Früher stand hier ihr Werk, für den Künstler spielen die Arbeiter*innen ihre damaligen Abläufe nach
Video Still: Tobias Zielony, Wolfen, 2022/KOW Berlin
Industriefotografie zeigt im Auftrag abgebildete Fabriken, Werbefotografie die darin hergestellten Produkte. Doch sind die von Unternehmen (West) und Staat (Ost) in Auftrag gegebenen Bilder nicht Dauerwerbeschleifen für Rheinischen Kapitalismus oder technokratisches Staatsverständnis? So jedenfalls fühlt es sich an beim Besuch der penibel in Ost und West getrennten Ausstellung Fortschritt als Versprechen. Industriefotografie im geteilten Deutschland im Deutschen Historischen Museum (DHM) in Berlin.
Schon gut 20 Jahre nach Erfindung der Fotografie stellte Alfred Krupp Werksfotografen an. 1861 „bildete sich ein Motivrepertoire heraus, das die Industriefotografie auch in den folgenden Jahrzehnten auszeichnen sollte: Fabrikanlagen, Verwaltungsgebäude, Maschinen, teilwe
, Maschinen, teilweise mit Menschen in typischen arrangierten Haltungen, Produkte sowie soziale Einrichtungen“, erläutern Thomas Dupke und Stefanie Grebe im Katalog. Zu sehen waren allerdings nicht glühende Schmiederohlinge, sondern ein mit Kalkfarbe bestrichenes kaltes Eisen, um den gewünschten Effekt in sonntäglich leergefegter Halle zu simulieren, „weil die Werktage zu viel Rauch, Dampf und Unruhe mit sich führen, auch der Verlust zu groß wäre“, erklärte der Fabrikant.Lücke von 100 JahrenWenn im Vorwort Direktor Raphael Gross schreibt, „im Zentrum stehen nun keine Personen, sondern Industriezweige, die seit dem 19. Jahrhundert zu den treibenden Kräften in Deutschland zählen“, und dafür Kohle-, Stahl-, Chemie-, Textil- oder auch Automobilindustrie herangezogen werden als Kernindustrien des vorvergangenen Jahrhunderts, fehlen zentrale Bereiche von Nachkriegsdeutschland wie Maschinenbau oder Mikroelektronik. Hier klafft eine konzeptuelle Lücke von über 100 Jahren. Und während sich die unabhängig kuratierte Filmreihe unter dem gleichen Dach die Freiheit nimmt, politischen wie ästhetischen Brüchen im Bild der Industrie nachzugehen, bleibt bei der Schau ohne Quellenkritik viel heißer Dampf.Selbstverständlich kann eine einzelne Ausstellung mit ihren zu den Abzügen ausgebreiteten Werbezeitschriften, Bildbänden, Kontaktbögen, Geschäftsberichten, Mappen und Archivtaschen nicht alles abdecken. Aber es fehlt die Thematisierung der Grenzziehungen und Auslassungen. Martin Schmidts groß aufgezogener Aufnahme einer mosambikanischen Vertragsarbeiterin in der VEB Baumwollspinnerei Flöha steht das weite Feld der konfliktträchtigen Gastarbeit blank gegenüber. Fragen von Raumpolitiken, Überwachung, nachklingenden Bild-Politiken des Nationalsozialismus, von Logistik, Produktionsverhältnissen, Ökologie, Unfällen oder Widerstand sind allenfalls im Katalog zu finden. Nachträglich wurden immerhin noch einige Themenführungen zu Fragen von Geschlecht, Umwelt oder Arbeitskämpfen hinzugestellt.Die Ausstellung endet mit einer Aufnahme des künstlerischen Fotografen Timm Rautert. Die Aufnahme eines Reinraums bei Siemens, eine Auftragsarbeit, stammt aus der Serie Gehäuse des Unsichtbaren von 1992. „In dieser Sphäre des Algorithmus, die durch keine Kunst jemals ‚physiognomisch‘ werden kann“, bemerkte Hartmut Böhme damals, sei „der Fotoblick ... der blinde Blick auf das Unsichtbare“. Insgesamt fehlt also eine angemessene Form der Medien- und Ideologiekritik, wie sie zeitgenössische Fotografen von Allan Sekula und Armin Linke bis hin zu Rauterts Schüler Tobias Zielony anbieten.Auf den Ruinen getanztDem auch im DHM präsenten VEB Fotochemisches Kombinat Wolfen und seinem weltweit vertriebenen Markenprodukt ORWO widmete der Fotokünstler Tobias Zielony jüngst eine installative Videoarbeit. Erstmals gezeigt wurde sie letzten Sommer beim OSTEN-Festival in Bitterfeld sowie in Hamburg, gerade ist sie im Museum Marta Herford und im Kunst Haus Wien zu Gast. ORWO ist nach der Wende eingegangen, da Westdeutschland 1990 die Marktbedingungen zerschlagen hatte, aber auch, weil die Filmstadt zu lang dem chemischen Produkt verhaftet blieb, während die digitale Fotografie explodierte.Zielonys Installation Wolfen besteht aus einer Videodoppelprojektion mit dokumentarischen Bildern, historischen Dokumenten, filmischen Performance-Sequenzen und viel Text und wird begleitet von zwei Vitrinen mit Filmrolle, Box und Verpackung aktueller Archivfilme sowie einigen Abzügen daraus. In die Videobilder gestreute Farbnotizen wirken wie vertraute Zielony-Aufnahmen gelebter Unwelten. Dazu montiert er archivarische Notrettungen des Materials Film aus dem Museum in Wolfen – also das, was nach der Zerschlagung von Industrien greifbar noch übrig blieb außer der Kontamination in Böden und Menschen.Seine apokalyptische Lichtbild-Arbeit erschöpft sich nicht in der Nostalgie alter Arbeitswelten, sondern räsoniert „von der Sonne und dem Licht, das sie aussendet. Von Rohstoffen und der kurzen Utopie einer verschwundenen Klasse: Arbeiter und Arbeiterinnen“. Die verlassene Erde ist ausgelaugt durch maßlosen Konsum des Carbons, das in langen Zeiträumen aus Pflanzen entstand und dann von Bergarbeitern geschürft wurde: „Das Sonnenlicht, Urwälder, Dinosaurier, Öl, Kohle. Komprimiert in immer schwärzeren Massen.