Safe Haven Libya? (Reloaded)

Seenotrettung Von den Anfängen der Externalisierung der Europäischen Asylpolitik bis heute. Ein Vergleich anhand eines Textes, den ich 2005 für den FREITAG schrieb

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Sie warten auf Rettung
Sie warten auf Rettung

Foto: Angelos Tzortzinis/AFP/Getty Images

Vor über 13 Jahren schrieb ich einen Text „Der Flüchtling unserer Wahl“ über die Pläne der EU zur Auslagerung des Flüchtlingsschutzes von Europa nach Nordafrika für die Wochenzeitung der FREITAG.[1] Ich hatte gerade mein Aufbaustudium „Recht der Europäischen Integration“ abgeschlossen und meine Masterarbeit über die Entwürfe der Asylverfahrensrichtlinie verfasst und erhielt eine Anfrage, einen Text über die Entwicklung der Europäischen Asylpolitik zu schreiben.

Die europäische Idee erschien mir damals als eine Möglichkeit, den nationalen Alleingängen etwas entgegenzusetzen im Sinne eines internationalen Korrektivs. Für alle Staaten verbindliche Richtlinien und Verordnungen sollten zukünftig Mindeststandards im Asylverfahren sichern, die die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) und die Europäische Menschenrechtskonventionen vorgaben und so zu einem Gemeinsamen Europäisches Asylsystem (so genanntes GEAS) führen, in dem ein einheitlich hohes Schutzniveau für alle Flüchtlinge garantiert war.

In einer Woche schrieb ich dann diesen Artikel mit dem urspünglichen Titel „Safe Haven Libya?“, der dann redigiert wurde zu „Pufferzone: Der Flüchtling unserer Wahl“, weil der Redakteurin der Englische Titel als zu sperrig erschien. Er erschien am 04.03.2005 in der gedruckten FREITAG Ausgabe und anschließend online.

Die Dystopie ist Realität geworden

In den letzten Monaten musste ich öfters an den Text denken, da leider vieles von der Dystopie, die ich damals beschrieben hatte, heute längst Realität geworden ist.

So schrieb ich:

„Wenn sämtliche Grenzstaaten zu Europa (auch nordafrikanische Länder) als sicher gelten würden, wäre ein Ring um die EU geschaffen, der Flüchtlingen auf dem Landweg kaum mehr eine Chance auf Asyl in Europa ermöglicht. Konsequent zu Ende gedacht hieße dies, dass die EU ihre Asylbehörden vollständig an die EU Außengrenzen verlagern könnte.

Die Entwicklung der damals noch in den Anfängen befindliche Externalisierung der Flüchtlingspolitik läßt sich an folgenden Kernpunkten festmachen:

  • An den südlichen EU-Aussengrenzen in Italien und Griechenland wurden seit 2015 in den sogenannten „Hot Spots“ Transitzentren eingerichtet, faktische Haftanstalten in denen menschenrechtsunwürdige Zustände wie im Flüchtlingslager Moria in Lesbos herrschen und die Menschen auf den Inseln faktisch festsitzen [2]
  • Juristisch fragwürdige und intransparente, zudem nicht justiziable Abkommen wie der Türkei-EU Deal wurden abgeschlossen und zur Blaupause für zukünftige Abkommen gemacht. Es gibt keine Skrupel vor Abkommen mit politisch fragwürdigen Regimen wie Eritrea, Sudan, Libyen oder Ägypten, die zu den Hauptherkunftsländer der Geflüchteten zählen aufgrund der dortigen politischen Verhältnisse [3]
  • In Libyen wird eine Küstenwache mit Geldern der EU finanziert und ausgebildet, die immer wieder illegale pull-backs auf hoher See vollzieht (das Verbringen von bereits in EU-Gewässern befindlichen Personen zurück in nicht EU Staaten, beispielsweise nach Libyen), sich nicht an internationales Seerecht hält und keinerlei Kontrolle unterliegt. In Libyen, einem Staat, der nicht die GFK unterzeichnet hat regieren Warlords und Berichte über Folter und schwerster Menschenrechtsverletzungen in den Gefängnissen bis zu Berichten von modernen Sklavenhandel sind an der Tagesordnung
  • Transitstaaten in Afrika werden zunehmend von EU-Beamten kontrolliert und werden mit finanziellen Mittel für die Grenzsicherung hochgerüstet und faktisch zu Asylzielstaaten. Dies sind insbesondere Niger, Mali und der Tschad. Der in der West-afrikanischen Union eigentlich gewährleistete Visa-freie Reiseverkehr (ECOWAS) wird dabei außer Kraft gesetzt.
  • Bilaterale Rückübernahmeabkommen mit weiteren nordafrikanischen Staaten wurden geschlossen, Verhandlungen mit den Maghreb Staaten Marokko, Tunesien und Algerien sind in Planung; diese sollen von EU Staaten wie Deutschland nun im zweiten Anlauf als so genannten sicheren Herkunftsstaaten anerkannt werden um eine schnellere Rückschiebung zu ermöglichen
  • Bezüglich der Grenzsicherung werden die Frontex-Missionen finanziell deutlich aufgerüstet und deren Mandat erweitert, ebenso erhöht werden die Mittel hinsichtlich der Ausbildung der Beamten des EASO (European Asylum Support Office) und der technische Grenzüberwachung Eurosur (European Border Surveillance System). So hat die Kommission für den nächsten Finanzrahmen 2021-2027 vorgeschlagen, eine ständige Reserve von 10 000 Grenzschutzbeamten zu schaffen und die Mittel für Migration und Grenzmanagement auf 34,9 Mrd. EUR nahezu zu verdreifachen im Vergleich zu knapp 13 Mrd. EUR derzeit. [4]

