Die neueste Kaschmir-Krise ist potentiell weit bedeutsamer als es der Kosovo-Krieg war. In Indien und Pakistan leben 1,1 Milliarden Menschen, fast ein Fünftel der Weltbevölkerung, und ein Krieg zwischen beiden Atommächten wäre in jeder Hinsicht ein Super-GAU.
Anfang Mai entdeckte das indische Militär einige hundert aus Pakistan eingedrungene Aufständische in der Nähe der Waffenstillstandslinie Kaschmirs. Ein paar Wochen später begann die indische Armee mit einer Offensive gegen die schwer bewaffneten Eindringlinge, zu denen auch pakistanische Soldaten gehören sollen. Inzwischen hat Indien 40.000 zusätzliche Soldaten in die Region verlegt, moderne Kampfflugzeuge eingesetzt. Während der indische Verteidigungsminister Ende Mai noch glaubte, die Eindringlinge »innerhalb von drei Tagen« aus dem Lande treiben zu können, rechnet der Generalstab heute mit weiteren zwei Monaten - falls die Operation nach Plan verläuft. Dabei kommt es inzwischen immer wieder zu direkten Gefechten zwischen indischen und pakistanischen Truppen über die Waffenstillstandslinie hinweg. Beide Seiten sprechen von einer »kriegsähnlichen Situation« und der Ausbruch eines großen Krieges ist nicht mehr ausgeschlossen.
Innenpolitisches Ventil
Der Kaschmir-Konflikt ist zuerst einmal der Versuch der indischen Regierung, durch militärische Gewalt den Kaschmiris auf ihrer Seite der Grenze das Selbstbestimmungsrecht vorzuenthalten. Nach zehn Jahren gewaltsamen Widerstandes sind inzwischen schätzungsweise 30.000 Tote zu beklagen, vorwiegend durch die brutale Repression der indischen Truppen in Kaschmir - zeitweise mehr als eine halbe Million. Indien mag plausible Gründe für seine Politik der »harten Hand« haben, etwa die Sorge, daß der Zerfall seines Vielvölkerstaates und Aufstände in anderen Landesteilen nur auf diese Art gestoppt werden können. Trotzdem sind die Menschenrechtsverletzungen und Repres sionen eine zentrale Quelle des Konflikts. Die gegenwärtigen Kämpfe haben diese interne Dimension des Problems wieder verschärft; während noch im Frühjahr die Lage im indischen Teil Kaschmirs so ruhig wie lange nicht war und die Aufstandsbewegung weitgehend zerschlagen schien, rührt sich nun wieder stärker Widerstand. Die Praktiken der indischen Armee - etwa das Niederbrennen ganzer Dörfer - haben dazu wesentlich beigetragen.
Die bilateralen Beziehungen Indiens und Pakistans befinden sich heute auf dem absoluten Tiefpunkt, nachdem noch im Februar beim Gipfeltreffen beider Regierungschefs in Lahore Optimismus herrschte. In den letzten 50 Jahren haben beide Länder drei Kriege gegeneinander geführt, davon zwei um Kaschmir. 1986/87 und 1990 standen weitere Kriegsausbrüche kurz bevor. Inzwischen sind die Streitkräfte beider Seiten wieder in Alarmbereitschaft versetzt und Truppen an die Grenze verlegt worden, selbst die Kriegsmarine beider Länder ist zum Kampf bereit. Und: Vor einem Jahr haben beide - Indien und Pakistan - mehrere Atomsprengköpfe getestet. Der Einsatz von Nuklearwaffen gilt heute als selbstverständliche Kriegsoption auf dem Subkontinent. Pakistan ist auf konventionellem Gebiet Indien weit unterlegen und auch strategisch benachteiligt: seine Hauptstand Islamabad und die beiden größten Städte Karachi und Lahore (mit 15 bzw. 8 Millionen Einwohnern) liegen relativ nah an der Grenze zu Indien. Deshalb besteht die Gefahr, daß Pakistan im Kriegsfall zum Ausgleich der eigenen Unterlegenheit als erstes Atomwaffen einsetzen würde - mit den entsprechenden, verheerenden Folgen eines indischen Gegenschlages.
