So geht Frieden

Strategie Will die Friedensbewegung wieder Einfluss gewinnen, darf sie sich nicht auf Abzugs­appelle beschränken, sondern muss mit den Militärs über Alternativen diskutieren können

Die deutsche Friedens- und Konfliktforschung hat sich seit den 1970er Jahren weit entwickelt, manche Mode mitgemacht und überlebt, sowie einige Kinderkrankheiten hinter sich gelassen. Sie wird inzwischen auch im politischen Bereich ernst oder zumindest zur Kenntnis genommen. Wenn allerdings in den kommenden Wochen der Bundestag darüber entscheidet, ob der Afghanistan-Einsatz verlängert werden soll oder nicht, liefert sie den Abgeordneten und der Öffentlichkeit zwar Argumente für die Debatte, aber kein kohärentes Gegenkonzept. Die politischen Rahmenbedingungen haben sich in den vergangenen Jahren grundlegend verändert. Wie sich damit auch ihre eigene Rolle ändern muss, hat die Friedensforschung bisher nicht immer ausreichend reflektiert.

Während des Kalten Krieges – als deutsche Friedens- und Konfliktforschung entstand – war die Situation in Europa strategisch gelähmt. Zwar waren die beiden Blöcke unterschiedlich stark (auch wenn das damals gelegentlich in Vergessenheit geriet oder verdrängt wurde), aber das nukleare Patt und die Politik wechselseitiger „Abschreckung“ gewährleisteten doch einen stabilen Frieden – zumindest „Nicht-Krieg“ – in den Metropolen. Die deutsche Sondersituation der Teilung, des Holocaust und der zwei begonnenen und verlorenen Weltkriege trug dazu bei, dass deutsche Militär- und Sicherheitspolitik nicht nur wegen ihrer Einbettung ins westliche (beziehungsweise östliche) Lager und den Ost-West-Gegensatz keinen Spielraum zu militärischen Abenteuern mehr hatte, sondern sich darüber hinaus auch eine weitgehende militärische Selbstbeschränkung auferlegte. Noch bis kurz vor der deutschen Wiedervereinigung bestand ein breiter Konsens aller Bundestagsparteien, dass Einsätze der Bundeswehr außerhalb des NATO-Geltungsbereiches, etwa am Persischen Golf oder anderswo, nicht nur politisch falsch und unsinnig, sondern klar verfassungswidrig seien.

Ist Krieg exotisch?

In dieser Phase war auch die deutsche Friedensforschung verständlicherweise direkt und indirekt weitgehend auf den Kontext des Kalten Krieges bezogen. Reale Kriege fehlten in der Analyse nicht ganz, da die „Stellvertreterkriege“ der Supermächte in der Dritten Welt durchaus Beachtung fanden – aber diese Kriege wurden ohne militärische Beteiligung der Bundesrepublik geführt. Fragen der konventionellen und nuklearen Hochrüstung, der Abschreckungsdoktrin und später der militärischen Strategie standen im Vordergrund, gemeinsam mit der Frage, wie Feindbilder abgebaut werden könnten. Realer Krieg war fern und die Angelegenheit anderer. Europa konzentrierte sich auf den atomar erzwungenen Nicht-Krieg und die friedenspolitischen Gefahren der Überrüstung sowie auf die teilweise absurden militärpolitischen Doktrinen, etwa die Mutually Assured Destruction, deren amtliche Abkürzung „MAD“ ihre Substanz fein auf den Punkt brachte.