Ausdruck des Rechtsrucks

Um dem Ziel einer umfassenden Kontrolle der Migration an den Europäischen Außengrenzen konsequent weiterzuführen, trafen sich im Juli 2018 die europäischer Regierungschefs und besprachen neue Strategien, die in ihrer Offenheit doch überraschen und Ausdruck des politischen Rechtsrucks der Europäische Union sind: [5]

So sollen innerhalb der EU in so genannten „kontrollierten Zentren" - die Wortwahl lässt einen erschaudern - innerhalb von maximal 72 Stunden Asylbegehren geprüft werden. Auf so genannten regionalen „Ausschiffungsplattformen“ sollen außerhalb der EU - möglichst in Nordafrika - Personen zurückgeführt werden, die bei Search-and-Rescue Operationen auf hoher See aufgegriffen wurden.

Falls es trotz all dieser beschriebenen Maßnahmen Geflüchtete geschafft haben sollten, die Festung Europa zu erreichen bleibt wichtigstes Ziel, die Binnenmigration innerhalb der EU zu verhindern. So sollen die Mitgliedstaaten „alle erforderlichen internen Rechtsetzungs- und Verwaltungsmaßnahmen gegen diese Migrationsbewegungen treffen und dabei eng zusammenzuarbeiten“. [6]

Damit sollen die irregulären innereuropäischen Push-backs, also die Zurückschiebung ohne inhaltliche Prüfung eines Asylbegehrens, eine Praxis, die an der italienisch-französischen Grenze in Ventimiglia oder an der bosnisch-kroatischen Grenze [7] schon seit Jahren faktisch stattfinden, zukünftig legalisiert werden, obwohl Fachjurist*innen und ein höchstrichterliches Urteil des Europäischen Gerichtshofes (EuGH)[8] eben diese Praxis bereits als rechtswidrig verurteilten, da diese gegen das Dublinabkommen verstoße und zu einem illegalen Refoulement führen könne, also einer Rückführung von Personen in Staaten, in denen ihnen Folter oder andere schwere Menschenrechtsverletzungen drohen. Das non-refoulement Gebot ist das Grundprinzip des Asylrechts und verankert in der Genfer Konvention und allen Europäischen Asylnormen.

Gleichwohl forderte ein Vertreter des Innenministeriums, Herr Klos, im Fachsymposium Flüchtlingsschutz im Juni 2018 die Möglichkeit einer Zurückweisung an der EU Binnengrenze zu Deutschland ohne eine inhaltliche Rechtsprüfung und argumentierte auf Nachfrage, ob dies nicht eindeutig europarechtswidrig sei, „dass er das oben genannte Urteil noch nicht gelesen habe und die hier geäußerten Meinungen der Jurist*innen „unwissenschaftlich“ seien. Er berufe sich im übrigen auf eine „Notstands - Norm ", denn das Dublin-System sei gescheitert. Im Übrigen würde Frankreich „dies auch so praktizieren“. Jeder Jurastudent wäre in einer Klausur mit solch einer Argumentationskette mit einer Randbemerkung „nicht vertretbar“ durchgefallen.

