zeigt. Eine unzeitgemäße Ästhetik.

Nehmen wir etwa die ungeheure Idee der Langlebigkeit. Etwas, das man fast körperlich verstehen muss. Der unnachahmliche Harold Brodkey sagte einmal: "Verstehen heißt zittern". Soll heißen: Hermeneutik strengt gewaltig an - nicht nur kognitiv, sondern vor allem affektiv.

Die Lektüre von "Horcynus Orca" strengt schon allein wegen seines beachtlichen Umfanges an - 1454 pergamentdünne Seiten. Doch nicht nur der epische Gehalt, dessen Lebenshauch dem Leser unter die Haut geht, erfordert ein gewisses Maß an Sportsgeist. Vor allem die Zumutung einer lebenslangen Beständigkeit eines Textes könnte einem den Nerv rauben.

Sagen wir so: Wer könnte zehn Gegenstände nennen, denen er eine lebenslange Haltbarkeit zusprechen würde? Und wie viele Bücher erst könnte man aufzählen? Ach Bücher, wird man sagen. Bücher sind ein Zeitvertreib, amüsant, interessant, spannend sollten sie sein und hoffentlich stehlen sie nicht allzu viel Zeit. Ach Bücher!

Ist es also nicht pervers, wenn man an einem Buch fast zwanzig Jahre lang arbeitet, wie Stefano D'Arrigo einst an diesem Opus magnus? Und ist es nicht nahezu ungehörig, wenn man erwartet, dass der Leser ebenfalls viele Jahre mit diesem Ungeheuer zubringen soll? Ganz und gar unmöglich in unserer Zeit. Und doch: Es wäre die einzig adäquate Verhaltensweise im Umgang mit diesem Buch.

Dieser Roman war nicht verschollen, aber lange Zeit im Bewusstsein der literarischen Öffentlichkeit in Vergessenheit geraten. Jetzt wird er wiederentdeckt und in die großen, die allergrößten Reihen der Literatur gestellt. Bedeutende Namen werden genannt. Wie immer, wenn es um das Allerheiligste der Literatur geht. Jetzt hört man allerorten: "Horcynus Orca"? Ein Meisterwerk! Genial! Geniestreich! Jahrhundertroman!

Man stelle sich das vor: Ein Buch fürs Leben. Im Ernst: Wenn man solche Sätze, normativ aufgeladen bis zum Platzen, ernst nähme, wo kämen wir denn hin! Für viele ist das Buch ihres Lebens irgendeine mittelmäßige Schmonzette. Wenn überhaupt! Superlative dieser Art sind keine ernstzunehmenden Kriterien mehr. Könnte man meinen. Wohl deshalb, weil sie weit zurückführen in die wahren Zeiten des Buches, dieses so aufstörend langsamen Mediums. Würde man sorgfältig, Satz für Satz, dieses Werk durcharbeiten, so würde man zweifellos ein halbes Leben benötigen. Der Leser müsste ozeanisch viele Sätze differenziert kommentieren und ozeanisch viele Assoziationen herstellen. Ein maritimes Fass ohne Boden. Ein Lebensbuch, das aus der Zeit gefallen ist.

Stefano D'Arrigo wurde 1919 auf Sizilien geboren, nahe der berühmten Meerenge von Messina, ein zentraler Ort auch in seinem Epos. Er arbeitete während seines Studiums über den genialsten deutschen Dichter, Friedrich Hölderlin. Nach dem Krieg lebte er bis zu seinem Tod in Rom. Die Korrekturen der Fahnen seines Romans nahmen 14 Jahre in Anspruch. Als der Text endlich erschien, 1975, waren fast zwanzig Jahre nach der ersten Niederschrift vergangen.

D'Arrigo sprengt mit diesem Roman viele Grenzen. Vor allem die der Fantasie. Nicht zu erwähnen die aufstörende Schönheit seiner Sprache. Man könnte auf die Knie fallen vor der Übersetzung von Moshe Kahn. Etwas durch und durch Atavistisches, dieses Sprachkunstwerk, furchteinflößend und fast nicht von dieser Welt. Etwas, das nichts zu tun hat mit dem Beschleunigungskult unserer Zeit. Man stelle sich dazu ein Gedicht vor, das aus 1454 eng beschriebenen Seiten besteht. Noch dazu ein hermetisches Gedicht, das Wort für Wort zu entziffern ist. Das beachtliche Schätze birgt. Ein dunkel strahlendes Juwel.

D'Arrigo, dieser unfassbare Dichter, entwickelt neue Begriffe in neuen Sprachen: "Pellisquadre" sind Fischer oder "Arkelamekk" steht für das Dämonische und Opake. In dieser hermeneutischen Odyssee irrt der Leser durch Wogen und Wellen eines unruhigen Sprachozeanes. Ungezähmt modern, nie modernistisch. Fabelhaft formuliert, niemals artifiziell. Als der Held, 'Ndrja Cambira, versucht, nach dem verheerenden Weltenbrand, von Kalabrien aus, über die Meerenge von Messina, vor den Briten flüchtend, sein Dorf auf Sizilien zu erreichen, begegnen ihm Feminotinnen, mythische Frauenwesen, die alles und nichts schmuggeln und ohne Heimat durch die Lande ziehen oder Feren, blutrünstige Delfine sowie, vor allem, der Weltenvernichter, Herz der sprachmaritimen Finsternis: "Horcynus Orca", zoologisch korrekt, aber das wäre schon ein anderes Wesen: der Schwertwal, "Orcinus Orca".

Nichts wäre vermessener, als das Bildermeer des großen D'Arrigo entziffern zu wollen, ein literarischer Frevel wäre es, dem wir nicht stattgeben wollen. Wie der Held seinen ozeanischen Tod findet und die Welt ihre letzte Metamorphose in der fleischgewordenen Geistigkeit eines Seeungeheuers erlebt und damit zu einem offenen Geheimnis unter Wasser wird - das muss vom Leser, dem Schwimmer und Taucher in diesem Sprachozean, selbst erschwommen und ertaucht werden: Ohne jede Garantie auf Erlösung. Ohne jede Garantie auf Trost.

"Dieser Artikel erschien zuletzt am 30.04.2o15 auf KULTURA-EXTRA."

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Geschrieben von

Jo Balle

Journalist und Autor

Jo Balle

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