„Bring mir bitte Blutwurst mit“

DDR Ein kleines Buch über Postkarten präsentiert Zeugnisse eines Landes, das es nicht mehr gibt, und schafft Einblicke in bisher kaum Erforschtes
Ausgabe 32/2020

Eine Konsum-Einkaufshalle in Bernsdorf, Kreis Hoyerswerda, der Parkplatz ungeteert. Das Institut für Lehrerbildung in Potsdam. Ein Hochhaus an der Mühlendammschleuse auf der Berliner Fischerinsel, Hauptstädtern wohlbekannt. Alle diese Gebäude finden wir in Karten zur Ostmoderne. Und alle haben sie eines gemeinsam: eine Ästhetik, die bei vielen Betrachtern, die sich nicht für Architektur und Stadtentwicklung interessieren, zu Irritationen führen dürfte: Was sind das denn für Motive für Ansichtskarten?! Doch sie erzählen uns etwas über die DDR. Das stolze Präsentieren der modernen Architektur des Landes war offenbar deutlich beliebter als in der Bundesrepublik Deutschland. Ben Kaden, Autor des Bildbandes Karten zur Ostmoderne sagt: „In der DDR hat man in der Tat zeigen wollen, dass der Sozialismus erfolgreich ist. Man hat in den späten 60er und 70er Jahren viele neue Stadträume gestaltet und das bevorzugt abgebildet.“

(P)ost(karten)moderne

Zwölf Ansichtskarten hat er nun in einem Büchlein zusammengefasst, das ein Glücksfall für den Leser ist. Zunächst einmal zeigt es auf, dass „Ostmoderne“ weit mehr beinhaltet als das oft bemühte und selten mit Wertschätzung verbundene Klischee vom Plattenbau. Die Karten führen den Leser einmal durch die verschiedenen Facetten des Begriffs. Sie bilden Wohngebäude ebenso ab wie öffentliche, zeigen Innenansichten und Parks. Durch manche marschieren Passanten, andere muten durch deren Absenz recht streng an. Kaden selbst schreibt im Vorwort von der Ansichts- als Eintrittskarte und Zugang „zu vielfältigen Linien der Sozial-, Kultur- und Architekturgeschichte der DDR (…).“ Gemeinsam ergeben diese Linien vielleicht noch kein Bild. Wohl aber ergeben sie die Idee eines Bildes, und das ist durchaus vielfältig.

Da ist etwa eine recht heitere Ansichtskarte aus Halberstadt: Kinder laufen über den Schulplatz, womöglich hat gerade die Klingel die große Pause angeschlagen, vielleicht ist der Unterricht für jenen Tag vorbei. Aus dem Bildhintergrund winkt der Dom; davor: Blöcke aus den 50er Jahren im Clara-Zetkin-Wohnviertel. Wir sehen einen frühen Blick auf den Berliner Volkspark am Weinbergsweg mit seinem Parkcafé ebenso wie ein zwar modern eingerichtetes, aber doch recht trostloses Nichtraucherzimmer im FDGB-Erholungsheim Paul Gruner. Rudolf Hilschers Bronzeplastik Taubenflug in Halle-Neustadt ist abgebildet, die Karte zum Konsument-Warenhaus in Cottbus teilt sich gleich in vier Ansichten: die Fassade, das Restaurant, den Warenbereich und ein Spielzimmer.

Vor allem aber: Kaden, Bibliothekswissenschaftler, öffnet seine Linse ebenso wie die Fotograf*innen. Er entdeckt scheinbare Kleinigkeiten, die Geschichten erzählen, die über das Abgebildete hinausgehen. Solche, die bisweilen ihn und seine eigene Biografie betreffen – Kaden wurde 1976 in Eisenhüttenstadt geboren. Solche, die aus fremden Leben berichten. Und solche, die bis in die Gegenwart reichen und die Karten als das zeigen, was sie sind: Zeugnisse eines Landes, das es nicht mehr gibt. In kleinen Essays beschreibt und erklärt er jede einzelne Karte. Dabei ist für ihn nicht nur das Gezeigte, sondern auch die Botschaft relevant, die die postalische Seite trägt: Aus Cottbus wird Familiäres geschrieben: „Diana liegt im Bett und brüllt. Sie will nämlich nicht schlafen.“ Das Potsdamer Institut für Lehrerbildung machte sich 1992, also mit gehöriger Verspätung, auf die Reise ins Saarland, zur Redaktion der Fernsehsendung Kein schöner Land: „Nördlich der Stadt Winterberg entspringt die Ruhr und mündet in den Rhein“, weiß eine Frau F. aus der Albert-Klink-Straße. Gelaufene Karten findet Kaden generell spannender: „Weil sie eine Geschichte erzählen. Ich habe in meiner Sammlung auch Karten mit Todesnachrichten oder verzweifelten Liebesattacken, bei denen ich weiß: Die kann ich nicht verwerten. Man übernimmt da auch Verantwortung.“

Das ist der vielleicht interessanteste Punkt, den uns Kadens Sammlung lehrt: Die Ansichtskarte erfüllte in der DDR andere Funktionen als in der Bundesrepublik Deutschland. Wo man dort in erster Linie Urlaubspostkarten verschickte, den eigenen Wohlstand und die Möglichkeit zur Reise zeigte, war die Ansichtskarte in der DDR ein Mittel der Alltagskommunikation: „Da nahm man dann eben, was rumlag. Das erklärt auch die Diskrepanz zwischen repräsentativen Motiven und banalen Botschaften. Da findet sich dann ein Satz wie ,Bring mir bitte Blutwurst mit‘. Das sind dann die Freuden der DDR-Philokartie.“

Kadens Beschäftigung mit der Ansichtskarte reicht bis in seine Kindheit zurück. „Wenn man in der DDR aufwuchs, hieß das, dass ein großer Teil der Welt verschlossen blieb. Mein Vater hatte aber viele Verbindungen zu Leuten in der Bundesrepublik und auch in Dänemark und Finnland. Die haben immer Reisepostkarten geschickt. An regnerischen Sonntagnachmittagen saß ich daheim und schaute die an.“ Sehnsüchte verändern sich: Und so fing Kaden zu Studienzeiten in Berlin an, Karten aus seiner Heimatstadt Eisenhüttenstadt zu kaufen. Eine systematische Beschäftigung begann parallel zu Kadens Forschung an der Architektur der Ostmoderne: 2019 schrieb er die Sachtexte zu dem bei Prestel erschienenen Bildband DDR Architektur des Fotografen Hans Engels.

Während die DDR-Architektur seit Jahren Analyse und Aufarbeitung erfährt, ist die Philokartie ein noch wenig beackertes Feld. Denn auch wenn es einige Verlage gab, die dominierten, allen voran Bild & Heimat, und auch wenn jede Karte eine Druckvermerksnummer besitzt, von der man etwa das Herausgabejahr ableiten kann: „Die Menge an Ansichtskarten ist unüberschaubar, das ist ein Fass ohne Boden“, sagt Kaden. „Und zur Druckvermerksnummer gibt es keine Gegendatei.“ Karten zur Ostmoderne wirft einen schönen Blick in das Genre. Wer weiterschauen möchte, kann das in Kadens tumblr-Blog tun, der stetig wächst: 1.040 Exemplare hat er in seiner Datenbank erfasst, die doppelte Menge, so schätzt er selbst, lagert unerschlossen auf dem Schreibtisch. Es gibt viel zu tun.

Info

Karten zur Ostmoderne Ben Kaden Sphere Publishers 2020, 12 €, Instagram: @benkaden, Tumblr: benkaden.tumblr.com

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