Grundfehler des Europäischen Asylrechts

Dass aber das Dublin-System nunmehr von rechter Seite angegriffen wird und ich mich in der Lage sehe, ein Zuständigkeitssystem verteidigen zu müssen, das in ihrer einseitigen Belastung der Süd- und Osteuropäischen Staaten ein, wenn nicht der Grundfehler des Europäischen Asylrechts war, weil es schon aufgrund einfacher geografischer Gegebenheiten keine gerechte Verteilung innerhalb der EU ermöglicht hat, ist traurig. Dennoch garantieren die Dublin Regeln zumindest noch ein Mindestmaß an etwas, das man Rechtsschutz nennt. (Zu den aktuell debattierten, noch restriktiveren Reformplänen der EU Kommission bezüglich der Dublin Regelung und der zukünftigen Verteilung siehe en Detail unter Fußnote 5).

In der Folge wurden seit dem Sommer in atemberaubendem Tempo binationale Abkommen zwischen Deutschland und Griechenland, sowie mit Spanien und Italien geschlossen, mit denen innerhalb 48 Stunden eine Zurückschiebung ermöglicht werden soll, wenn zuvor ein Eurodac-Treffer in einer dieser Länder für diese Person vorlag. Dass es in 48 Stunden kaum möglich ist, eine umfassende juristische Rechtsprüfung vorzunehmen und zu untersuchen, ob beispielsweise eine Gefährdung fundamentaler Rechte in Italien oder Griechenland drohe, sei es durch Obdachlosigkeit, mangelnder medizinischer Versorgung oder wegen nicht existierender adäquater Unterbringung von Minderjährigen ist offensichtlich. Geflüchteten droht mithin bei einer Zurückschiebung ein Refoulement, wie es Gerichte so bereits hinsichtlich Italien und Griechenland mehrfach entschieden haben und die Rechtsprechung der „Systemischen Mängel“ in Staaten wie Italien, Bulgarien, Ungarn oder Griechenland begründet haben[9] und in vielen Fällen häufig den Geflüchteten ein Recht auf einen Abschiebeschutz und infolgedessen einen humanitären Aufenthalt in Deutschland trotz eines vorherigen Aufenthalts in Drittstaaten zuerkannt hatten.

Der Artikel 3 Abs. 2 S2. der Dublin Verordnung lautet nunmehr infolge dieser Rechtsprechung wie folgt:

Erweist es sich als unmöglich, einen Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, da es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Artikels 4 der EU–Grundrechtecharta mit sich bringen, so setzt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat, die Prüfung der in Kapitel III vorgesehenen Kriterien fort, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann.

Ein seltsames Verständnis von Rechtsstaatlichkeit zeigte in diesem Zusammenhang auch die deutsche Bundesregierung in der Behandlung von Familienzusammenführungen im Rahmen des Dublin Verfahrens, das es getrennt geflüchteten Familien ermöglicht, während des Verfahrens von Griechenland nach Deutschland zu kommen und das Verfahren hier gemeinsam durchzuführen. Diese Verfahren nach der Dublin Verordnung hatte Deutschland seit Jahren rechtswidrig verschleppt und erst ein Urteil des Verwaltungsgerichts Wiesbadens[10] verurteilte Deutschland dazu, endlich den Nachzug zu beschleunigen und innerhalb einer bestimmten Frist zu ermöglichen. Nach wie vor warten tausende Familien auf das Visum. Die Bereitschaft Deutschlands nun im soeben geschlossenen Abkommen mit Griechenland, „offene Altfälle für Familienzusammenführungen zu prüfen“ wird nun zynisch als „Gegenleistungen“ für eine Bereitschaft Griechenlands zur Rücknahme von Flüchtlingen aus Deutschland offeriert.[11] Familien werden so als Verhandlungsmasse eingesetzt und zu „Altfällen“ entmenschlicht.

