Irritierende Blicke

Politik aus dem Süden Steht mit der "documenta XI" eine "westliche Institution" in Frage?

Es wäre naiv, anzunehmen, sagt Okwui Enwezor, Kurator der documenta XI, dass Kunst von Politik und Gesellschaft zu trennen sei. Im Gegenteil: Explizit bekennt sich Enwezor zu "engagierter" Kunst - einer Kunst, die politische und gesellschaftliche Zusammenhänge analysiert, Missstände aufzeigen und einen Beitrag zu ihrer Bekämpfung leisten will. Und so könnte die documenta XI, die am 8. Juni 100 Tage lang den etwa 600.000 erwarteten Besuchern ihre Tore öffnen wird, zu einer der politischsten in der Geschichte dieser wohl bedeutendsten Ausstellung zeitgenössischer Kunst werden.
Nun hat der in New York lebende Kurator nigerianischer Herkunft mit seiner Vorliebe für engagierte Kunst wenig im Sinn mit Arbeiten, die sich der künstlerischen Form lediglich als Vehikel widerspruchsfreier politischer Gesinnung bedienen. Vielmehr favorisiert Enwezor Künstler und Künstlerinnen wie die Inderin Vivat Sundaram: Die druckte für die ebenfalls von Enwezor kuratierte Biennale in Johannesburg 1997 Texte bekannter indischer Ökonomen auf dünne Metallfolien, heftete sie zu Büchern zusammen und hängte diese an die Wände eines Raums, dessen Boden von kleinen Fotos übersät war, die - alle in den selben billigen kleinen roten Plastikrahmen - indische Marktsituationen zeigten. Ähnlich "engagiert" zeigen sich die Installationen der Kubanerin Tania Bruguera etwa zum Krieg in Angola, der in London lebenden Libanesin Mona Hatoum mit ihren teils drastischen Sichten auf den Nahost-Konflikt oder die soziologisch fundierten Foto- und Videoarbeiten der Iranerin Shirin Neshat zu Geschlechterrollen. Alle drei werden sie in Kassel dabei sein.
Besonderes Gewicht legt Enwezor auf Arbeiten, die aus postkolonialer Perspektive auf die klassische Moderne blicken. "Irritierend", sagt er, soll dieser Blick auf eine Moderne wirken, die der Westen nicht nur politisch und ökonomisch, sondern auch kulturell allein zu vertreten beansprucht, wie es die documenta-Geschichte von 1955 bis 1997 auch trefflich dokumentiert. In diesem Jahr soll das nun ganz anders aussehen. Und so kommen um die Hälfte der 118 von Enwezor und seinen Co-Kuratoren nach Kassel geladenen Künstler, Künstlerinnen und Künstlerkollektive aus dem Süden oder weisen eine migrantische Herkunft auf.