In dieser Situation bildete sich in Teilen der Friedensforschung und zum Teil der Friedensbewegung ein beeindruckend hohes Niveau an militärischer Fachkompetenz. Bezogen auf die militärische Hardware, auf die Quantifizierung des Rüstungsniveaus und auf die militärische Strategie verfügte die Disziplin über Fachleute, die an Kompetenz den zuständigen militärischen Offizieren oder Experten regierungsnaher Institute in nichts nachstanden. Militärische Diskurse wurden systematisch ausgewertet und rezipiert, militärische Fachliteratur gründlich zur Kenntnis genommen – das militärische Denken selbst wurde zum Analysegegenstand. All dies in aller Regel nicht als Selbstzweck oder aufgrund einer Waffen-Faszination, sondern weil man es als wichtige Voraussetzung begriff, um einerseits einer Militarisierung des Denkens über „Sicherheit“ alternative Konzepte gegenüberstellen zu können – und um zugleich in den öffentlichen Diskursen ernst genommen zu werden.

Diese militärische Fachkompetenz der Friedensforschung ist zumindest in Deutschland heute zum großen Teil weggebrochen. Dies liegt teilweise an der seit Ende des Kalten Krieges eingetretenen grundlegenden Veränderung der politischen Rahmenbedingungen. Einmal fehlt heute in Deutschland eine breite Friedensbewegung, die in den 1980er Jahren günstige Bedingungen schuf, Ergebnisse der Friedensforschung in die Gesellschaft einzubringen und andererseits einen Stimulus für kritische Friedensforschung darstellte. Zweitens wandte sich die Friedensforschung nach Ende der Blockkonfrontation bestimmten Kriegs- und Gewalttypen zu, die vorher oft gering geschätzt oder konzeptionell in das Ost-West-Schema gepresst worden waren. Ethnische Konflikte, fragmentierte Gesellschaften, failed states stellten wichtige und ergiebige Forschungsfelder dar, die „uns“ allerdings kulturell fremd schienen und anscheinend wenig mit uns in Europa zu tun hatten – selbst die Balkankriege wurden in diesem Sinne exotisiert und kulturell entsorgt. Dazu kam, drittens, dass solche „primordialen“ Konflikte entweder ohne europäisches Militär auskamen und die fremden „Barbaren“ sich gegenseitig massakrierten – oder aber europäisches Militär zumindest zuerst etwa im Auftrag der UNO „humanitär“ intervenierte.

Das war eine völlig andere Konstellation als die wahnwitzige atomare und konventionelle Überrüstung des Militärs im Kalten Krieg, deren Destruktivität schwer zu ignorieren war. Nun aber wurde Militär „therapeutisch“ – die Krankheit bestand anscheinend in der „Irrationalität“ und dem „vormodernen Fanatismus“ der „Eingeborenen“, die Rettung kam als „humanitäre Intervention“ des westlichen Militärs. Vielleicht war es nicht erstaunlich, dass so die lokale Gewalt und ihre Ursachen ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerieten, die westlichen Militärs als Konfliktfaktor aber weniger beachtet wurden.

Debatten statt Analysen

Zugleich bestand aber eine Tendenz, das deutsche Militär von einer reinen Abschreckungstruppe wieder zu einem breiter einsetzbarem Instrument der Außenpolitik zu machen, bis hin zur Interventions- und Kriegsfähigkeit. Dass dieser Prozess gerade unter einer rot-grünen Regierung massiv vorangetrieben wurde – im Kosovo, in Afghanistan –, trug dazu bei, dass potenzielle politische und intellektuelle Gegenwehr ausgesprochen schwach blieb. Opposition gegen sich selbst oder die als verwandt wahrgenommene Seite war nicht attraktiv.

Die Ergebnisse lagen darin, dass friedenspolitische Debatten – soweit sie überhaupt geführt wurden – häufig einen rituellen Charakter annahmen und auf die Frage „Militäreinsatz: Ja oder Nein“ reduziert wurden, während das militärische Denken, die militärische Strategie und Taktik weitgehend aus dem Blick gerieten. Die Diskussion nahm einige Jahre Bekenntnischarakter an, wurde häufig höchst abstrakt geführt, während grundlegende Fragen, was Militär überhaupt erreichen könnte (und wie) und was nicht, kaum diskutiert wurden. Auch seine konkrete Rolle in Regionalkonflikten wurde zu wenig analysiert, sondern eher abgelehnt oder gerechtfertigt.