Es soll keine unabhängigen Zeugen mehr geben

Hinsichtlich der Kontrolle der Migrations- und Fluchtrouten wurden nach und nach die Schiffe der zivilen Seenotretter im Mittelmeer konfisziert oder mit formalistischen Argumenten am Auslaufen gehindert und deren Mitarbeiter mit absurden strafrechtlichen Vorwürfen überzogen, so dass im September 2018 zeitweise kein einziges Schiff mehr in der Search-and-Rescue Zone unterwegs war, um die Lücke eines nicht existierenden staatlichen Seenotrettungprogramms zu füllen, die seit dem Ende des italienischen Mare-Nostrum Programms 2013 existiert. Gleichzeitig stieg die Zahl der Toten im Mittelmeer dieses Jahr auf bereits 1800 Menschen bis zum September 2018, die Dunkelziffer dürfte deutlich höher sein[12].

Die EU forderte stattdessen zunächst die zivilen Seenotrettungsorganisationen auf, einen genannten „code of conduct", einen verbindlichen Verhaltenskodex zu unterschreiben und protegierte die Libysche Küstenwache ohne gleichzeitig deren zuvor mehrfach dokumentiertes rechtswidriges Verhalten zu kritisieren oder einer Kontrolle zu unterziehen. Vielmehr stellte die EU im Gipfel von Salzburg klar, welche Prioritäten sie zukünftig setzen wird: [13]

Speziell im Hinblick auf die zentrale Mittelmeerroute sollten die Maßnahmen gegen von Libyen oder anderen Orten aus operierende Schleuser weiter intensiviert werden. Die EU wird hier Italien und anderen Mitgliedstaaten an den Außengrenzen weiter zur Seite stehen. Alle im Mittelmeer verkehrenden Schiffe müssen geltendes Recht befolgen und dürfen die Einsätze der libyschen Küstenwache nicht stören.

Italiens Innenminister Salvini ordnete währenddessen per Dekret an, dass in Italien private Seenotrettungsschiffe zukünftig keine Landeerlaubnis mehr erhalten. Er setzte dieses trotz großen Drucks der EU, die diese Praxis als offen völkerrechtswidrig bezeichnete, selbst dann noch durch, als gegen ihn ein Strafverfahren wegen Freiheitsberaubung eingeleitet wurde, als er verhinderte, dass 177 kranke und völlig entkräftete Geflüchtete das Schiff Diciotti im Hafen von Catania über eine Woche lang verlassen konnten und das Boot auf seine Weisung hin festgesetzt wurde. Das Ziel solcher radikalen Maßnahmen ist klar: Es soll zukünftig keine unabhängigen Zeugen der Tragödien im Mittelmeer durch die zivilen Seenotretter mehr geben und die Flüchtlinge und Migrant*innen, wie auch die Helfer sollen mit den hier beschriebenen restriktiven Maßnahmen abgeschreckt werden.

Eingebetteter Medieninhalt

Im Übrigen nimmt in letzter Zeit auch die Kriminalisierung von an der Rettung Geflüchteter Beteiligter auch auf dem Festland zu. Die Inhaftierung von vor einiger Zeit noch mit Preisen für ziviles Engagement ausgezeichneten Flüchtlingshelfern wie Cedric Herrou (Frankreich) und Sarah Mardini (Lesbos) oder des Bürgermeisters des italienischen Stadt Riace, Domenico Lucano, der Geflüchtete aufnahm, ihnen Wohnungen zur Verfügung stellte und mehrfach wiedergewählt wurde, weil auch die Einheimischen von der Zuwanderung der Geflüchteten profitierten und das Dorf so wiederbelebt worden, sind nur die durch die Presse bekannt gewordenen Fälle. [14]

Mitglieder der rechtsradikalen Organisation der Génération Identitaire in Frankreich setzten die Rhetorik Salvinis bereits in die Tat um und griffen zu noch handgreiflichen Maßnahmen. Sie stürmten das Büro der französischen SOS Mediterrané in Marseille, vertrieben die Mitarbeiter und hingen Plakate auf, die die Seenotrettungsorganisation als Schlepper und kriminelle Vereinigung diffamierten.[15]