Postkoloniale Kunst



"Noch immer", so Okwui Enwezor, "ist nicht hinlänglich anerkannt, dass die großen historischen Momente der Moderne für ein neues Publikum umgeschrieben werden müssen, das nicht mehr unter dem ständigen Schatten obsoleter Vorurteile lebt (...). In bezug auf die moderne Kunst zieht dies die Notwendigkeit nach sich, eine Haltung abzulehnen, die den kreativen Output von Tausenden von Männern und Frauen sogenannter nicht-europäischer Herkunft für die Entstehungsmomente der Kunst dieses Jahrhunderts ausschließt." "Und", so fragte Enwezor 1999 bezogen auf die große Kölner Ausstellung Kunstwelten im Dialog, "was wäre eine Ausstellung wert, die nicht erkennen will, dass die Auflösung der europäischen Kolonien in der ganzen Welt einen gewaltigen Wandel nach sich gezogen hat?"
Tatsächlich wurden künstlerische Produktionen aus dem "zurückgebliebenen" oder "unterentwickelten" Süden bis vor kurzem in der Regel unter Etiketten wie Kunsthandwerk, Folklore und Kultobjekt verbucht. "Modern" jedenfalls konnten sie per (territorialer) Definition nicht sein. Bestenfalls dienten sie der europäischen Avantgarde als Ideenpool für eine Weiterentwicklung ihrer Formsprachen. Beispielhaft dafür sind etwa die Einflüsse traditioneller(?!) afrikanischer und asiatischer Kunst auf die Werke von Picasso oder van Gogh.
In dieses materiell und ideologisch einseitige Machtverhältnis scheint in den vergangenen Jahren jedoch Bewegung gekommen zu sein. Dafür spricht jedenfalls die Flut von internationalen Kunst-Biennalen, die in den Neunzigern die Szene der modernen Kunst aufmischten. Havanna, Sao Paulo, Johannesburg, Dakar, Istanbul oder Seoul stehen für einen Trend, der - zumindest auf den ersten Blick - neue Räume für KünstlerInnen eröffnet, die eine ungewohnte, häufig lokale Zusammenhänge ins Zentrum rückende Perspektive auf die vollends globalisierte kapitalistische Moderne entwerfen und dabei neben den eigenen Erzählungen auch spezifische Stilformen zur Geltung bringen.
So weisen Werke der afrikanischen Künstler oft eine ganz eigene Mischung etwa orientalischer Dekoration mit der Abstraktion der klassischen Moderne auf. Auch inhaltlich sind viele junge Akteure auf der Suche nach Wegen zwischen Ablehnung, Aneignung und Neuinterpretation überkommener hegemonialer Zuschreibungen. "Wir haben jegliche Art von geografischen, historischen oder kulturellen Konnotationen satt - sei es Ost, West, der Orient, Europa, Asien, Nord, Süd oder Brücke," erklärt etwa Hüseyin Alptekin für eine junge Generation türkischer Künstler. "Wir müssen lernen, diese Referenzen, Metaphern, Symbole und Anspielungen zu vergessen und auszulöschen, um dann nach neuen Bedeutungen und Inhalten suchen zu können."


Scharfer Intellekt und schiere Eleganz



