Der Willkommensgruß, den das 21. Jahrhundert seinen Zeitgenossen bot, hätte freundlicher und weniger anachronistisch ausfallen können. Im Namen des alten Gottes wurde das moderne Zentrum des Welt-Geldes so medienadäquat wie terroristisch in Schutt und Asche gelegt. Die Symbolik des Ereignisses war eingängig, gerade weil sie an älteste religiöse Bestände anknüpft: neo-babylonische Türme mussten zusammenstürzen, um die Hybris der Moderne zu strafen. Spätestens seit den traumatisierenden New Yorker und Washingtoner Schockereignissen vom 11. September 2001 ist auch für den vollends aufgeklärten Kopf unverkennbar, dass Wissen über Religion heute aktuelles Basiswissen ist.
Als intellektuelle Aufgabe par excellence galt es und muss es aus besten Gründen weiterhin gelten, Vereinfachungen zu vermeiden und halbwegs auf dem Komplexitätsniveau zu analysieren, das durch Leitbegriffe wie "Paradoxien" oder "second-" bzw. "third-order-observation" angezeigt wird. Und das heißt: es kommt darauf an zu beobachten, wie andere uns (und unsere Beobachtung von ihnen) beobachten. Divergenzen und Dissonanzen sind bei diesem Beobachtungs-Spiel unvermeidlich.
Die westliche Selbstbeobachtung, man sei säkular-liberal und habe Gott zur Privatangelegenheit gemacht, bekommt zum Beispiel einen dramatischen shift, wenn man sie um die im islamischen Raum häufig anzutreffende Fremd-Beobachtung ergänzt, dass wir gerade damit auf Missionierungsprojekte umgeschaltet haben. "Der Westen" missioniert nicht mehr im Namen Gottes, sondern er emittiert unablässig und gespenstisch erfolgreich die Geld- und Informationsströme, die weltweit zählen. Auch diese Medien haben eine kryptotheologische Botschaft - was wir kaum mehr wahrnehmen, obwohl die globalisierende Missionstheologie von Geld- und Medienströmen für die, die Ohren haben zu hören, kaum zu überhören ist. Der Geldverkehr zielt nicht auf Erlösung, sondern auf Erlöse; er macht uns zu Schuldnern und Gläubigern; er beruht nicht auf Credo, sondern auf Kredit; er schickt uns nicht in kirchliche, sondern in Handels-Messen. Und Medien gehen auf Sendung, sie haben Sendungsbewusstsein, sie sind televisionär, sie schalten von Kommunion auf Kommunikation um. Kurzum: die so genannte abendländisch-christliche Kultur hat ungeheure Umstellungen, Transformationen und Konversionen (ein Schlüsselwort, das nicht umsonst auf religiösem, monetärem und medientechnischem Terrain Geltung hat!) hinter sich, die es ihr schwer machen, noch die missionarische Kontinuität ihres Projektes wahrzunehmen.
"Ausweitung der Kampfzone": der Titel von Michel Houellbeques ansonsten mäßigem Roman ist ein Epochentitel. Er macht darauf aufmerksam, dass man im Namen des All-Einen alles angreifen kann. Ausgeweitet wird die Kampfzone, weil das, wofür sich eigentlich zu kämpfen lohnt, sich auf eines konzentriert: auf den Namen Gottes. Zu den schrecklichen und faszinierenden Anachronismen all der religiös motivierten Konflikte gehört es, die eigentümliche Fixierung von Neuzeit und Moderne auf Prozesse der zeitlichen Beschleunigung beharrlich zu unterlaufen und stattdessen offensiv auf die von den avancierten Medien fast vergessenen Raumgrenzen hinzuweisen. Geld- und Informationsströme ignorieren und überwinden Raumgrenzen beharrlich. Gegen ihre so skandalös funktionale, herrlich gelassene Missionskraft Mauern (wie paradigmatisch die in Berlin) zu errichten, ist ein Akt von geradezu rührender Naivität. Naivitäten aber können ins Grauenhafte umschlagen, wenn sie ernst oder von "den anderen" nicht ernst genommen werden. Mauern können die Geldströme und Medien nicht aufhalten, die sich so deutlich mit raum- und grenzübergreifenden Namen wie Rundfunk / Radio, Television oder worldwideweb versehen.