Die Zivilgesellschaft, vor allem in den sogenannten "Hot Spots" - ein weiteres Unwort - ist durch die Entwicklung der Europäischen Flüchtlingspolitik zunehmend gespalten oder wird dazu getrieben, gegen die Geflüchteten Stellung zu beziehen. Auf der Insel Lesbos in Moria erzählen Bewohner der Insel, sie verstehen die Flüchtlinge ja, sie seien auch nicht an der Misere Schuld, sondern die Politik, aber wenn fast 7500 Personen in einem völlig überfüllten Lager sind, das für 3000 Personen ausgelegt ist auf einer kleinen Insel, sei die Infrastruktur irgendwann am Limit und es würde zwangsläufig zu Problemen kommen. „Wir sind keine Rassisten aber wir werden gezwungen, rassistisch zu werden“, erzählt ein Anwohner Morias im Interview. Ein Apotheker aus der Hauptstadt von Lesbos, in Mytilini sagt „Erst die Wirtschaftskrise, dann die Flüchtlingskrise - wir schaffen es nicht mehr“. Die Menschen seien verzweifelt, es seien einfach zu viele. Europa müsse handeln und die Flüchtlinge auf das Festland lassen. Europa habe über 500 Millionen Einwohner. Alle Staaten seien verantwortlich, nicht nur die Inseln. „Wir können die Leute nicht vor den Toren Europas Europas halten“[16]

Aufs Festland jedoch dürfen derzeit nur die besonders Schutzbedürftigen, also z.B. unbegleitete minderjährige Flüchtlinge oder diejenigen mit Erkrankungen oder Behinderungen. Bei meinem letztjährigen Aufenthalt in Lesbos wurde mir von Geflüchteten erzählt, dass einige sich bereits aus Verzweiflung selbst verletzt hätten nur um als besonders schutzbedürftig zu gelten, um endlich aufs Festland zu kommen.

Zynismus in Politik und Medien

Und wie reagieren die Medien auf den Rechtsruck der Gesellschaft in der Flüchtlingspolitik? Im Sommer wussten selbst zuvor seriöse Medien wie die ZEIT mit den permanenten Provokationen Seehofers und anderer Europäischer Politiker nicht anders zu reagieren als mit einer Pro-und-Contra Diskussion zum Thema Seenotrettung unter dem zynischen Titel „Oder soll man es lassen?"[17].

Doch die Pläne zur Externalisierung des Flüchtlingsschutzes gehen noch weiter. Die österreichische EU-Präsidentschaft - Teil der selbsternannten „Achse der Willigen, Italien / Österreich“ - die Anleihen dieses Begriffs des Österreichischen Präsidenten Kurz, der aus der Zeit des Nationalsozialismus stammt, sei nicht bewusst geschehen - hat im Sommer dieses Jahres ernsthaft gefordert, zukünftig Flüchtlinge außerhalb der EU in „Rückkehrzentren“ festzusetzen, damit auf dem Boden der EU überhaupt keine Asylanträge mehr akzeptiert werden müssten.

Solidarity City ?

In der Zwischenzeit nimmt eine andere bedenkliche Entwicklung Gestalt an. Geflüchtete, die darauf warteten, endlich nach einem erfolgreichen Seenotrettungseinsatz an Land gehen zu können und Schutz in einem sicheren Hafen zu finden, werden erst nach langen politischen Verhandlungen und nach einer Zusage der Aufnahme von bestimmten Staaten oder aufnahmebereite Städten wie im Beispiel des Seenotrettungsschiffs Aquarius von Valencia an Land gelassen. Die französische Regierung (neben Städten wie Berlin) bot in diesem Fall auch an, eine geringe Zahl besonders schutzbedürftiger Geflüchteter aufnehmen zu wollen und diese nach deren Verteilung in Spanien durch eigene Beamte zu identifizieren. [18]

So sehr die Solidarität von Städten und Regionen als Korrektiv und eine Form des Widerstand zur Abschottungspolitik von Staaten wie Italien oder Österreich zu begrüßen ist, ist diese Entwicklung ein weiterer Schritt, das individuelle Flüchtlingsrecht nur noch als ein Gnadenrecht zu verstehen. Gleichzeitig wird das Asylrecht aus der Staatenverantwortung an die Zivilgesellschaft oder an private Akteure (wie die Seenotretter) delegiert, es somit outgesourct und im übrigen weiter an Drittstaaten zu externalisiert. Flüchtlinge werden im übrigen wie im letzten Beispiel durch die französische Regierung immer häufiger nach Nützlichkeitskriterien oder gerade passender politischer Agenda "vorselektiert".

