Einmal, in einem Landhotel im Badischen, das „Rebstock“ hieß, vielleicht auch „Traube“, ich weiß es nicht mehr genau, war dann alles ganz genau so, wie es sein sollte: Den Schlüssel nahm ich selbst vom Schlüsselbord (es war Ruhetag) und durchlief anschließend einen langen, holzgetäfelten Gang. Nach dem Öffnen einer Türe, auf der in Messinglettern die Zimmernummer stand, schritt ich in einen rechteckigen Raum von etwa zwölf Quadratmetern.
Linker Hand befand sich ein aufwendig beschnitzter, womöglich der Gegend entstammender Kleiderschrank. Die Stirnseite des Zimmers war unter dem Fenster mit einem Schreibtisch und einem Stuhl ausgestattet, beides ebenfalls eher rustikal gehalten, was auch für die Hängelampe galt. Und rechts schließlich stand ein Bett.
Es machte kein großes Gewese um seine Gestalt, war aus einem mittelhellen Holz und weiß bezogen. Das Bett besaß ein ebenfalls hölzernes Kopfteil. Dieses Kopfteil wuchs aus sich selbst heraus, wurde links zu einem kleinen Nachttisch mit Schublade und Platz für eine Lampe und rechts zu einer Art Wandschutz, der im Fußbereich schließlich in einer von Lüftungsschlitzen durchbrochenen Kofferablage mündete. Alles an diesem Möbelstück war praktisch. Die Form folgte der Funktion. Es sollte mir in den kommenden Tagen, ich war auf Wanderschaft, in verschiedenen Variationen noch häufig begegnen.
Die Farbe changierte, auch die einzelnen Bestandteile: Bisweilen verschnörkelte sich das Kopfteil. Mal hatte der Hersteller Massivholz ausgewählt, mal furnierte Platte. Manchmal waren Leselampen oder Steckdosen fest montiert, manchmal nicht.
Doppelbett, halb leer
Die Qualität der Matratzen wechselte, ebenso die Bettwäsche. Was alle dieser Betten verband: Sie waren älteren Baujahres. Sie standen in kleinen, ländlich gelegenen Häusern, die meisten waren inhabergeführt. Und: Wie ich mich in diesen Zimmern zu verhalten hatte, war sofort klar. Ich schlief hier.
Das Einzelzimmer hat nicht den besten Ruf. Wenn man den Begriff googelt, landet man nicht bei den Grand Hotels Europas, sondern bei Kurhäusern, Altenheimen, Pflegeeinrichtungen. Es ist als Vertreterbeherbergung verschrien. In Film und Literatur taucht es vor allem dann auf, wenn seine Makel benannt werden. Die Wände dünn. Der Teppich fleckig. Das Bett durchgelegen. Die Stimmung schlecht. Der Bewohner: einer, der hier nicht sein möchte, sondern muss. In Kurt Hoffmanns Erich-Kästner-Verfilmung Drei Männer im Schnee (1955) wird Geheimrat Eduard Schlüter, der einen armen Schlucker mimt, in einem untergebracht, das unterm Dach liegt, rumpelig und kaum beheizbar ist, man möchte den unbequemen Gast aus dem Hause ekeln. Das Einzelzimmer als Waffe! Über die Dekaden änderte sich daran wenig.
Das schönste, weil akkurateste Hotelbeschreibungsbuch der letzten Jahre ist David Wagners Ein Zimmer im Hotel. Seite um Seite erzählt er von verschiedenen Herbergen auf verschiedenen Kontinenten. Viele sind prächtig, manche gar vielräumig; nur Einzelzimmer kommen kaum vor, und wenn, dann begegnet der Autor ihnen mit wenig Liebe: „Soll das ein überdimensionierter Nachttisch sein?“, fragt er einmal angesichts einer der eingangs erwähnten Holzverschalungen.
Wie viele Einzelzimmer es in Deutschland gibt, kann niemand sagen. Gezählt würde zwar jährlich, aber ohne dabei zwischen den verschiedenen Zimmerarten zu unter- scheiden, sagt Markus Luthe, Geschäftsführer der DEHOGA Deutsche Hotelklassifizierung – das ist der Arm des Hotel- und Gaststättenverbandes, der beschließt, an welcher Hotelpforte wie viele Sterne prangen. Eines ist aber klar: Es werden immer weniger. „Einzelzimmer werden heutzutage praktisch nicht mehr gebaut. Üblich sind Doppelzimmer, die auch als Einzelzimmer genutzt werden können“. Es mag am schlechten Leumund liegen, dass das Einzelzimmer angezählt ist, die Gründe sind aber sicher auch marktwirtschaftlicher Natur. In einem Zimmer mit Doppelbett kann man im Falle eines Falles eben auch zwei Gäste unterbringen.
