Wenn der israelische Ministerpräsident Sharon Berlin besucht, dann geschieht das nicht allein vor dem Hintergrund der Krise und Gewalt in Palästina und Israel, sondern auch angesichts der neuen Spannungen zwischen Israel und Syrien: Im April und Ende Juni hatte die israelische Luftwaffe erneut syrische Stellungen im Libanon bombardiert und dies mit Attacken der libanesischen Hisbollah gerechtfertigt. Es waren die ersten israelischen Angriffe auf syrische Truppen seit 1996 und ein deutliches Zeichen regionaler Gewalteskalation nach dem Machtwechsel in Israel.
Die neue syrische Führung - der junge Präsident Bashar Assad, ein Sohn des langjährigen Diktarors Hafiz Assad, ist seit rund einem Jahr an der Macht - reagierte auf die Angriffe mit einer Mischung aus pragmatischer Besonnenheit und harter Rhetorik: Zwar bescheinigte Bashar Asad Israel die Unwilligkeit und Unfähigkeit zum Frieden mit seinen arabischen Nachbarn - kaum die psychologische Vorbereitung für eine neue Verhandlungsrunde. Zugleich aber verzichtete Syrien auf jede Vergeltung, die staatlich gelenkten Medien spielten die Angriffe und eigene Verluste herunter. Tatsächlich wäre eine neue militärische Konfrontation mit Israel für Damaskus eine Katastrophe.
Der neue Präsident war in Syrien mit großen Erwartungen und Hoffnungen begrüßt worden: ein junger Mann, der wirtschaftliche Reformen und einen energischen Kampf gegen die Korruption versprochen hatte. Tatsächlich erzwang und erzwingt die Dauerkrise der syrischen Wirtschaft mit ihrer hohen - und wachsenden - Arbeitslosigkeit, der Abhängigkeit von einer in spätestens 15 Jahren erschöpften Ölproduktion und einem wirkungsarmen, aber aufgeblähten öffentlichen Sektor aus Bürokratie und Staatsunternehmen den Primat der Innen- und Wirtschaftspolitik.
Die ökonomische Krise ist seit Jahren latent, konnte aber in den neunziger Jahren dank steigender Öleinnahmen und finanzieller Zuwendungen aus den arabischen Golfstaaten - eine Belohnung für die syrische Rolle im Golfkrieg gegen Irak - verdeckt werden. Bashar al-Assad und großen Teilen der Bevölkerung ist jedoch bewusst, dass beide Geldquellen endlich sind und die Zukunft des Landes davon abhängt, den Staatsaparat zu modernisieren und die Wirtschaft gründlich zu reformieren. Der Präsident ziel dabei nicht auf ein neues politisches und wirtschaftliches System, sondern auf die gründliche Renovierung des alten, auf Privatisierung und die Nutzung neuer Technologien. Allerdings bleibt Assad dabei aus taktischen und machtpolitischen Gründen auf die Unterstützung wichtiger Funktionäre angewiesen, die schon dem Regime seines Vater zu Diensten waren. Seine Gratwanderung ist kompliziert: Wirtschaftsreformen haben nur dann eine Erfolgschance, wenn sie konsequent vorangetrieben werden. Gleichzeitig muss der Präsident darauf achten, nicht die Kontrolle über diesen Prozess zu verlieren und so möglicherweise die Grundlage seiner Herrschaft, das Machtmonopol der Baath-Partei inklusive, zu untergraben.
In den vergangenen Monaten haben der Reformprozess und vor allem die zarten Ansätze politischer Liberalisierung deutliche Rückschläge erlitten: die Nutzung des Internet wird wieder stärker behindert, Verteidigungsminister Tlas warnte angesichts der israelischen Angriffe und der harten Besatzungspolitik in Palästina vor "Feinden im eigenen Land", die Israel nicht "in die Hände spielen" dürften, und die erst in jüngster Zeit entstandenen politischen Debatierzirkel werden zunehmend eingeschüchtert.
Wirtschaftliche und politische Reformen setzen im syrischen Kontext voraus, keinen ernsthaften Konflikt mit Israel erwarten zu müssen, aller rhetorischen Gegnerschaft zum Trotz. Deshalb stellen die Konfrontationspolitik Sharons und die israelischen Angriffe auf syrische Truppen im Libanon eine Einschränkung des Reformspielraums dar. Zum Einen, weil die außenpolitische Unsicherheit in der Region und die Bedrohung durch Israel tatsächlich innenpolitische "Experimente" erschweren, da diese ja selbst zu innenpolitischen Problemen und Widerständen führen können. Zum Anderen kann eine mögliche Konfrontation mit Israel von den reformfeindlichen Kräften des alten Regimes aber auch zum Vorwand genommen werden, alle Veränderung abzuwürgen, die eigene Pfründe bedrohen.
Liberale oder linke Reformkräfte haben dem noch nicht viel entgegenzusetzen, da ihre soziale Basis bisher schwach und ihr Organisationsgrad eher marginal ist, insbesondere außerhalb der Hauptstadt Damaskus. Die von großen Teilen der Bevölkerung gehegte Hoffnung auf den neuen Präsidenten beginnt merklich nachzulassen. Viele zeigen sich vom Tempo der Veränderung enttäuscht, und wer dennoch weiter optimistisch bleibt, weiß inzwischen, dass der Reformprozess viele Jahre braucht. Bashar Assads gute Absichten scheinen dabei unbestritten. Zweifel regt sich jedoch, ob der Präsident tatsächlich Handlungsspielräume hat und es schafft, sich gegen die alte Garde durchzusetzen.
Und so vermittelt Syrien dieser Tage den Eindruck eines Landes im diffusen Schwebezustand: Die Reformen des letzten Jahres sind real und bedeutsam. Wer Damaskus heute besucht, sieht sich angenehm überrascht. Das politische Klima ist offener geworden, die Menschen sind weniger ängstlich als noch vor wenigen Jahren. Doch das Tempo der Veränderung lässt merklich nach, der Ton wird rauer. "Globalisierung" und "Zivilgesellschaft" sind inzwischen zu Schimpfworten geworden. Und wer sich weiterhin in privaten Runden trifft, um halböffentlich politische Diskussionen zu führen, riskiert, vom Präsident persönlich in die Nähe ausländischer Agenten gerückt zu werden. Damit ist die Reform nicht gescheitert. Der Veränderungsdruck bleibt. Ohne eine Generalüberholung der Volkswirtschaft und eine zumindest begrenzte politische Öffnung würde Syrien stagnieren. Damaskus wäre in der Region und der Weltwirtschaft marginalisiert und würde auf Dauer in eine Periode sozialer Konflikte geraten.
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