Wenn diese beschriebenen Entwicklungen weiter umgesetzt werden, wären bereits viele der "Visionen" bereits erfüllt, die ich im Artikel „der Flüchtling unserer Wahl“ 2005 geschildert habe:

In einem von der EU-Kommission parallel dazu vorgestellten sogenannten Neuansiedlungsprogramm könnten einzelne EU-Mitgliedstaaten in einem "pledging-Verfahren" erklären, wie viele Flüchtlinge sie im Kontingent aufnehmen wollen. Dies deutet die Richtung an, in die das europäische Asylrecht zukünftig zu gehen droht: Jeder Staat wählt eine handverlesene Zahl von Flüchtlingen nach den jeweiligen Staatsinteressen oder zu symbolischen Zwecken aus statt einer an den Vorgaben der GFK orientierten Einzelfallprüfung“

So wird schlimmstenfalls doch noch Tony Blairs im Jahr 2003 "neue Vision für Flüchtlinge" wahr, in der er davon sprach, so sogenannte "sichere Häfen" in Afrika zu errichten. Sie sollen aus einem System angrenzender Schutzzonen um Europa bestehen und nach dem Vorbild der Australier funktionieren, die solche Zonen mit Internierungslagern, in denen menschenunwürdige Bedingungen herrschen, auf ihren vorgelagerten Inseln längst etabliert haben. Mit der Idee eines individuellen Rechts auf Asyl hat dies nichts mehr zu tun.

Während derzeit über 68 Millionen Menschen auf der Flucht sind – die höchste Zahl seit dem Ende des 2.Weltkriegs – ist 80 Jahre nach der Konferenz von Evian 1938, in der sich die Staatengemeinschaft nicht darauf einigen konnte, jüdischen Flüchtlinge aufzunehmen [19] von einem ursprünglich geplanten Gemeinsamen Europäischen Asylsystem nur noch ein Torso übrig.

*

Annex 13.10.2018

Heute, am 13.10.2018 gingen bei der Demonstration "unteilbar "in Berlin fast 250 .000 Menschen gegen die Kriminalisierung der Seenotrettung, der Verschärfung des Asylrechts der letzten Jahre, gegen den Rechtsruck und der Spaltung der Gesellschaft friedlich auf die Strasse und die von Toni Negri und Michael Hardt Anfang der 2000er beschriebene „Multitude“ von linken und sozialen Bewegungen nahm zum ersten Mal Gestalt an - es ist an der Zeit.

*

[1] Jochen Schwarz, "Pufferzone: Der Flüchtling unserer Wahl", in Freitag, 4.3.2005, https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/der-fluchtling-unserer-wahl

[2] Eine gute Übersicht der dortigen Zustände siehe Patrick Kingsley, "‘Better to Drown’: A Greek Refugee Camp’s Epidemic of Misery" in New York Times vom 02.10.2018 https://www.nytimes.com/2018/10/02/world/europe/greece-lesbos-moria-refugees.html

[3] Vgl. dazu ausführlich: Christian Jakob und Simone Schlindwein, "Diktatoren als Türsteher Europas", Bundeszentrale für politische Bildung, 2018

[4] Vgl: Entwurf einer Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Europäische Grenz- und Küstenwache und zur Aufhebung der Gemeinsamen Aktion 98/700/JHA des Rates, der Verordnung (EU) Nr. 1052/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates und der Verordnung (EU) 2016/1624 des Europäischen Parlaments und des Rates

Beitrag der Europäischen Kommission zum Treffen der Staats- und Regierungschefs in Salzburg vom 19. - 20. September 2018 https://ec.europa.eu/transparency/regdoc/rep/1/2018/DE/COM-2018-631-F1-DE-MAIN-PART-1.PDF

[5] Siehe Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 28.6.2018 http://www.consilium.europa.eu/media/35938/28-euco-final-conclusions-de.pdf

