Kommt John Demjanjuk noch vor ein deutsches Gericht? Demjanjuk wird die Beihilfe an der brutalen Tötung von mindestens 29.000 Menschen im Konzentrationslager Sobibor vorgeworfen. Dass die Staatsanwaltschaft München nun über Unterlagen verfügt, die einen solchen Prozess ermöglichen, ist ein Ergebnis von "Ludwigsburg". Der Name der schwäbischen Stadt steht seit 50 Jahren für den Versuch, mit den Mitteln des Rechtsstaats dem unfassbaren Verbrechen zu begegnen, das Deutsche und ihre Komplizen zwischen 1933 und 1945 angerichtet haben. "Ludwigsburg", das ist ein aus politischem Druck und Zufällen geborenes, spätes Zugeständnis der Bundesrepublik an die damals schon 13 Jahre zurückliegende Vergangenheit. "Ludwigsburg" steht für Zivilcourage und Moral in Amtszimmern ebenso wie für dramatische bürokratische Hemmnisse. "Ludwigsburg" bedeutet für viele Opfer und ihre Hinterbliebenen der Anfang vom "anständigen Deutschland", das sie in der Bundesrepublik zu sehen bereit sind. In der Shoah-Forschung ist "Ludwigsburg" eine weltweit beachtete Institution. "Ludwigsburg" ist aber auch ein ganz normaler deutscher Ort, in dem zwei hochrangige prominente SS-Generale ihren Ruhestand in Freiheit erlebten.
Rechtsstaatlicher Umgang mit dem NS-Erbe
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bemühten sich die Alliierten und schließlich auch die deutsche Justiz, die Nazi-Verbrecher vor Gericht zu bringen. Je mehr der Kalte Krieg in die heiße Phase trat und insbesondere nach der Gründung der Bundesrepublik, ging das Interesse an einer juristischen Verfolgung allerdings verloren. Viele Taten blieben unaufgeklärt und ungesühnt, und unter der Oberfläche der scheinbar heilen Welt des neuen Wirtschaftswunderlandes sammelte sich Unmut: Zufällig ans Licht gekommene Verbrechen in den Vernichtungslagern erschütterten die Menschen. Alt-Nazis im westdeutschen Staatsdienst ließen die Alarmglocken im Ausland läuten. Die DDR tat zwar nichts für einen gründlichen rechtsstaatlichen Umgang mit dem NS-Erbe, doch nutzte sie die Fälle bundesdeutscher Nazi-Karrieren geschickt als ideologische Munition gegen den Weststaat.
1958 wurde in Ulm gegen den früheren Polizeichef von Memel und Mitglieder seines damaligen Einsatzkommandos, das für Tausende von Erschießungen in Litauen verantwortlich war, verhandelt. Es konnte nachgewiesen werden, dass die Täter als Gruppe und vorsätzlich die Ermordung von Kommunisten und Juden betrieben hatten. Weitere Verfahren gegen Nazi-Täter erschütterten die Öffentlichkeit. Endlich gab es eine politische Mehrheit unter den Justizministern der Länder, die die ungeklärten Nazi-Verbrechen nicht der zufälligen Aufklärung oder dem Vergessen überlassen wollten. Aufrechte Juristen wie der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer und sein baden-württembergischer Kollege Erich Nellmann, die sich aus gemeinsamen Studientagen in Tübingen gut kannten, initiierten die Einrichtung einer "Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung Nationalsozialistischer Verbrechen" - ihren Sitz nahm sie, recht zufällig, in Ludwigsburg.
Nur wenige Jahre, so prognostizierten Fachleute, würde die Arbeit dauern. Die Ermittler von Ludwigsburg untersuchten systematisch die verfügbaren Akten über SS-Einheiten, Polizei-Gliederungen, Abteilungen des Sicherheitsdienstes oder der Wehrmacht nach Hinweisen auf noch verfolgbare Straftaten, suchten Zeugen und sicherten Akten. Sie lieferten unter anderem die Grundlagen für die großen Strafrechtsprozesse gegen die Verantwortlichen von Auschwitz, Sobidor und Maijdanek.
Die beiden ersten Leiter der Zentralstelle machten in der Öffentlichkeit sehr unterschiedlich von sich reden: Der Erste präsentierte seine eigene, längst bekannte Zugehörigkeit zu NS-Organisationen höchst ungeschickt. Sein Nachfolger lenkte das Augenmerk auf die große Menge unbewältigter Arbeit und trieb die Diskussion um die Verjährung von NS-Verbrechen an. Nach zähen Debatten wurde beschlossen, dass Morde in der Bundesrepublik nicht mehr verjähren.
Ein Problem der Zentralstelle war von Anfang an das häufig wechselnde und spärliche Personal. Nur in den sechziger Jahren, waren einmal kurzfristig etwa 120 Staatsanwälte und Richter, Kriminalbeamte und Verwaltungsangestellte gemeinsam an der Arbeit. Die Ludwigsburger Juristen durften nur ermitteln, nicht anklagen: Sie stellten das Material bereit, aufgrund dessen die Staatsanwälte entscheiden konnten, ob sie Anklage erheben. Weit über 6.000 Verfahren wurden auf diese Weise aus Ludwigsburg abgegeben - das Münchener Institut für Zeitgeschichte konnte nur rund 350 der daraus resultierenden Verurteilungen in den Gerichtsakten wiederfinden. Trotz Zentralstelle blieb in der interessierten Öffentlichkeit das Misstrauen wach, weil viele Richter und Staatsanwälte aus der NS-Justiz nach 1945 im Staatsdienst verblieben waren.
