Wer von den Linden in die Neustädtische Kirchstraße abbiegt, stößt auf Hamburger Gitter, Panzerwagen und Polizeiwannen. Innerhalb des abgesperrten Gevierts patroullieren Polizisten mit Maschinenpistolen. Über ihnen wehen stars and stripes, und der Passant begreift: die festungsartige Straßensperre gilt der Botschaft der USA. Ähnlich sieht es an anderen Orten der Stadt aus. Die Sicherheitskräfte befinden sich im Ausnahmezustand und warten angespannt auf den Prozeß gegen Abdullah Öcalan, der am 24. März beginnen soll.
Am 17. Februar war es der Berliner Polizei unter Mitwirkung von Abgeordneten deutscher, kurdischer und türkischer Herkunft noch gelungen, die Besetzung der griechischen Botschaft unblutig zu beenden. Damit erfüllte sie die Erwartungen, die besonnene Menschen an die Polizeiarbeit am zukünftigen Regierungssitz stellen. Doch tags darauf erwies sich, daß die deutsche Hauptstadt für Krisensituationen schlecht gerüstet ist. Vier Menschen wurden von israelischen Sicherheitskräften erschossen, als sie - ohne Schußwaffen - versuchten, in das Generalkonsulat Israels einzudringen. Ob die Umstände, die zum Tod von Sema Alp, Mustafa Kurt, Ahmet Acar und Sinan Karakus führten, jemals aufgeklärt werden können, erscheint zweifelhaft. Die Aussagen des israelischen Konsulats und der deutschen Polizei widersprechen sich diametral, doch weiterer Aufklärung sind diplomatische Grenzen gesetzt.
Unstrittig ist nur: Etwa 75 kurdische Demonstranten versammelten sich vor dem israelischen Konsulat in Grunewald, überrannten gewaltsam rund 25 Polizisten und drangen auf die Treppe zum Haupteingang des Konsulats vor. Ob zu diesem Zeitpunkt eine Gruppe von Besetzern, die sich später am Fenster im zweiten Stock zeigte, bereits durch einen Hintereingang ins Haus gelangt war, kann nur vermutet werden. Rätselhaft bleibt auch, wie es weiteren Kurden gelingen konnte, durch die Vordertür in das Gebäude einzudringen. Viel spricht dafür, daß die Tür von innen geöffnet wurde, wie es Polizisten beobachtet haben wollen. Laut Erklärung des israelischen Konsulats soll es hingegen den Kurden gelungen sein, den schwer gesicherten Haupteingang mit einem Brecheisen zu öffnen. Die Besetzer selbst hüllen sich in Schweigen.
Über den weiteren Gang der Ereignisse gehen die Versionen noch stärker auseinander. Der Konsulatsbericht behauptet, ein Sicherheitsbeamter sei innerhalb des Hauses in eine lebensbedrohliche Lage geraten. Ausschließlich in dieser unmittelbaren Notwehrsituation seien 17 Schüsse aus zwei Waffen abgegeben worden. Die meisten der 17 Schüsse, so die Konsulatsversion, »wurden entweder in die Luft oder in die Beine der Randalierer abgegeben, die mit Schlagstöcken bewaffnet waren«. Lediglich ein Schuß sei nach draußen abgegeben worden, und zwar »als Warnschuß in die Luft.«
Der Berliner Generalstaatsanwalt Hansjürgen Karge sagt hingegen: »Es wurde in die Menge geschossen«. Damit macht er sich die Aussagen deutscher Polizeibeamter zu eigen, wonach »mindestens ein Sicherheitsbediensteter des Konsulats« aus der geöffneten Tür das Feuer auf die Kurden im Vorgarten und auf der Eingangstreppe eröffnet habe. Bis zu 30 Schüsse wollen die Polizisten gehört haben.
Über die Vorgänge im Inneren des Gebäudes gibt es keine Polizeiaussagen. Allein der Obduktionsbericht gibt Hinweise. Danach erlitt die 18jährige Sema Alp einen Schuß in den Hinterkopf sowie einen zweiten in den Rücken, dessen absteigender Schußkanal darauf schließen läßt, daß von oben auf die fliehende Frau geschossen wurde. Der Generalstaatsanwalt Hansjürgen Karge räumt ein, daß dies nicht unbedingt auf »eine klassische Notwehrsituation« hindeute. Doch ohne weitere Vernehmungen wird sich nicht klären lassen, ob der Schütze unmittelbar auf Sema Alp gezielt oder die junge Frau versehentlich getroffen hat.
»Man könnte sich durchaus vorstellen, gegen die beiden Schützen wegen Totschlags oder sogar Mordes zu ermitteln, wenn sie nicht den Diplomatenstatus hätten«, faßt Karge das Gesamtgeschehen zusammen. Doch nicht allein der Status der Beschuldigten setzt den deutschen Behörden Grenzen. Das Versagen der Berliner Polizei im Vorfeld zwingt zur Zurückhaltung. Es weckt Erinnerungen an die Olympischen Spiele von 1972, als sich die Bundesrepublik als polizeistaatsferner Gastgeber präsentieren wollte und die »heiteren Spiele« mit der Geiselnahme israelischer Sportler und dem tödlichen Desaster auf dem Flughafen Fürstenfeldbruck endeten.
Vor diesem Hintergrund wirkt die Einlassung von Innensenator Werthebach (CDU) blamabel, man sei zu spät gewarnt worden, um noch ausreichend Polizeikräfte zu verlegen und das Konsulat zu sichern. Bereits am Tag zuvor hatte ein Telefax des BKA auf die Gefahr für israelische Einrichtungen hingewiesen. Ohnehin hätte seit den Gerüchten über die Beteiligung des Mossad an der Entführung Öcalans klar sein müssen: Primär zu schützen sind Einrichtungen der Türkei, Griechenlands, der USA und eben Israels. Die Entschuldigung Werthebachs, »daß unterschieden werden muß zwischen einer abstrakten Gefährdungsanalyse und konkreten Warnhinweisen«, klingt bestenfalls lahm.
Auf dem Prüfstand steht die Effizienz der Berliner Polizei. Die Pawlowschen Reflexe der Lobbyisten sind intakt. Die Gewerkschaft der Polizei behauptete flugs, es seien 1.000 zusätzliche Polizeikräfte nötig, um die Hauptstadtfunktion Berlins zu bewältigen. Die CDU fordert Vorbeugegewahrsam, härtere Strafen und leichtere Abschiebung. Die naheliegende Frage, ob die Polizei schlicht Fehler gemacht hat, stellen Senat und Polizeiführung lieber nicht. Einzig PDS und Grüne wollen dieser Frage nachgehen und einen parlamentarischen Untersuchungsauschuß einsetzen lassen.
Der Berliner Spaziergänger kann nur hoffen, daß er nicht gezwungen sein wird, durch einen permanenten Hochsicherheitstrakt zu wandeln, und es sich auf Berlins Straßen weiterhin frei atmen läßt. Schließlich gibt es andere Möglichkeiten, die Sicherheit der diplomatischen Vertretungen, des Bundestages und der Ministerien zu gewährleisten als no go areas, Straßensperren, verdachtsunabhängige Kontrollen auf dem Bürgersteig und Vorbeugehaft für Oppositionelle. Die Berliner und ihre Gäste haben ein Anrecht darauf, daß die Behörden ihre Sicherheitsaufgabe so elegant und flexibel erledigen, wie es in London oder Paris üblich ist.
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