Die Berliner Grünen scheinen der einzige Landesverband von Bündnis 90/ Die Grünen zu sein, der sich dazu aufrafft, einen aktiven Europawahlkampf zu führen. Letzten Sonnabend war an 18 Ständen die gesamte Parteiprominenz im Einsatz. Die Berliner haben besonders viel zu verlieren. Denn der allseits erwartete Genickschlag bei der Europawahl im Juni könnte sich als Auftakt einer bundesweiten Abwärtsspirale erweisen, deren negative Auswirkungen die Berliner Grünen bei der Abgeordnetenhauswahl im Oktober zu spüren bekommen werden.
Der Landesvorsitzende Andreas Schulze sieht in den Wahlkampfaktivitäten den Beleg, daß die Handlungfähigkeit des Landesverbandes auch in der Zerreißprobe gewahrt bleibe. Zwei Drittel der Berliner Delegiert
Delegierten hätten in Bielefeld für den Antrag des Bundesvorstands gestimmt, ein Drittel für den Antrag von Christian Ströbele. Voraussetzung dafür sei gewesen, daß der Bundesvorstand eine ganze Reihe von Berliner Änderungswünschen übernommen habe, die »auch kritischeren Stimmen die Zustimmung zum Antrag des Bundesvorstands ermöglicht hat«.In der Tat ist auf Wunsch der Berliner die »befristete Feuerpause« hin zu einer unbefristeten geöffnet worden: »In der so entstehenden Zeit muß die jugoslawische Seite die Vertreibung einstellen und mit dem Rückzug ihrer bewaffneten Kräfte beginnen. Die Waffenpause kann verlängert werden, wenn die Belgrader Führung dies vollzieht.« Damit wird die Reihenfolge der Schritte gegenüber dem »Fischer-Plan« umgedreht und der Fünf-Punkte-Katalog der NATO verworfen, der den vollständigen Abzug des jugoslawischen Militärs zur Voraussetzung eines Bombenstopps erklärt.Als weitere »Berliner Eckpunkte«, die in den Beschluß Eingang gefunden haben, zählt die Presserklärung des Landesverbandes auf: »das Gewaltmonopol der UNO muß wiederhergestellt werden; die Selbstmandatierung der NATO wird eindeutig verurteilt; UN-Friedenstruppen für das Kosovo dürfen nicht unter NATO-Kommando stehen; die Bundestagsfraktion wird aufgefordert, unverzüglich auf einen interfraktionell getragenen Beschluß des Bundestages hinzuwirken, der Bodentruppen außerhalb einer Friedensmission der Vereinten Nationen definitiv ausschließt.«Bei den Berliner Grünen sieht derzeit niemand eine Austrittswelle oder gar Spaltung auf den Landesverband zukommen. »Die Mitglieder wissen zu genau, daß wir in der Zwangsjacke stecken«, sagt ein Insider. »An diesem Krieg ist alles falsch bis auf sein Ursprungsmotiv. In Bielefeld mußten wir über schlechte Wege entscheiden, aus der Sache rauszukommen, und parteipolitisch hatten wir nur die Wahl, ob wir jeden zweiten oder jeden vierten Wähler verlieren.« Schadensbegrenzung statt weiterer Polarisierung scheint bei den Berlinern angesagt. Während auf Bundesebene nicht mehr klar ist, ob der Regierungsflügel eine Abspaltung der Opposition nicht mit Erleichterung quittieren würde, lautet die Berliner Maxime weiterhin, »den Laden zusammenzuhalten«.In der Stunde der Not besinnen sich die Berliner auf ihre Herkunft. Die Berliner Grünen sind älter als der Bundesverband. Die 1978 gegründete Alternative Liste führte bis zur deutschen Vereinigung eine Westberliner Sonderexistenz als eine Art grüne CSU. Noch immer trägt der Landesverband den alternativen Igel statt der grünen Sonnenblume im Wappen und die alte Bezeichnung als Untertitel im Namen. Eine Rückkehr zu den Wurzeln wird nicht ernsthaft erwogen. Aber die Parteiführung kann auf eine traditionelle Berliner Eigenart vertrauen, die das Ende der Alternativen Liste überlebt hat. Während im Bundesgebiet die Strömungsclans ganze Landesverbände beherrschen oder unter sich aufgeteilt haben, ist dies in Berlin nie gelungen. Die Mitgliederversammlung, bei der die Landesliste zur Abgeordenetenhauswahl aufgestellt wurde, bestätigte es erneut. Kandidaten der Parteiflügel, die - wie die Abgeordneten Ida Schillen und Sybille Volkholz - nicht zugleich ein Angebot an die unabhängige Mitte des Landesverbandes darstellen, hatten keine Chance, einen sicheren Listenplatz zu erreichen.Auf dem Podium der Mitgliederversammlung prangte die Parole: »Berlin ist anders!« In erster Linie war dies als Kontrapunkt zur Behauptung der CDU gemeint, sie sei 100 Prozent Berlin. Aber kaum ein Berliner Grüner dürfte gegen die zweite Assoziation aufbegehren, die der Slogan transportiert: Wir sind anders als die Bundespartei von Bündnis 90/ Die Grünen. Wann immer Redner Kritik an der Bundesregierung übten - sei es beim Atomausstieg oder bei der Staatsbürgerschaftsreform -, konnten sie mit Beifall rechnen. Die Berliner wollen nicht in den Strudel der Bundespartei gerissen werden. »Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen oder sonstigen Ereignissen ist rein zufällig und nicht gewollt«, meinte die Spitzenkandidatin für die Abgeordnetenhauswahl, Renate Künast, schon vor Kriegsbeginn mit Blick nach Bonn sarkastisch und gab damit die Berliner Wahlkampfparole aus.Dennoch: Die bundespolitischen Turbulenzen werden den Berliner Landesverband nicht verschonen. Am 6. Juni wird nicht nur Christian Ströbele nach Dortmund fahren, um einen Arbeitszusammenhang innerhalb und außerhalb der Partei zu gründen, der keine Spaltung der Partei bedeutet, wohl aber die Konstitution der Opposition als Partei in der Partei. »Die oben machen ihre Politik, egal, was wir sagen. Da machen wir eben unsere«, umreißt ein aktives Mitglied die Stimmungslage vieler Dissidenten. 40 Prozent für die entschiedenen Kriegsgegner seien ein Ergebnis, auf dem sich aufbauen lasse. »Für die Minderheit tut sich im Rahmen des Mehrheitsbeschlusses ein Spielraum auf. Der Beschluß liegt herrenlos herum, weil seine Verfasser ihn nicht umsetzen wollen. Den muß man nur vom Boden aufheben.«Die nächsten Konflikte sind vorgezeichnet. Niemand kann die Minderheit in der bündnisgrünen Bundestagsfraktion daran hindern, einen Entschließungsantrag für eine Feuerpause und gegen den Einsatz von Bodentruppen zur Abstimmung zu stellen, was ganz im Sinne des Beschlusses von Bielefeld wäre. Und am Pfingstsonntag bietet die Wahl des Bundespräsidenten mit der erklärten Kriegsgegnerin Uta Ranke-Heinemann die nächste Gelegenheit zum Protest innerhalb und außerhalb des Reichstagsgebäudes.