Man kann sich sein Volk nicht aussuchen

Fußball-WM Unser Kolumnist freut sich über die kleinen Dinge wie das Freistoßspray und wünscht sich Fans, die sich im Moment des Triumphs an Beckenbauer 1990 in Rom orientieren
Ausgabe 29/2014

Nach dem Finale ging ich noch einmal auf die Straße, meine Jacke war am Nachmittag im Platzregen nass geworden, deshalb trug ich meine zu große Nationalmannschaftstrainingsjacke, die der DFB unserem Autorenteam mal gespendet hat. Ich wollte mir ansehen, wie die Deutschen feiern, wenn ich schon den Mauerfall verpasst habe, weil ich damals bei der Armee war. Auf der Schönhauser Allee lehnten betrunkene Männer aus dem Autofenster und grölten: „Deutschland!“ und „Waldmeister!“

Wegen meiner Jacke gingen sie davon aus, dass ich mich angesprochen fühlte und zurückgrölen würde. Ich wandte mich beschämt ab. Wie schön wäre es, zu einem Volk zu gehören, das in den Momenten des größten Triumphs nachdenklich und von innen leuchtend aneinander vorbeispaziert, wie Beckenbauer 1990 durch den Mittelkreis des Stadions von Rom. Aber es kann ja leider nur einer der Trainer sein und seine Würde wahren.

Ich setzte mich vor ein Restaurant, wo auf einer Leinwand Jogi Löw beim Interview zu sehen war. Ein Besoffener setzte sich hinter mich und grölte, dass er Weltmeister sei. Morgen würde er bemerken, dass das für ihn nichts änderte. Auf dem Bildschirm sah man die intelligenten und durchaus sympathischen deutschen Spieler feiern. Passen sie eigentlich noch zu den Fans im eigenen Land? Zu BWL-Studenten, für die Fußballturniere eine schwarz-rot-goldene Semesterparty außer der Reihe sind? Zu den Verlierern des Kapitalismus, die sich daran stören, dass Özil und Boateng die Hymne nicht mitsingen? Als Nationalmannschaft kann man sich sein Volk nicht aussuchen.

Die 24 Jahre Vorfreude sind nun vorbei, und fast bedauere ich das, denn die Niederlagen hatten Größe und haben meinem Leben Sinn gegeben. Ich kann mich auch an kleinen Dingen freuen. Diese WM hat mir wieder so viel Faszinierendes gezeigt. Das Freistoßspray, auf das man sich jedes Mal freut wie auf den „Spitze-Sprung“ bei Dalli Dalli. Arjen Robben, der in der Pause eine schwarze Kühlweste überzieht, die Holländer hatten an alles gedacht! Die Spieler, die sich neuerdings beim Reden die Hand vor den Mund halten wie ich in der Pubertät. Japanische Zuschauer, die nach dem Spiel den Müll im Stadion aufsammeln. Ich freue mich auch immer über die kleinen Freiheiten, die sich die Spieler nehmen. Den Ball bei der Ecke leicht vor die Linie legen, und keiner merkt es. Bei der Auswechslung so langsam vom Feld gehen wie ich, wenn ich von meiner Mutter zum Einkaufen geschickt wurde. Der Fußball ist ein Theater der Gesten.

1990 bin ich übrigens von „Deutschland“-Rufen vor dem Fenster geweckt worden, ich hatte gar nicht mitbekommen, dass ein Finale gespielt wurde, ich hatte keinen Fernseher und lag mit Liebeskummer im Bett. Wir lebten noch in der DDR, Toni Kroos war gerade geboren worden. In zwölf Jahren, bei der WM in Turkmenistan, steht er schon im Spätherbst seiner Karriere, und ich bin immer noch ein junger Autor.

Wie schnell so ein Spielerleben vergeht! Dieser ewige Daseinskampf im Team, die Jungen gegen die Alten. Wie sich die, die man schon ewig kennt, mit denen mischen, bei denen man irgendwann kaum glauben kann, dass sie mal mit den anderen zusammen gespielt haben (Ballack und Matthäus!). Ist nicht die Zeit das eigentliche Thema dieses Spiels? Müsste man die Fußballspieler nicht beschreiben als Riesen, die, in die Tiefe der Jahre getaucht, ganz weit auseinanderliegende Epochen streifen?

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