Intellektuell fußen viele solcher Ansätze auf den Konzepten der Cultural und Postcolonial Studies. Auf diese bezieht sich Okwui Enwezor, der schon die Biennale von Johannesburg nicht nur "einfach bloß als Kunst", sondern als "multidisziplinäre Ausstellung" verstanden wissen wollte. Er knüpft damit an Catherine David an, die die letzte documenta kuratierte und im Textteil vom Buch zur documenta X bereits das Who is Who postmoderner und postkolonialer Gesellschaftskritik versammelte. Fünf Jahre später prägten Wissenschaftler und Theoretiker wie Stuart Hall oder Homi Bhabha mit ihren Thesen auch die vier "Diskussionsplattformen" in Wien/Berlin, Neu Delhi, St. Lucia und Lagos, die Enwezor der documenta XI voraus geschickt hat. In Berlin erklärte also Bhabha, dass "die Globalisierung ihre kolonialen Genealogien delinealisieren" und diesen eine "kulturelle Front" gegenüber gestellt werden müsse, in der sich subalterne Gruppen "tangential" zu staatlichen Praktiken verhielten.
Übersetzt aus dem Cultural-Studies-Speak heißt das wohl, dass lange ungehörte Erzählungen des kolonialen und nachkolonialen Südens die Hegemonie der gängigen Geschichtsschreibung, ja der Ideologie- und Herrschaftsverhältnisse insgesamt in Frage stellen sollen. Beispiele künstlerischer Auseinandersetzungen mit diesen historischen Verhältnissen präsentierte Enwezor im vergangenen Jahr bereits in Short Century, einer Ausstellung zur postkolonialen Moderne Afrikas. Für die documenta XI suchte der Kurator nun offensichtlich erneut nach Arbeiten, die der berühmten Frage von Gayatri Spivak "Can the subaltern speak?" nicht nur eine eindeutige Antwort geben, sondern darin auch die Subalternität der Sprechenden aufheben sollen.
Damit steht er nicht allein. Seit Ende der achtziger Jahre heben insbesondere Kuratoren und Künstler mit migrantischer Herkunft die in die Gegenwart hinein reichende Bedeutung des Kolonialismus hervor. Aus dieser Perspektive formulieren sie das Verhältnis von Zentrum und Peripherie ebenso neu wie Konzepte von Marginalität und Identität. New York ist das Mekka dieser postkolonialen Kunstszene. Hier entwickelt auch Okwui Enwezor seine Fragen: "Aus dem Blickwinkel einer Einwandererstadt wie New York betrachtet, in der Mexikaner, Puertoricaner, Iren, Polen, Inder, Nigerianer und zahlreiche osteuropäische Immigranten in einer Gemeinschaft zusammen leben, beschwören die Begriffe ›lokal‹ und ›global‹ verschiedene Bilder herauf, darunter auch die Vorstellung von einer Gemeinschaft, die es für jede einzelne Gruppe gibt (...). Wo genau in diesen Zwischenräumen zwischen lokalem Geburtsort und vorübergehendem Aufenthaltsort lassen sich das Lokale und das Globale ausmachen?"
Ein "diskursives Feld" will Enwezor an die Stelle der alten geschlossenen Erzählung setzen: "Die Künstler aus den ehemaligen Kolonialgebieten haben mit ihren Arbeiten eine grundlegende Neubewertung von Modernität bewirkt, und zwar in eben den Sprachen und Strukturen, in denen sich der europäische intellektuelle Diskurs und der westliche Kulturbetrieb bewegen." In Formsprache und Themenwahl beispielhaft für dieses von Enwezor protegierte postkoloniale Genre ist sicherlich Yinka Shonibare. Die mittlerweile auf vielen Ausstellungen gezeigten Arbeiten des britischen Künstlers nigerianischer Herkunft beruhen, so Enwezor, auf "scharfem Intellekt und ernsthaften Forschungen". Sein postnationaler Ansatz komme ohne "die abgestandene Pose des entrechteten Dissidenten" aus. Vielmehr überzeuge seine Arbeit durch "sorgfältig formulierte Kritik, selbstkritische Reflexion und schiere Eleganz".