“Die Hamburger Ausstellung Mining Photography. Der ökologische Fußabdruck der Bildproduktion, von Boaz Levin und Esther Ruelfs schlau kuratiert und nun in Wien zu Gast, in der auch Zielonys Wolfen zu sehen ist, spricht deshalb vom enormen Verbrauch an Ressourcen wie Baumwolle, Teer oder Kupfer, den das Medium Fotografie bislang schon hatte. Die Knochen für ORWOs Gelatine stammten von indischen Kühen. Silber war so wertvoll, dass der Mythos vom „Silbersee“ in Bitterfeld bei Wolfen nur insofern wahr ist, als dieser durch die Zellstoffproduktion verseucht wurde, während das rare Silber recycelt werden musste. Doch auch die nachfolgende Elektronik verbraucht Unmengen von Lithium und Energie zur Herstellung und zum Betrieb von Hard- und Software.Bei seinen Recherchen in Wolfen besuchte Zielony eine grell erleuchtete Tankstelle, so wie früher nach der Wende, als er dort Jugendliche traf, die dort auf ein letztes Getränk abhingen. Und erkennt die aussterbenden Echsen von morgen: „Kurz stelle ich mir vor, unter dem Asphalt schwelt ein Feuer.“ Die Hölle bricht auf, das Fegefeuer des Fortschritts als Verbrechen fegt die Menschheit hinweg. „Solange es Licht gibt, gibt es auch Bilder.“ Doch die Herstellung des Films erfordert absolute Dunkelheit. „Wenn man gefragt wurde: ‚Siehst du das denn nicht?‘, haben wir gesagt: ‚Nee.‘ Wir haben’s nicht gesehen. Aber wenn man den ganzen Tag drinnen war, dann ging das“, erzählen die wenigen verbliebenen Frauen von ORWO. Und spielen gemeinsam mit Jüngeren bei Tageslicht den gefühlten Raum ihrer Tätigkeit vor der ruckelnden Kamera nach. Es scheint, als gäben sie der nächsten Generation etwas mit auf den Weg.Zielonys durchlaufender Kommentartext wechselt zwischen poetischer Dystopie und dokumentierten Erinnerungen. Der Rasen, auf dem die Frauen tänzelnd ihre alten Tätigkeiten vorführen wie Scherenschleifer im Heimatmuseum, bedeckt in Wirklichkeit die Ruinen ihres alten Werks. Wo früher bis zu 15.000 Menschen im Werk arbeiteten, produzieren gerade noch 20 Frauen Archiv-Filme für die Ewigkeit.Dieses in QR-Codes digital aufgeladene Material soll 1.000 Jahre halten und trägt auf den ersten 100 schwarz-weißen Seiten zur Sicherheit seine Gebrauchsanweisung in sich – in einem für den Menschen lesbaren Format. Informiert wird auch darüber, „wie man ein eigenes Lesegerät oder einen eigenen Scanner herstellen kann oder wie man die Daten aufzeichnen lassen kann, wenn es diesen nicht gibt“, ergänzt der Künstler und hat seine Buchpublikation auf fadenscheiniges Papier und im Hochformat des Archiv-Rollfilms drucken lassen. Die Videoarbeit und seine Überlegungen wiederum sind im vom Wolfener Unternehmen Filmotec produzierten Dokumenten-Film eingebettet.Der Berliner Künstler geht also noch einen Schritt weiter in die Dunkelkammer des Post-Humanen: „Das ist eine Geschichte für die Zukunft. Für die Aliens, für die Replikanten, für die Überlebenden der kommenden Krisen“ – Nachrichten für den Weltenraum, ausgesandt wie eine Flaschenpost der letzten Generation. „Ein Bericht ins Dunkle geschrieben“, heißt es hierzu. Sozusagen gegen die Gebrauchsanleitung versuchte Zielony, aus dem digital aufzeichnenden Daten-Dokumentationsfilm fotografisch-analoge Aufnahmen bei ewiger Belichtungszeit herauszukitzeln. Die sind eher verwaschen, unscharf, falsch belichtet und im klassischen Sinne unbefriedigend. Auch darin erzählt Zielony vom Material, im Material.Künstlerische Ausstellungen nehmen gerne historische Dokumente auf, um Geschichte komplex zu gestalten; historische Museen hingegen scheuen künstlerische Perspektiven weitgehend. So wirft eine kompakte Arbeit von Tobias Zielony mehr Fortschrittszweifel auf als zwei Etagen im Deutschen Historischen Museum. Diese außergewöhnliche Arbeit, auf den Ruinen einer verlorenen Republik getanzt, könnte auf außerirdisches Leben warten.Placeholder infobox-1
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