Immobile, Blind und Lahm

Fußball-WM Früher war alles anders. Heute jedoch ist unserem Autor unbegreiflich, wie man als erwachsener Mensch noch bedingungslos an einer Mannschaft festhalten kann
Ausgabe 27/2014
So fern und so exotisch: Lothar Matthäus und Pierre Littbarski bei dem WM-Sieg 1990
So fern und so exotisch: Lothar Matthäus und Pierre Littbarski bei dem WM-Sieg 1990

Foto: STAFF/ AFP/ Getty Images

Dass Heinrich VIII. Strumpfhosen trug, ist für uns nichts Exotisches, aber die Frisuren und Trainingsanzüge der Fußballer vor 20 Jahren flößen einem einen eigenartigen Schauder ein, denn das war ja mal die eigene Gegenwart, wie hat man das ertragen? Es ist gar nicht vorstellbar, dass unsere heutige Gegenwart in wenigen Jahren auch so fern und exotisch wirken wird wie die deutsche Nationalmannschaft von 1990. Im Bus zum Spiel schmetterten sie Die Sennerin vom Königssee.

Das Alter bringt es auch mit sich, dass einem nicht mehr so viel am Sieg der Deutschen liegt. Früher wollte ich unbedingt, dass sie wenigstens noch die nächste Runde bei der WM erreichen, weil man das Gefühl hatte, sie könnten eigentlich besser spielen und bräuchten nur mehr Übung. Heute gönne ich es anderen viel mehr. Wenn schon die Bosnier ausgeschieden sind, hätte ich mich für den bosnischstämmigen Trainer der Algerier gefreut, das wäre die schönere Geschichte gewesen. Bei Brasilien gegen Chile war ich eigentlich eindeutig für Chile, weil es der Außenseiter war. Aber dann schwankte ich, würden sich die Brasilianer mehr freuen oder die Chilenen?

Die Chilenen haben ja noch nie die Weltmeisterschaft gewonnen, aber dann ist es für sie auch nicht so schlimm, wenn es wieder nicht klappt. Die Brasilianer könnten damit viel schlechter umgehen. Außerdem gibt es viel mehr Brasilianer als Chilenen, also würden sich mehr Menschen freuen, und darum geht es doch: ein Maximum an Glück auf der Welt.

Oder geht es darum, wer besser spielt? Aber das ist doch gemein, die anderen können ja nichts dafür, dass sie schlechter sind. Man liebt ja von seinen Kindern auch nicht das begabteste am meisten. Meine Tochter hat beim Schulsport zum zweiten Mal im Leben einen Ball gefangen, sie sah ihn eine Minute lang ungläubig an, weil sie es gewöhnt war, als Erste abgeworfen zu werden. Dagegen ist der Volleyschuss von James Rodríguez nur eine Zirkusnummer. Geht es darum, wessen Volk ärmer ist? Wessen jüngere Geschichte am grausamsten war? Oder bei welchem Spieler gerade jemand aus der Familie gestorben ist, und dem man es deshalb besonders gönnt?

Es gibt viel zu viele Faktoren für eindeutige Gefühle. Es ist mir unbegreiflich, wie man als erwachsener Mann noch bedingungslos an einer Mannschaft festhalten kann. Wenn die elf Spieler plötzlich bei mir klingeln würden, Kuchen mitbrächten und mich damit überraschten, dass sie meine Wohnung aufräumen und die vergilbten Tapeten streichen, dann würde ich ihnen sicher lange die Daumen drücken. Aber was mache ich, wenn die elf Spieler der gegnerischen Mannschaft das Gleiche bei meinen Eltern tun? Und manchmal ist man ja auch für den Bösen, weil man hofft, dass der Erfolg bei ihm eine Läuterung bewirkt. Er ist ja vielleicht nur böse, weil er nie etwas Schönes erlebt hat im Leben.

Wenn man Talent, Sympathie, nationale Gefühle, gelungene Trikotgestaltung und Gerechtigkeitsbedenken außer Acht lässt, bleibt nur noch der lustige Name der Spieler, nach dem man gehen kann, und wenn Nomen Omen wäre, wäre das dann meine WM-Elf 2014: Blind, Lahm, Immobile, Zusie, Medel, Messi, Axel Witsel, Granat, Kwak, Beausejour, Welbeck. Trainer: Lamouchi.

Jochen Schmidt veröffentlichte den Klassiker Müller haut uns raus

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