Tiefe Taschen

POLITISCHE KULTUR Die Skandalserie ist nur ein Indiz für die Krise des Parteiensystems

Das Publikum weiß kaum noch, ob es lachen oder weinen soll: Hombach, Leisler-Kiep, Kohl, Klimmt, Glogow ski, Stoiber - die Liste der Vorwürfe gegen politische Größen, sie hätten es mit Geld und Gesetzen nicht so schrecklich ernst genommen, könnte fast beliebig verlängert werden. Waffenhändler, Verbände der Caritas, Fußballclubs kommen ins Gerede, aber im Kern des Problems stehen die politischen Parteien. Soll man die Skandalserie nur als Indiz betrachten, dass auch Politiker keine Engel sind, wenn der Rest der Gesellschaft Subventionsbetrug, Schwarzarbeit und Steuerhinterziehung als Volkssport betreibt? Oder sind wir auf einen neuen Beleg gestoßen, dass "Politik ein schmutziges Geschäft" ist? Ist also alles in Ordnung, kommt es auf ein bisschen mehr oder weniger an Korrumpiertheit gar nicht an? So wirkt es, wenn die Parteien nach dem Verfahren operieren: Bei uns vertuschen, bei den anderen anklagen. Der Sumpf der Verkommenheit wird dann nur unter dem taktischen Gesichtspunkt ausgebeutet, Instrumente gegen den politischen Gegner zu liefern. Das ist verständlich, aber falsch.

Die Parteien beweinen gern und oft die angebliche "Politikverdrossenheit", die ja oft nur eine Parteienverdrossenheit ist, und für die die Parteien mit großer Energie immer neue Gründe liefern. Allerlei Gesetze und Regelungen zur Regelung der Parteienfinanzen zu beschließen, zugleich aber Reptilienfonds einrichten, um diese Bestimmungen zu umgehen; gegen das "Anspruchsdenken" der Bevölkerung wettern, aber auf Kosten anderer in Urlaub fahren; den Sozialhilfeempfängern Leistungen kürzen, um sich selbst die Taschen zu füllen - das sieht nicht nett aus. Wer dabei nicht "verdrossen" wird, dem wäre nicht zu helfen. Aber auf der Anklagebank sitzen eben nicht ein paar Halbkriminelle oder bloße Abzocker, in Frage gestellt ist die politische Klasse insgesamt. Wenn die fraglichen Fälle immer wieder individualisiert, zum Problem von Kiep und Kohl, Hombach und Glogowski, also zur Frage der Praktiken und der "Moral" Einzelner verniedlicht werden - dann hält man die Bürger für dümmer als sie sind. Und so etwas nehmen selbst die Dümmsten übel. Wenn ehemalige Bundeskanzler und Parteivorsitzende, Ministerpräsidenten, Kanzleramtsminister, Schatzmeister, Wirtschaftsminister und so weiter am Pranger stehen und diese entzückende Gesellschaft in den Bauämtern vieler Kommunen, bei Bürgermeisterkandidaten und sonstwo eine entsprechende Umgebung findet - dann liegt das Problem nicht auf der Ebene individuellen Versagens oder persönlicher Gier - so sehr diese auch existieren mögen -, sondern beim politischen System.

Der Unterschleif ist zur Berufskrankheit der politischen und wirtschaftlichen Eliten geworden, und diese Krankheit hat Seuchencharakter angenommen - ab und zu platzt eine Eiterblase, und wir gewinnen eine unappetitliche Teilansicht der Symptome.