Schlupfwinkel für Alt-Nazis
Dass Ludwigsburg nicht nur ein Hort der Aufklärung war, sondern auch der Verdrängung, erwies sich in den fünfziger Jahren. 1955 brachte ein Fahrzeug des amerikanischen Militärs einen älteren Mann nach Ludwigsburg - in das Haus eines Außendienstleiters der Bausparkasse Wüstenrot. Der neue Bewohner war Josef "Sepp" Dietrich - zu Nazi-Zeiten Führer der "SS-Leibstandarte Adolf Hitler". Als junger Mann aus einfachen Verhältnissen im Allgäu, hatte er versucht, im Ersten Weltkrieg zum Helden zu werden - erfolglos. In München schloss er sich dem Haufen um Adolf Hitler an. Er wurde Leiter seiner Leibwache, später hoch dekorierter General in der Waffen-SS.
Nach 1945 wurde Sepp Dietrich von einem amerikanischen Militärgericht zu lebenslanger Haft verurteilt, kam 1955 aber bereits wieder frei. Die Familie seiner Frau, die Brauereibesitzer Moninger aus Karlsruhe, wollte vermeiden, dass der abgehalfterte NS-Promi in ihre bundesrepublikanische Wirklichkeit einzog. Also vermittelte ein Karlsruher Wüstenrot-Mitarbeiter, lang gedient in Dietrichs SS-Einheit, den Kontakt zu einem Wüstenrot-Mann und Ex-Nazi in Ludwigsburg, der schließlich für Wohnung und Arbeitsplatz des Haftentlassenen bürgte.
Noch bevor die Zentralstelle in Ludwigsburg angesiedelt wurde, war Sepp Dietrich in München verurteilt worden, weil er 1934 bei den Aktionen zum so genannten Röhm-Putsch ein Erschießungskommando angeführt hatte. Auch diesmal dauerte seine Haftzeit nicht lange, er kehrte nach sieben Monaten nach Ludwigsburg zurück.
Auch Paul Hausser, ein weiterer hochrangiger SS-General, fand in Ludwigsburg seinen Ruhestandssitz. Er hatte das brutale SS-Ausbildugnslager aufgebaut und Armeen angeführt. Beide, Hausser wie Dietrich, waren begehrte Gäste bei Veranstaltungen der der "Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit", dem Verein der früheren Angehörigen der Waffen-SS. Hausser wurde mit seiner Parole, SSler seien "Soldaten wie andere auch" gewesen, zu einem der Aushängeschilder des Verbands.
Als Josef Dietrich 1966 starb, sorgte seine Beerdigung auf dem Ludwigsburger Friedhof für einen Skandal: Über 4.000 Freunde und Kameraden waren anwesend und sangen unter anderem auch das verbotene "Treuelied" der Waffen-SS. Ein Staatsanwalt der Zentralstelle erinnert sich, dass der Zug der Trauergäste auf dem Weg zum Friedhof wie eine Demonstration am Gebäude der Ermittler von NS-Verbrechen vorbeikam. Aus den Reihen der dunkel Gekleideten erhoben sich Fäuste zu den Fenstern der Ermittler, und Rufe wurden laut: "Wir kriegen euch noch!"
In den ersten Jahren stieß die Zentrale Stelle auf viel Ablehnung in der Bevölkerung. Jungen Mitarbeitern wurde dringend empfohlen, bei der Zimmersuche zu verschweigen, wo sie arbeiteten. Bürger wünschten in Fernsehinterviews, dass die Zentrale Stelle verschwinde, weil sie "einfach ungut" sei. Der damalige Oberbürgermeister vertrat die Ansicht, sie habe "einen bestimmten Geruch", der "uns natürlich auch als Stadt anhaftet". Der CDU-Ortsvorsitzende versuchte, seine Partei zugunsten der Arbeit in der Zentralen Stelle zu positionieren - und wurde von den Kräften im Hintergrund ausgebremst.
Dreißig Jahre später initiierte eben dieser Mann - inzwischen längst SPD-Stadtrat im Ruhestand - einen Förderverein für den Erhalt der Einrichtung. Die Zukunft des symbolträchtigen Hauses wurde gesichert: als Archiv (die Akten werden am Originalort vom Bundesarchiv übernommen in einer eigens eingerichteten Außenstelle übernommen), als Ort für weitere Forschung und als Bildungsstätte.
Im Dezember wird Bundespräsident Horst Köhler die Ludwigsburger Einrichtung in einem Festakt würdigen. Zum Thema Zentralstelle Ludwigsburg hat der Autor einen Dokumentarfilm herausgebracht: Millionen Morde. Ein ruhiges Städtchen. Zwei alte Generale. Ludwigsburg und die Zentrale Stelle zur Verfolgung von NS-Verbrechen. Camera Ludwigsburg 2008.
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