Von einer Vorentscheidung für die Berliner Wahl am 10. Oktober will die schockierte SPD nicht sprechen. Doch ungeachtet der geringen Wahlbeteiligung klärt die Europawahl recht genau die Kräfteverhältnisse. CDU 35,0 Prozent, SPD 27,7, PDS 16,7 und Grüne 12,5: das liegt im Trend aller Berliner Meinungsumfragen in den letzten Wochen. Der Chef des Meinungsforschungsinstituts »Forsa«, Manfred Güllner, macht der SPD keine Hoffnung auf Änderung. Die Erfahrung zeige, daß die CDU zur Abgeordnetenhauswahl mehr zusätzliche Wähler mobilisieren könne als die SPD. »Die CDU wird am 10. Oktober gegenüber der Europawahl deutlich zulegen, die SPD kaum. Die Berliner SPD hat im Unterschied zur Bundespartei einen sehr schlechten Ruf. Bei der CDU ist es genau umgekehrt,« erläutert Güllner die demoskopischen Fakten.
Dieser Nimbus der Berliner CDU ist ein schwer begreifliches Phänomen. Der Regierende Bürgermeister Diepgen genießt traditionell das Vertrauen der Mehrheit der Berliner, obwohl niemand glaubt, daß der »blasse Eberhard« je einen eigenen, klugen Gedanken gehabt hat. Sein Steuermann Lan dowsky wirft nicht nur bei eingefleischten Gegnern die Frage auf: Würden Sie von diesem Mann einen Gebrauchtwagen kaufen? Die ganze Führungsclique der CDU umweht der Geruch von Westberliner Provinzialität und Korruption. Auch neun Jahre nach der Vereinigung traut man der CDU nichts anderes zu, als weiterhin auf dem Klavier des Staatskapitalismus zu spielen, der einst das Überleben der Inselstadt Westberlin ermöglichte.
Westberliner Stamokap bedeutete, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur aus Bundesmitteln zu subventionieren und den öffentlichen Dienst auf westdeutsche Kosten als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme zu benutzen. Auf diesem Fundament errichteten Diepgen und Landowsky ihre »liberale Großstadtpartei« als Bündnis der von Staatsgeldern abhängigen Gewerbetreibenden, Kulturschaffenden und öffentlich Bediensteten. Dieses Spiel spielen sie bis heute ungerührt weiter. Immer wenn die SPD-Finanzsenatorin auf die Löcher im Haushalt verweist, kritisiert Landowsky, daß die tolle Hauptsadt kaputtgespart werde, und fordert mehr Geld aus Bonn. Am Ende beschließt die Große Koalition zwar einmütig alle Grausamkeiten. Aber während der Streitereien, die die CDU auf dem Weg zum unvermeidlichen Beschluß inszeniert, steht die SPD als Knäckebrotverkäuferin da, während die CDU »Schokoladenpudding« verteilt, wie der SPD-Fraktionsvositzende Böger wütend und hilflos bemerkte.
Unlängst verkündeten ÖTV und DAG, Momper sei für Arbeitnehmer nicht wählbar, weil er Privatisierungen und Reformen im öffentlichen Dienst befürwortet. Die sozialdemokratischen Modernisierer verprellen die »kleinen Leute«, ohne bei der neuen Mittelschicht ernst genommen zu werden. Die Bindungen der SPD an die Tradition der Arbeiterbewegung und die Gewerkschaften lösen sich auf, ohne daß neue Verbindungen entstehen. Die christdemokratischen Virtuosen der Westberliner Vergangenheit, die schon in alten Zeiten mit den Belegschaftsvertretern der Stadtreinigung im legendären »Hähnel-Eck« zusammengesessen haben, wissen das zu nutzen. Noch ist das Netzwerk Westberliner Interessen, Verbände und Personen intakt und verteidigt quer durch alle Schichten seine Besitzstände mit Zähnen und Klauen. Und solange es da noch etwas zu verteidigen gibt, sind Landowsky und Diepgen politisch obenauf. Starke 43,1 Prozent im Westen und vernachlässigenswerte 20,1 Prozent im Osten sprechen eine deutliche Sprache.
Die CDU-Oberen wissen, daß ihre Basis langfristig auf verlorenem Posten kämpft. Aber fürs erste haben sie sich recht zufrieden im Westberliner Ghetto eingerichtet. Nach der Europawahl verwies Landowsky stolz auf den »Riesenerfolg« im Westen. Für das Desaster im Osten hatte er eine kühle Vision parat: »Die nächste Generation an Christdemokraten muß den Osten für die Union gewinnen.« Was schert ihn die Zukunft, wenn aktuell nur ein Ziel zählt: ein Drittel der Stimmen einfahren und damit verhindern, daß die SPD stärkste Partei wird und eine Minderheitsregierung oder andersfarbige Koalition bilden kann. Solange der vergangenheitsfixierte Kampf im Westen den Christdemokraten solche Ergebnisse garantiert, bleibt die CDU an der Regierung.
Unter den besonderen Bedingungen des Berliner Parteiensystems erweist sich die Zukunftsschwäche der CDU als relative Stärke in der Gegenwart. Die soziokulturelle Spaltung der Stadt, zwei verschiedene Parteiensysteme in Ost und West, die PDS als führende Kraft im Osten, die Bündnisgrünen als starke Opposition im Westen, insgesamt 30 Prozent der Stimmen links von der SPD: das alles läßt keine der gewohnten Regierungsalternativen zur Großen Koalition zu. An der Nahtstelle von Ost und West ist die westdeutsche Alternative Rot-Grün ebensowenig eine strategische Perspektive wie die Regierungskonstellation aus SPD und PDS in einigen ostdeutschen Ländern. Für einen kurzen Zufallsaugenblick unmittelbar nach der Bundestagswahl hätte Rot-Grün die Gunst der Stunde nutzen können. Doch die SPD mißtraute der Tragfähigkeit kurzlebiger Stimmungen und ließ die Gelegenheit verstreichen. Die Bündnisgrünen drängten vergebens auf Neuwahlen. Jetzt ist alles wie gehabt. Der Machtkampf in der Großen Koalition scheint entschieden.
Besondere Umstände verlangen besondere Lösungen. Kreativität ist hier gefragt. Für eine SPD Minderheitsregierung, die sich ihre Mehrheiten im Parlament von Fall zu Fall sucht, müßte die SPD erst mal stärkste Partei werden. Eine Konstellation aus SPD, PDS und Grünen ist seit langem mehrheitsfähig. Sie seit Jahren zu blockieren, anstatt die nötigen Bedingungen präzise zu formulieren und wechselseitig zu erfüllen, ist von allen Beteiligten verantwortungslos. Vielleicht könnte es auch nicht schaden, sich in Ländern mit ähnlichen Blockaden umzusehen und von dem einst in Italien installierten flügelübergreifenden Kabinett unter Prodi zu lernen. Denn die hoffnungslos zerstrittene Große Koalition, die vor neun Jahren unter dem Signum einer Koalition der Vernunft angetreten war und jetzt wohl weitermachen muß, ist längst nicht mehr die vernünftigste Lösung für Berlin.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.