Das Patellasehnenspitzensyndrom

WM-Kolumne Unser Kolumnist Jochen Schmidt leidet am gleichen Gebrechen wie Cristiano Ronaldo. Und er wusste früh: Müller wird uns raushauen
Ausgabe 25/2014
Strategie nichts tun – damit leitete Andrea Pirlo das erste Tor für Italien ein
Strategie nichts tun – damit leitete Andrea Pirlo das erste Tor für Italien ein

Foto: Fabrice Coffrini/ AFP/ Getty Images

Beim Fußball ist meine große Stärke inzwischen, mich aus dem Mittelfeld fallen zu lassen, wenn wir einen Angriff starten, und die vorrückenden Defensivspieler abzusichern, denn dazu muss ich nur stehenbleiben, sie rennen ja an mir vorbei. Das fühlt sich wie taktisches Verständnis an, und man muss sich kaum bewegen. Andrea Pirlo macht vor, wie man das Spiel seiner Mannschaft im durchgehenden leichten Trott dirigieren kann, die Gegner können ihn gar nicht decken, weil er einfach nicht wegläuft. Das erste Tor der Italiener gegen England leitet er ein, indem er den Ball durchließ.

Ich muss langsam vom laufintensiven Spiel des ballerobernden Vorstoppers auf genialer Spielgestalter umschulen, weil ich seit einem Jahr am Patellasehnenspitzensyndrom leide. Treppe hoch geht gut, aber runter tut es weh, als sei ich die Kleine Meerjungfrau, die an Land wie auf Messern geht.

Cristiano Ronaldo und Schweinsteiger haben dieselbe Krankheit wie ich, aber trotzdem bekommen sie keinen Bauch, wie schaffen sie das? Gut, Ronaldo macht täglich 3.000 Sit-ups, um Rückenverletzungen zu vermeiden, aber daran kann es doch nicht liegen. Es ist nicht schön, der Verwandlung meines mühsam modellierten Körper in den eines Ex-Profis beizuwohnen. Mein Doktor zählt mir auf, in welchen Schritten man die Behandlung plant: Tabletten, Physiotherapie, homöopathische Spritze, Kortisonspritze, Stoßwellentherapie (keine Kassenleistung), irgendwas mit Eigenblut (ebenfalls keine Kassenleistung), OP, dann bleibt nur noch Seelenwanderung. Der französische Mannschaftsarzt hat sich beklagt, Ribéry habe bei Bayern München eine Spritzenphobie entwickelt, sonst hätten sie seinen Rücken noch für die WM behandeln können. Weil er nicht mit zur WM könne, sei seine Seele tot, hat Ribéry gesagt, woraus man in Frankreich schließt, dass er Sartre-Leser ist (La mort dans l’âme).

Und bei uns? Toni Kroos, mit dem ich immer mitfiebere, weil er der einzige verbliebene Ossi in der deutschen Startelf ist, pflegt eine Männerfreundschaft mit Hartmut Engler (Gruppe Pur). Wenn es wenigstens Wolfgang Engler wäre! Anders als Ribéry konnte ich es gar nicht erwarten, endlich Kortison unter die Kniescheibe gespritzt zu bekommen, offiziell ein Dopingmittel, wie der Doktor sagte, herrlich! Im Behandlungszimmer hängt das Autogrammposter der Hammerwerferin Betty Heidler, aber mein Doktor behandelt auch die Berliner Eisbären, die ihr Morgenmüsli ja mit Kortison süßen. Er verschreibt mir ein Patellasehnenstützband, ein Stück Stoff mit Klettverschluss, das im Laden 60 Euro kostet, mich aber jetzt viel weniger. Orthopädiegeschäft und Kunde freuen sich, das deutsche Gesundheitssystem ist eine permanente Win-win-Situation.

Während ich diesen Text schreibe, muss ich gleichzeitig ein Manuskript um möglichst viele Zeichen kürzen, eine ungewöhnliche Doppelbelastung, man muss im Kopf ständig von Angriff auf Verteidigung umschalten. Von Arsène Wenger heißt es, 90 Prozent seiner Zeit denke er an Fußball. Der hat’s gut! 90 Prozent meiner Zeit denke ich daran, wie ich meiner Freundin das Gefühl geben kann, die zehn Prozent meiner Zeit, die ich an sie denke, seien in Wirklichkeit 90 Prozent. Vielleicht sollte ich mir eine Fußballerin suchen, wenn ich schon keine Physiotherapeutin finde. Neulich sah ich beim Training einer Mädchenmannschaft zu. Ein Mädchen lag gefoult am Boden und sagte: „Guckt mal, wie schön der Himmel aussieht.“

Müller haut uns raus hieß der erste Roman von Jochen Schmidt. Schmidt, 43, spielt in der Autorennationalmannschaft

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