Instabile Region
Darüber hinaus sind die indisch-pakistanischen Beziehungen auch für die instabile Gesamtregion von hoher Bedeutung. Die Bürgerkriege in Afghanistan und Tadschikistan, die neuen Staaten Zentralasiens mit ihren riesigen Energieressourcen und die unmittelbare Nähe der Atommächte China und Rußland bilden ein Umfeld, in dem gewaltsame Spannungen zwischen den beiden Ländern leicht zusätzliche Krisen hervorrufen können.
Der Kaschmirkonflikt prägt zugleich die Innenpolitik in Indien und Pakistan auf vielfältige Weise. Das gilt einmal politisch: seit der Spaltung des Subkontinents und der Gründung der beiden Staaten war Kaschmir nicht nur Zankapfel, sondern oft das Symbol ihrer Feindschaft, eine identitätsstiftende Wunde der eigenen Geschichte. Heute engt dieser Symbolgehalt den Spielraum beider Regierungen ein: etwa wenn die islamistische Oppositionspartei Jamaat-i-Islami Ministerpräsident Nawaz Sharif scharf davor warnt, einer Teilung Kaschmirs entlang der heutigen Waffenstillstandslinie zuzustimmen. »Kaschmir« bedeutet die Chance einer wirksamen Emotionalisierung von Politik - entweder gegen die eigene Regierung, der man bei jeder Annäherung an den Nachbarn »Verrat« und die Aufgabe der umstrittenen Bergregion vorwerfen kann, oder umgekehrt: wenn eine Regierung sich innenpolitisch schwach fühlt und die Bevölkerung mit patriotischem Gefühl hinter sich bringen möchte. Diese Gefahr besteht im indischen Wahlkampf, wenn der amtierende Ministerpräsident Vajpayee die Kaschmir-Karte mit Mäßigung und Geschick spielt; und in Pakistan, wo der wieder sehr unpopuläre Nawaz Sharif seine autoritären Tendenzen und sein wirtschaftliches Scheitern hinter der Nebelwand Kaschmirs verstecken möchte.
Unzweifelhaft liegt die Hauptschuld der gegenwärtigen Eskalationsrunde in Islamabad: Dort hat man versucht, eine Internationalisierung des Konfliktes durch militärische Eskalation zu erzwingen. Aber so sinnvoll es wäre, den Konflikt endlich im Rahmen eines internationalen Forums wie der UNO zu behandeln, so riskant war das Risiko der militärischen Konfrontation.
Schwere Belastungen
Denn die »kriegsähnlichen Auseinandersetzungen« stellen ja für beide Länder bereits vor der Stufe einer weiteren Eskalation eine schwere Belastung dar: Sie zwingen den politischen Diskurs wieder ins Stahlkorsett eines jahrzehntealten Konfliktes und zerstören so die einzige zukunftsorientierte Option, einer Zusammenarbeit beider Länder. Und sie bilden eine schwere wirtschaftliche Belastung. Indien mag im Vergleich zu Pakistan über eine größere und stärkere Volkswirtschaft verfügen, aber der dauerhafte Einsatz von einer halben Million Soldaten in Kaschmir und die Kriegführung in Gebirgshöhen von über 6.000 Metern stellen ungeheure Anforderungen an Personal, Logistik, und Finanzkraft. Aber Indien verfügt zumindest noch über Devisenreserven von 30 Milliarden Dollar. Pakistan dagegen bewegt sich ohnehin am Rande des Staatsbankrotts und ist innenpolitisch entsprechend fragil. Es kann sich einen teuren Abnutzungskrieg in Kaschmir - und erst Recht einen großen Krieg entlang der gesamten Grenze - noch viel weniger leisten.
Die Situation ist absurd: Beide Länder haben zwar ein taktisches Interesse an Spannungen an der Grenze, aber ein viel grundlegenderes an einem Spannungsabbau und verstärkter Kooperation. Trotzdem besteht heute die Gefahr, daß die künstlich produzierte Krise gegen den Willen beider Seiten zu einem großen Krieg eskaliert, neben dem der Kosovo-Krieg wie ein kleines, bedeutungsloses Scharmützel wirken könnte.
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