Die neuen elektronischen Medien sind so schnell und raumunsensibel wie das Geld, das sie in und aus allen Weltecken transferieren. Dagegen revoltieren alle Spielarten des Fundamentalismus. Fundamentalismus meint ganz buchstäblich, das Fundament, den Boden, den Raum zu heiligen, auf dem man steht. In Mekka dürfen keine Nichtmuslime auftauchen; im Kosovo stehen seit Jahrhunderten serbische Klöster, und also ist das Kosovo serbisch; diese paar Quadratmeter in Jerusalem gehören seit x Jahren unteilbar den Muslimen beziehungsweise den Juden; das symbolische Zentrum des Weltkapitals, das World Trade Center im Herzen der Metropole einer raumübergreifenden Multikulturalität muss zerstört und ground zero werden: so überaus handfest und raumfixiert, eben fundamentalistisch sieht die Revolte aus, die im Namen Gottes gegen die funktionalen Gottes-Substitute Geld und Medien geführt wird.
Im Namen Gottes greifen Fundamentalisten (die es notabene nicht nur im islamischen Raum gibt) die Hybris der Moderne an. Damit knüpfen sie an ein, wenn nicht das religiöse Grundmotiv schlechthin an: Menschen dürfen nicht sein wollen wie Gott. Hybris ist schrecklich, Hybris ist verdammungswürdig, Hybris ist der Anfang vom Ende. Unzählige Mythen, Legenden und Berichte halten ein und dieselbe Botschaft parat: Menschen, die übermütig sind (wie die Erbauer des Turms von Babel), Menschen, die (wie Ikarus) abheben und glauben, etwas Besseres zu sein als der Rest der Welt, Menschen, die sich (wie Prometheus oder Ilsebill, die Frau des bescheidenen Fischers) über andere und noch über göttliche Tabus erheben, werden überheblich, freveln und gehen zugrunde. Kritik an Hybris ist deshalb eine Selbstverständlichkeit, die nicht ernsthaft zur Diskussion steht.
Hybris-Kritik scheint um so mehr geboten, je entbundener und mächtiger der Frevel wird. Wenn nicht mehr nur einzelne Figuren, sondern ganze Verbände, Kulturen, Lebensformen und Staaten übermütig werden, gewinnt die tradierte Kritik an Hybris neue Aktualität. Nichts ist leichter und - um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen - auch nach der bescheidenen und unmaßgeblichen Meinung des Schreibers dieser Zeilen angemessener als zum Beispiel den Imperialismus der westlichen Staaten als unerträgliche Hybris zu kritisieren.
Das tradierte Konzept der Hybris-Kritik ist von immer gleichbleibender Frische. Zu seinen Vorzügen gehört, dass es (fast) eine mentale und kulturelle Universalie ist. Ausdrückliche Plädoyers für Hybris wird man kaum finden. Allenfalls exzentrische Programme wie die des Futurismus oder die satanischer Sekten werden sich für Hybris aussprechen. Ansonsten aber gilt: jeder "normale" Mensch, ob fromm oder unfromm, links oder rechts, pro- oder antimodern, wird vor Hybris zurückschaudern. Selbstbewusstsein darf man haben - Hybris nicht. Hybris ist so kritikpflichtig, wie Bescheidenheit, guter Wille und Moral immun gegen Kritik sind.
Zum unwiderstehlichen Charme der Kritik an Hybris gehört es, dass sie sich gerade auch im Hinblick auf schwer durchschaubare, weil hochkomplexe moderne und postmoderne Entwicklungen bewährt. Was "Globalisierung" eigentlich ausmacht, dürfte sich selbst hochspezialisierten Volkswirten kaum erschließen, und ob gentechnisch veränderte Tomaten oder Maiskolben eine Gefahr oder eine Chance für die Welternährungslage darstellen, ist selbst unter Fachleuten kräftig umstritten. Doch gerade angesichts solch hyper-komplexer Themen ist es attraktiv, mit dem Hinweis auf "Hybris" vor den Gefahren der Globalisierung oder der Gentechnik zu warnen. Das kritische Schlüsselwort "Hybris" verspricht den Überblick, den man nur hat, wenn man einen erhöhten Standpunkt einnimmt.