Auch die Szene-Hotelerie nimmt diese Möglichkeit gerne wahr. Zwölf Quadratmeter im „Michelberger“, einem Hotel für Rockmusiker und andere jung gebliebene Menschen in Berlin, heißen „Cozy“ und werden Alleinreisenden oder „Paaren auf Kurzreise“ empfohlen. Wer sich bei einem Haus der in den letzten Jahren in vielen Städten aus dem Boden geschossenen Hipster-Ketten wie „Ace Hotels“, „25 Hours“ oder „Mama Shelter“ einmietet, wird oft gar keine Einzelzimmer in der Buchungsmaske mehr vorfinden. Oder am Tresen mit einer freudigen Nachricht empfangen werden: Wir, wird da irgendein Rezeptionist lächelnd sagen, dessen Vorname handschriftlich auf einem Schild an der Polohemdbrust prangt, wir haben ein Upgrade für Sie!
Da blickt man dann von seinem Boxspringdoppelbettungetüm aus gen Zimmerdecke. Wie man sich zu verhalten hat, ist plötzlich unklar. Das ist zunächst dem Tand zuzuschreiben, den solche Hotels für ihre Gäste bereithalten.
In London war das einmal ein Kofferplattenspieler, neben dem leider keine Kinks- oder Rolling-Stones-Platten standen, sondern uninteressantes Wühlkistenmaterial, größtenteils zerkratzt. In Zürich hatte es sich ein flauschiges, wenig naturalistisches Stofftier in der Besucherritze bequem gemacht. In Wien lagen auf dem Nachttisch zusätzlich zwei mit dem Logo der Hotelkette versehene Kondome. Was für eine Rücksichtslosigkeit, stärker kann man einen Einzelreisenden nicht demütigen!
Ein gutes Einzelzimmer besitzt etwas Mönchisches, es ist von allen Sexualitäten befreit. Das „Doppelzimmer in Einzelbelegung“, wie es auf Hoteldeutsch heißt, führt hingegen stets zu einer Frage, die jeden Urlaub zerstören kann: Wäre es nicht doch schöner, jetzt zu zweit zu sein? In einer Schlafstätte, die per definitionem eine für ein Paar ist, herrscht das Gefühl der Verlorenheit.
Dass solche Gedankengänge in Katastrophen münden können, beschreibt der US-amerikanische Autor Joey Goebel in seiner Geschichte Eine Nacht im Ramada Inn eindringlich. Da sorgt das Winterwetter dafür, dass der Protagonist in einem Hotel in der Nähe seines Arbeitsplatzes übernachten muss: „Als er zu seinem Zimmer im zweiten Stock kam, betrachtete er das breite Doppelbett und fragte sich, was bis zum Ende der Nacht dort wohl passieren würde.“ Selbst ohne die Kondome gerät der Protagonist der Story in einen Zustand heftigster Wallung. Zunächst einmal säuft er sich einen an. Im Whirlpool versucht er dann sein Glück bei verschiedenen Damen. Und, Gernegroß, der er ist, scheitert er krachend.
In einem Einzelzimmer wäre ihm all das nicht passiert. Wer ein Einzelzimmer betritt, verändert seinen Status. Er wechselt in jene Kontemplation, die beim Reisen wünschenswert ist. Karg ist seine Umgebung dabei übrigens nicht zwingend, das beweist ein Blick in die Schweiz, genauer: nach Basel. Direkt am Rhein steht auf Kleinbasler Seite das Hotel „Krafft“, es ist nicht eines der luxuriösesten, aber sicher eines der schönsten Hotels Europas. Sieben Einzelzimmer zeigen nach Südwesten, einige verfügen sogar über einen Balkon: Unter ihnen flaniert auf einem breiten Uferweg die feine Gesellschaft der Stadt, dahinter fließt der Rhein, wieder dahinter winken Münster und Martinskirche.
Der Gast darf sich je nach Zimmer in einem Bauhaus-Sessel oder einem Midcentury-Designklassiker zurücklehnen. Im prachtvollen Treppenhaus stehen alle erforderlichen Zutaten zum Aufbrühen eines guten Tees bereit. In der Nachttischschublade liegt der Steppenwolf, den Hermann Hesse vor bald 100 Jahren in diesem Hotel, mit diesem Blick verfasste. Und rechts im Eck steht und wartet auf den müden Reisenden: das Einzelbett, das ehrlichste aller Möbelstücke.
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