Haben Sie die WM gesehen? Richtig live auf dem Bildschirm verfolgt? Ich habe, und es hat sich gelohnt. Durch die Zeitverschiebung konnte man die erste Leichtathletik-WM auf dem amerikanischen Kontinent hier zwar erst zu unchristlicher Stunde sehen, aber wie gesagt, es war´s wert. Nicht unbedingt, weil die »olympische Kernsportart« so spannend wäre, sondern als Testlauf sozusagen. Probe für die richtige WM, die Fußball-WM, in Japan und Südkorea. Also mit Chips und Bier vor den Fernseher und versuchen die Augen offen zu halten.
Zugegeben, bei Laufen und Springen wach zu bleiben ist schwieriger als beim Fußball. Wie viel dramatischer, wenn nicht gar lyrischer ist das Fußballerlebnis mit Blutgrätschen und Bananenflanken als die schnöde Aschenbahn. Und was man dann so sehen konnte zu nächtlicher Stunde waren meistens Fehlstarts. Das einzig wirklich Berührende waren die 100 Meter der Frauen: Die durch und durch sympathische Marion Jones geschlagen von einer Frau mit dem abstoßenden Namen Shanna Pintusewitsch-Block, die in einem schlechtsitzendem Badeanzug rannte.
Die 100 Meter der Männer waren eher langweilig, da stand Maurice Green ja schon vorher als Sieger fest. Auch wer Letzter werden würde, war leicht zu erraten: Trevor Misipeka, der Mann aus dem Land mit dem obskuren Namen Amerikanisch-Samoa, brachte seine sage und schreibe 136 Kilo Lebendgewicht in 15 Sekunden über die Ziellinie. Trevor ist eigentlich Kugelstoßer, doch seine läuferische Leistung feierten die Kanadier frenetisch und nannten ihren Liebling zärtlich »Trevor the Elephant«.
Überhaupt: Die Kanadier! Viel Lustiges wurde berichtet aus Land der Holzfäller. Das dieser Tage viel zitierte Edmonton Journal brachte tatsächlich eine Info-Beilage heraus, in der erklärt wurde, dass am Ende des Startkommandos ein Schuss fällt, der »bang«, man solle nicht erschrecken. Es wurde von Leuten erzählt, die bis zur Abschlussfeier nicht von der WM redeten, sondern von den »Games«, also der Olympiade. Für viel Gelächter sorgte ein kanadischer Geschäftsmann, der eine Karte fürs Radrennen kaufen wollte.
Wegen dieser naiven Freude am Sport wehte Kanada, vor allem Edmonton, viel Häme von der versammelten internationalen Sportpresse entgegen. »Deadmonton« hatte die bitterböse englische Presse das WM-Städtchen wegen seiner Trostlosigkeit genannt. Außerdem hatten sie sich über die überschäumende Jubelfreude lustig gemacht, mit der selbst die schlechteste Leistung der Heimmannschaft unterstützt wurde. Und die Engländer gruben auch das schöne Bonmot aus, wonach Edmonton zwar nicht das Ende der Welt sei, man hätte aber von da aus einen ganz guten Blick darauf.
Überhaupt: Die Engländer! Von den ehemaligen Kolonialherren hätte man mehr britische Zurückhaltung erwartet. Die wackeren Edmontonians reagierten beleidigt, als ihnen langsam ein Licht aufging, welch böses Spiel man draußen in der weiten Welt mit ihnen trieb. Man habe schließlich auch einiges zu bieten, das größte Einkaufszentrum der Welt zum Beispiel. Und hat Wayne Gretzky etwa in London gespielt? Nein, in Edmonton.
Überhaupt: Wayne Gretzky! Der heilige Wayne, die Eishockeylegende, The Great One, war ganz klar das Wichtigste der WM. In Edmonton wird Gretzky in einem Atemzug mit der zweiten Sehenswürdigkeit der Stadt genannt, der weltgrößten Mall mitsamt weltgrößtem Parkplatz. Es gibt sogar eine Wayne-Gretzky-Straße. Edmonton hat sonst nicht viel zu bieten, aber eben Wayne Gretzky. Man muss sich das ungefähr so vorstellen, als wenn Franz Beckenbauer aus Bitterfeld käme.
Den Kanadiern allgemein blieb die Leichtathletik aber irgendwie fremd. Kein Wunder, es muss schon ein großer Kulturschock gewesen sein, als die heimische Footballmannschaft Edmonton Eskimos aus ihrem Stadion vertrieben wurde und lauter springende und sprintende Ausländer einzogen. Was Wunder also, dass Kanada nur eine einzige Medaille gewonnen hat: In einem Schaurennen der Rollstuhlfahrer belegte Jeff Adams den zweiten Platz über 1.500 Meter. Im offiziellen Wettbewerb allerdings standen keine Kanadier auf dem Treppchen. Rekord! Das war das erste Mal in der Geschichte der Leichtathletik, dass eine Nation die WM ausrichtete und dabei selbst leer ausging.
Obwohl ja zu den größten Athleten des Landes immer noch Sprinter Ben Johnson, der »Doping-Sportler des Jahrhunderts«, zählt. Und natürlich Wayne Gretzky. Der stieg auch irgendwann vom Sportolymp herunter zu den Seinigen in Edmonton, um Pintusewitsch-Block zu ehren. Ausgerechnet.
An jenem Tag soll das sonst eher verhalten besuchte Stadion richtig voll gewesen sein. Nur wegen ihm, Wayne Gretzky. Wurde mir erzählt, selbst gesehen habe ich es nicht mehr. Eingeschlafen.
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