Und so tut sich ein Abgrund auf. Hybris lässt sich so leicht nicht kritisieren. Wer Hybris kritisiert, verkennt nämlich systematisch, dass sein Tun hybrid ist. Wer die Hybris des anderen kritisiert, erhebt sich automatisch über dessen Hybris und läuft somit Gefahr, noch überheblicher zu sein als der Überhebliche. Der Vorteil der Hybris-Kritik aber ist es, dass ihre hybriden Momente selten wahrgenommen werden - denn man kritisiert ja gerade die Hybris. Dabei gibt es reiches Material, um zu illustrieren, wie gespenstisch nah verwandt die Hybris und die Hybris-Kritik sind. Man kann, wie der Leninismus, mit besten Gründen den Imperialismus als Hybris kritisieren und sodann im Namen der humanistischen Überlegenheit von Sozialismus und Kommunismus ganze Völkerscharen gegen ihren Willen in einem Mega-Imperium vereinen. Oder man kann, da man als sanfter Wüstenweise Allahs Willen bestens kennt, im Namen des Allmächtigen die Hybris der USA handfest kritisieren, die altehrwürdigen Gesetze der Gastfreundschaft brechen, überhebliche neo-babylonische Türme mit menschlichen Bomben auf ground-zero-Niveau stutzen und Massenmord an ein paar Tausend unschuldigen Menschen üben.
Was man, wenn man so Hybris-kritisch handelt, in der Regel nicht mehr beobachtet, ist, wenn nicht schnell, so doch auf den zweiten bis tausendsten Blick ersichtlich: man beobachtet nämlich selbst offensichtliche Paradoxien nicht mehr. Zum Beispiel diese: dass man als Hybris-Kritiker schnell hyper-hybrid werden kann. Oder dass, wenn die schlichte Theologie stimmt, derzufolge geschieht, was Gott - er sei gelobt - will, Gott doch offenbar dieses will: diejenigen bestrafen, die seinen Namen systematisch für Massenmord, Frauenunterdrückung, perverse Rechtssysteme, unfreie Presse, undemokratische Ordnungen und dergleichen missbrauchen.
Diskussionen um Hybris werden klüger und komplexer, wenn sie nicht mit der allzu obligatorischen, ein wenig zu selbstverständlichen Hybris-Kritik, sondern mit der Vermutung starten, dass Menschen überhebliche Wesen sind, die systematisch über ihre Verhältnisse leben. Menschen ist es verwehrt, nicht hybrid zu sein. Sie können bescheiden darauf verweisen, dass sie gerne bescheiden wären - wenn man sie nur ließe. Aber ausgerechnet der Gott, der der einzige zu sein behauptet (oder von dem bescheidene Menschen behaupten, er sei der einzige) und der sich über die Hybris seiner Geschöpfe beschwert, hat Menschen auf die hybride Konstruktion verpflichtet, er habe sie nach seinem Bilde geformt. Wie sollen die (Un-)Wesen nicht hybrid und verrückt werden, denen von höchster Instanz gesagt wurde, sie seien nach dem Bilde eben dieser höchsten Gottes-Instanz geschaffen, von der sie sich selbst kein Bildnis machen dürfen?
Hybrid sein heißt, auf solche Paradoxien souverän zu reagieren. Souverän reagiert, wer bescheiden darauf verweist, dass Hybris unvermeidbar ist. Denn als Mensch da zu sein heißt nicht nur, überheblich zu sein und systematisch zu freveln, sondern auch ständig Kategoriengrenzen zu überschreiten. Menschen sind Fleisch gewordene Kategorienfehler; sie sind, um Gottfried-Benn-Verse zu paraphrasieren, arme Hirnhunde, schwer mit Geist und Gott behangen, der Welt so matt, die sie überwinden und hinter sich lassen wollen. In den vergangenen Jahren hat sich neben der ersten Bedeutung des griechischen Wortes "Hybris" (Frevel, Übermut, falscher Stolz) die zweite tiefere Dimension der Worte "Hybris/hybrid" zunehmend in den Vordergrund geschoben. Wir sprechen von Hybridmotoren und meinen kombinierte Elektro- und Benzinmotoren, von Hybridpflanzen und meinen Kreuzungen aus Mais und Tomaten, von Hybridtieren und meinen eierlegende Wollmilchsäue. Hybrid sein heißt dann: altehrwürdige Gattungsgrenzen übersprungen haben.