Hybider Hype?



Shonibare produziert eigene, hybride Afrika-Konstrukte und widersetzt sich auf diese Weise gängigen Vorstellungswelten. Gleichzeitig, so betont Enwezor, stelle er "den Wunsch der zeitgenössischen Kunst nach einer Domestizierung postkolonialer Themen als weitere Stereotype der eigenen Disziplin in Frage." Damit berührt der documenta-Kurator einen wichtigen Punkt. Zwar irritiert moderne Kunst, die formal und inhaltlich Elemente aus Afrika, Asien oder Lateinamerika aufgreift, oft bereits durch ihr bloßes Dasein auf Präsentationen in Europa oder den USA. Zu dieser Feststellung der Bedeutung des Kontextes, in dem ein Werk ausgestellt wird, reicht - in umgekehrter Richtung - zunächst ein Blick auf die Biennale von Johannesburg 1997. Enwezor warf hier das Prinzip der Nationenbeiträge über Bord und lud sechs Co-Kuratoren aus verschiedenen Teilen der Welt ein, die einzig die Bedingung zu erfüllen hatten, dass ihr Projekt "nicht auf nationalen Kriterien beruhen dürfe und sie ihre territorialen Neigungen überwinden sollten". In Johannesburg gaben dann Künstler aus Lateinamerika und Afrika mit ihren Werken den Ton vor. Und in dieser Umgebung spricht die leicht verfremdete Fotografie einer sehr blonden, sehr hellhäutigen Frau des englischen Künstlers Sam Taylor-Wood den Betrachter plötzlich ganz anders an, als wenn sie in einer Londoner Galerie hinge. Im "deterritorialisierten" Kontext eröffnen sich also tatsächlich irritierende neue Betrachtungsweisen.
Dennoch sind Zweifel an einem Prinzip der Irritation durch bloße "Andersheit" angebracht. Es stellt sich nämlich die Frage, ob der "irritierende Blick" auf die westlich determinierte Moderne und deren Hochkultur nicht spätestens im Moment seiner allgemeinen Akzeptanz - und dafür steht etwa Enwezors Ernennung zum Kasseler Kurator - bereits deren Spielregeln unterworfen ist. So sind gerade die Künstler aus dem Süden längst Teil der globalisierten Moderne. Viele von denen, die es in die Nomenklatura des internationalen Kunstbetriebs geschafft haben, pendeln zwischen ihren Herkunftsorten und den Kunstmetropolen des Westens hin und her. Sie zeichnet nicht eine vermeintliche kulturelle Authentizität, sondern im Gegenteil eine Transnationalität aus, die mittlerweile selbst zum Markenzeichen wird.
Außerdem dringen die KuratorInnen bestenfalls bis in regionale Kunstzentren wie Havanna oder Sao Paulo vor. Der große Rest bleibt trotz Globalisierung des Kunstbetriebs Niemandsland: keine Biennalen, keine Galerien, keine Käufer. Migration wird so zum Muss. Dazu der auch in Kassel zu sehende chilenische in New York lebende Künstler Alfredo Jaar 1997: "Ich glaube, wir sind heute in der ersten Phase, in der es für Künstler aus der sogenannten Dritten Welt nötig ist, Präsenz in den sogenannten Zentren zu zeigen, um ihren Weg machen zu können. Wir werden jedoch eine zweite Phase erreichen, in der es nicht mehr nötig sein wird, die sogenannte Dritte Welt zu verlassen. Man kann (...) von seinem Land aus auf der Weltbühne der Kunst sichtbar sein. (...) Die Peripherie wird verschwinden, wir werden alle zu Zentren, und die eurozentrische Weltsicht wird ebenfalls verschwinden."
Vor dem Hintergrund des anhaltenden Migrationsdrucks für Künstler wendet sich Okwui Enwezor gegen einen romantisierenden Blick auf deren "Nomadismus" und gegen eine "Apologie des Hybriden". Zum einen, weil er weiß, dass die Viten von Diaspora und Exil, wie er es nennt, meist politisch oder ökonomisch erzwungen und oft genug von persönlicher Verzweiflung und Mangel an Perspektiven geprägt sind. Zum anderen möchte er eruieren, ob und welche Grenzen und Räume die hybride oder transnationale Kunst denn tatsächlich überschreitet. Zu recht, denn schließlich ist auch die Kunst ein Geschäft und funktioniert als solches nach den universal gültigen Gesetzen der westlich dominierten Märkte. Hier werden die einmal durchgesetzten Namen gehandelt, Hierarchien und Preise festgelegt. Provozierend sprach Stuart Hall auf der Wiener documenta-Plattform von der internationalen Kunstszene gar als einem "von Geld und Markt gesteuerten Elite-Club".
Die Welle der Süd-Biennalen in den neunziger Jahren legt also womöglich vor allem davon Zeugnis ab, dass Hybridität zum "Hipness-Garanten" avanciert ist und sich auf dem multikulturellen Bazar verkaufen lässt. So konnten etwa nordamerikanische Sammler und Galeristen im Zuge der siebten Havanna-Biennale 2000 einen Trend in der Szene etablieren, indem sie von ihnen ausgesuchte kubanische Künstler planmäßig ins Geschäft brachten. Solche Beziehungen zwischen Markt, Händlern und Institutionen bezeichnete Enwezor einmal als "inzestuös". Für Kassel überraschte er nun mit einer Künstlerliste, die nicht nur eine immens hohe Anzahl "transnationaler" Künstler und Künstlerkollektive aufweist und generationenübergreifend sein soll, sondern zudem vergleichsweise viele zumindest im Westen noch nicht so bekannte Namen enthält.
Nicht zu verachten wäre, wenn es Enwezor auf diese Weise tatsächlich gelänge, das Selbstverständnis der kapitalistischen Moderne um ihre marginalisierten Ränder zu erweitern und diese selbst ins Zentrum zu rücken - selbst wenn postkoloniale Kunst in das Fahrwasser klassischer Repräsentationspolitiken geraten könnte, denen es am Ende häufig weniger um grundlegende Kritik als um gleichberechtigte Partizipation geht. Auf der anderen Seite ist es dann aber schnell vorbei mit der derzeit auf dem Kunstmarkt zelebrierten und nachgefragten "Andersheit": Aus politischer wie kunstsprachlicher Dissidenz würde Konformität. Vielleicht läutet ja die documenta XI diesen Integrationsprozess schon ein.

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