Inzwischen ist der Einsatz des deutschen Militärs faktisch normal geworden. Die Bundeswehr befindet sich im Krieg, wenn auch in einer sehr speziellen und begrenzten Art, bei der sich Bürgerkrieg, Aufstand, Besatzung und Terrorismus in den Augen eines relevanten Teils der afghanischen Bevölkerung mischen. Und in diesem wie anderen Kriegen, etwa im Irak, sind westliche Militärs nicht einfach bewaffnete Entwicklungs- oder humanitäre Helfer, sondern Kriegspartei. Und zwar nicht irgendeine Kriegspartei, sondern in der Regel diejenige, die den Krieg definiert, prägt, die personell, finanziell, technologisch und von der Feuerkraft her der stärkste Akteur ist. Der Afghanistankrieg hat demonstriert, dass zumindest das US-Militär auch konzeptionell zur prägenden Kraft geworden ist. Es musste aufgrund der intellektuellen Armut und dem teilweisen Desinteresse der politischen Führung der Bush-Administration inzwischen eine politisch-militärische Gesamtstrategie nachliefern, die das Weiße Haus oder die europäischen Regierungen nie zustande brachten – und im Januar 2010 bei der Londoner Afghanistan-Konferenz kollektiv übernahmen.

Soldaten im Praxistest

Nun aber ist mehr als überfällig, dass auch die Friedensforschung den „Elefanten im Zimmer“ zur Kenntnis nimmt – nämlich endlich wieder die Strategien, Taktiken und Praktiken des Militärs zum Gegenstand ihrer Forschung macht. Erstens wird es zunehmend absurd, den in einigen Schlüsselkonflikten zentralen Akteur weitgehend zu ignorieren oder mit einem schlichten „ja“ oder „nein“ abzufertigen. Zweitens hat zumindest eine Minderheit militärischer Denker in den USA konzeptionelle Ansätze entwickelt, über die nachzudenken sich lohnt. Drittens ist es eine spannende Frage, warum solche Konzepte in der Regel verspätet und verstümmelt umgesetzt werden. Viertens ließe sich einiges dazu herausfinden, auf welchen verschlungenen Wegen sich deutsche Afghanistanpolitik aus dritter Hand aus US-Militärkonzepten bildet, oder wie dieser Prozess dann doch an inneren Widersprüchen scheitert. Fünftens könnte man die heiße Diskussion um die zivil-militärischen Beziehungen in Afghanistan oder über die Entwicklungspolitik sicher besser führen, wenn man die militärischen Vorstellungen dazu einmal mehr als kursorisch zur Kenntnis nähme; und schließlich böte ein Vergleich der militärischen Konzeptentwicklung für die Aufstandsbekämpfung zwischen dem US-amerikanischen und dem deutschen Militär die ausgezeichnete Möglichkeit, die Bundeswehr in solchen Kriegen an einem ernsthaften Maßstab zu messen, um ihre Praxis und Rolle besser verstehen zu können.

Dies sind nur einige Beispiele dafür, dass das Militär selbst als Gegenstand der Konfliktforschung und der Friedensbewegung endlich wieder auf die Tagesordnung gehört. Westliche Armeen sind in vielen Regionalkonflikten heute direkt oder indirekt ein wichtiger oder der zentrale Konfliktfaktor. Selbstverständlich müssen wir Warlords, Aufständische, ethnische Milizen und andere Bewaffnete verstehen, um Kriege und Gewaltkonflikte besser analysieren – und schließlich überwinden zu können. Doch ebenso gründlich müssen wir den Schlüsselakteur verstehen. Wer den Frieden will, muss die Kultur, das Denken, die Strategie und die Praxis des Militärs wieder zurück in den Fokus der Analyse rücken.

Jochen Hippler, 55, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Entwicklung und Frieden der Universität Duisburg-Essen

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