Menschen überspringen systematisch Gattungs- und Kategoriengrenzen. Sie sind endlich und träumen von Unendlichkeit; sie sind instinktentbundene Mängelwesen und arbeiten daran, dass ihre Mangelhaftigkeit mangelt; sie sind aus krummen Holz geschnitzt und proben den aufrechten Gang; sie sind Affektbündel und bemühen sich um reine Vernunft. Menschen sind Kreuzungen und haben ihr Kreuz zu tragen. Die Kultur, die ein besonders intimes Verhältnis zur Hybris entwickelt hat, ist nicht umsonst die so genannte abendländisch-christliche. Christus ist die hybride Figur schlechthin. Er hat die Grenzen zwischen Zeitlichkeit und Ewigkeit gekreuzt; er ist zugleich Gottes- und Menschensohn. Wieviel Hybris muss ein Mensch haben, der von sich sagt, sein Vater sei kein anderer als der eine Gott selbst, und er sei der Weg, die Wahrheit und das Leben? Auch hier gibt es ersichtlich ein Invisibilitätsproblem: theologisch-systemkonform beobachtet werden soll Jesus Christus nicht als Inkarnation von Hybris, sondern als der, der sich für hybrid sündigende Menschen opfert. Man muss schon (zum Beispiel mit Goethes Hilfe Fausts Erdengang verfolgend) auf diabolisch-hybride Beobachtung umschalten, um erkennen zu können, wie unbescheiden die Selbstbescheidung sein kann.
Für die Produkte eines erfolgreichen Sprungs über Gattungs- und Kategoriengrenzen hinweg gibt es ein altes Wort: Monstren. Monstren (heißen sie Sphinx oder Melusine, Homunculus oder Frankenstein, ET oder Neo) haben Menschen seit jeher fasziniert. Denn Menschen selbst spüren, dass sie Monstren sind und dass - nach einer bedeutenden Wendung des Literaturwissenschaftlers Hans Mayer - Monstren "der Ernstfall von Humanität" sind. Dass wir monströse Wesen sind, kann man Hybris-kritisch bekämpfen und damit in Kauf nehmen, dass Hybris sich potenziert. Man kann aber auch gelassen ertragen lernen, dass Menschen nur eine Option offen haben: Hybridwesen zu sein.
Kunst ist das alte und vergleichsweise harmlose Tummelfeld der Hybris. Künstler wollen anbetungswürdige zweite Götter und unsterbliche Genies sein, die die Hybris der Politik, Ökonomie, Theologie und Technik schlagend kritisieren. Dass sich Kunst (und das Theater vorweg!) so glanzvoll auf die Rolle verstand, hybride Charaktere (von Prometheus und Ödipus über Faust und Wallenstein bis zu Arturo Ui und den Physikern) zu kritisieren, ist leicht zu verstehen: Kunst versteht sich auf Hybris, weil sie zumindest ahnt, dass Hybris nicht ernsthaft zur Disposition steht. Mit zunehmender Irritation aber nimmt Kunst (und vorweg erneut das Theater, dem hybride Medientechnik so gnadenlos Konkurrenz macht) zur Kenntnis, dass sie ihr angestrebtes Hybris-Privileg irreversibel verloren hat. "Wir schaffen die großen Werke und werden sein wie Gott" sagen nicht mehr nur die Künstler, sondern unter anderem auch und vertrackt bescheidener, zugleich aber wirkungsmächtiger die Gentechnologen. Und dass Hybris kritikbedürftig ist, sagen alle - Hybridwesen. Sollte es möglich sein, bescheiden zu akzeptieren, dass wir hybrid sind? Sollte es möglich sein, auf das hybride Projekt der Theologie und der Krypto-Theologien zu verzichten? Heißt Theo-Logie nicht: Gott einer Logik zu unterwerfen, zu wissen vorgeben, was man nicht wissen kann?
Jochen Hörisch ist Professor für neuere Germanistik und Medienanalyse an der Universität Mannheim. Von ihm erschienen zuletzt: Der Sinn und die Sinne - Eine Geschichte der Medien (Andere Bibliothek 2001); Ende der Vorstellung - Die Poesie der Medien (Suhrkamp 1999) und Kopf oder Zahl - Die Poesie des Geldes (Suhrkamp 1996).
Der nächste Beitrag folgt in Freitag 33: Christina von Braun über Säkularisierung
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