Das klingt schlimm, aber es ist schlimmer. In vielen politischen Systemen ist Korruption zumindest zweckrational, sie ist ein Schmiermittel der Apparate. Wer in manchen Ländern der Dritten Welt etwas erreichen möchte, muss schmieren, dann werden die eigentlich selbstverständlichen Jobs endlich erledigt. So weit haben wir es noch nicht gebracht: Wir dürfen der Selbstbedienungsmentalität einer politischen und wirtschaftlichen Elite bewundern, während sie es nicht einmal für nötig hält, ihren Job zu erledigen. Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit: jahre-, ja jahrzehntelang immer wieder versprochen - Ergebnis: Null. Die politische Klasse hat es sich angewöhnt, Probleme rein rhetorisch zu lösen, Lösungen anzukündigen, sich selbst zur Lösung aufzufordern, zu reden und zu versprechen - und darauf zu bauen, dass sie ohnehin nicht ernst genommen wird. Blühende Landschaften, die Halbierung (Kohl) oder drastische Senkung (Schröder) der Arbeitslosigkeit, all die anderen schönen Worte bleiben was sie sind: heiße Luft. Erst in diesem Kontext wird die Bereicherungs-, Verschiebungs- und Privilegienmentalität wirklich zum Skandal: Absahnen, aber nicht einmal eine mäßige Gegenleistung erbringen. Wer in Pakistan einen Polizisten schmiert, weiß wenigstens wofür. Wenn die politische Klasse zumindest ernsthafte Schritte zur Lösung der drängendsten gesellschaftlichen Probleme unternehmen würde, dann, ja dann sollten wir mit ein paar Millionen hier oder da, ein paar Hochzeitsfeiern oder Urlaubsreisen nicht pingelig sein. Aber so?

Das Parteiensystem dieser - früher nur westlichen - Republik steckt seit zumindest den späten siebziger Jahren in einer chronischen Krise. Wahlen gewinnt nicht, wer selbst überzeugend und stark ist, sondern wer sich gerade weniger blamiert hat. In den achtziger und frühen neunziger Jahren hatte Kohl nie wirklich eine Wahl gewonnen - die SPD hatte sie verloren. Jetzt war es umgekehrt. Wessen Krise momentan kleiner wirkt, gewinnt. Aber CDU, FDP - mein Gott, FDP! - SPD und Grüne befinden sich in einer dauerhaften Krise der Auszehrung. Das liegt daran, dass ihnen niemand mehr ernsthaft eine umfassende Problemlösung zutraut - was wenig erstaunt, weil keine der Parteien über ernsthafte Lösungskonzepte verfügt. Die seit langem sinkende Wahlbeteiligung ist die rationale und zwangsläufige Folge dieser Situation, "Parteienverdrossenheit das Gegenteil von Politikverdrossenheit: sie ist Folge akuten Politikmangels. Politik als Gestaltung findet nicht mehr statt, sie reduziert sich selbst auf das mittelmäßige Administrieren einerseits und den willigen Nachvollzug von Vorgaben aus Wirtschaft und Ideologiefabriken andererseits. Der Substanzverlust von Politik findet schließlich seinen Ausdruck in ihrer leeren Selbstinszenierung durch die Medien. Politik ist Talkshow, wo man öffentlich Politik simuliert.

In diesem Kontext werden die Steuerskandale, schwarzen Kassen, Bereicherungsversuche so bedeutsam. Wenn die Politik schon keine Politik mehr ist - was bleibt von ihr?

Das werden wir bald erfahren. Wir haben ja einen "Modernisierungs"-Kanzler, der vieles besser machen möchte. Die politische Klasse und er haben die Gelegenheit dazu: wenn sie die Skandalserie aussitzen und höchstens taktisch nutzen, um ihre eigenen Schwächen zu verdecken und dem Gegner eins auszuwischen, dann haben sie entweder ihre Lernunfähigkeit oder ihr Interesse an einer Kultur der Korruption nachgewiesen. Wenn sie aber in der aktuellen Situation die Kraft und den Willen finden sollten, ein entschlossenes Reformpaket zur Überwindung der eigenen, fast mafiotischen Strukturen und Mentalitäten vorzulegen und durchzusetzen, dann, ja dann, bestünde Hoffnung auf eine Rückkehr der Politik.

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