Vgl. hierbei auch die kritischen Anmerkungen im gemeiname Positionspapier von Pro Asyl, Amnesty international, dem Republikanischen Anwält*innenverein u.a Organisationen und Wohfahrsverbände mit einem genauen Überblick der geplanten Reformmaßnahmen, deren Vorschläge leider noch restriktiver sind, z.B der Dublin IV -Entwurf oder der Vorschlag, ein asylrechtliches Vorprüfungsverfahren aus den "Hot Spots" heraus zu lancieren: Für den Fortbestand des Zugangs zum individuellen Asylrecht in Europa; Zu den aktuellen Reformvorschlägen für das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS)

https://www.proasyl.de/wp-content/uploads/2015/12/Gemeinsames-Positionspapier-zur-Reform-des-GEAS-25-Januar-2017.pdf

[6] Siehe unter Punkt 11 der Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 28.6.2018 a.a.O.

[7] Siehe dazu u.a. Christian Jakob in der TAZ vom 8.8.18. „Kroatien ist so rabiat wie Ungarn“ http://www.taz.de/!5521293/

und ANSA, Border rejection, violence and death in Ventimiglia 2/18 http://www.infomigrants.net/en/post/7501/border-rejection-violence-and-death-in-ventimiglia

[8] EuGH (Urteil vom 19.06.2018, C-181/16); zu den Urteilen des EuGH, Constantin Hruschka, "Kein Raum für deutschen Alleingang" in Legal Tribunal Online vom 12.06.2018 https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/unionsrecht-vorrang-nationales-recht-migrationsrecht/

[9] Vgl. dazu die Entscheidung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) vom 04.11.2014 - 29217/12, Tarakhel

[10] Verwaltungsgericht Wiesbaden Beschluss vom 19.07.2017 https://www.proasyl.de/wp-content/uploads/2015/12/0_VG-Wiesbaden-15.9.17-Beschluss-zum-Familiennachzug-aus-Griechenland.pdf

[11] Der Tagesspiegel vom 13.09.2018, "Seehofer: Flüchtlings-Verhandlungen mit Italien abgeschlossen",https://www.tagesspiegel.de/politik/migrationspolitik-seehofer-fluechtlings-verhandlungen-mit-italien-abgeschlossen/23061992.html

[12] vgl. Fabian Hillbrand, Neues Deutschland, 4.10.2018, "Todesrate auf dem Mittelmeer so hoch wie nie" mit Zahlen des Italienischen Institut für internationale Politik

[13] Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 28.06.2018 a.a.O Punkt I Nr. 3

[14] Vgl. Roberto Brunelli, in die ZEIT vom 20.07.2018, "Italien verroht" https://www.zeit.de/politik/2018-07/fluechtlinge-italien-matteo-salvini-mittelmeer-rom-rimini-hass-hetze-verrohung

Am 13.10.18 liess Innenmister Salvini verkünden, dass er das Dorf Riace räumen lassen werde und die Geflüchteten auf andere Städte verteilt würden, Vgl. https://www.gmx.at/magazine/politik/italiens-innenminister-salvini-siedelt-migranten-vorbild-dorf-33243400

[15] Vgl. der Tagesspiegel vom 5.10.2018, "Rechtsextreme greifen Zentrale von SOS Méditerranée an" https://www.tagesspiegel.de/politik/ueberfall-in-marseille-rechtsextreme-greifen-zentrale-von-sos-mediterranee-an-22-festnahmen/23155094.html

[16] "Flucht nach Europa – Lesbos am Limit", Dokumentation von Y-Kollektiv, 4.10.2018 https://www.youtube.com/watch?v=5j760b0JrD0

[17] Caterina Lobenstein und Mariam Lau, "Oder soll man es lassen?" , die ZEIT vom 11.07.2018 https://www.zeit.de/2018/29/seenotrettung-fluechtlinge-privat-mittelmeer-pro-contra

[18] Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 17.6.2018, "Flüchtlinge der "Aquarius" kommen in Valencia an" https://www.sueddeutsche.de/politik/spanien-erste-fluechtlinge-der-aquarius-erreichen-hafen-von-valencia-1.4019014

[19] Vergleich hierzu meinen Artikel, Jochen Schwarz, "Von Evian nach Brüssel, eine Konferenz zum Flüchtlingsschutz und die Realität an den Aussengrenzen der EU" vom Juli 2008 https://www.borderline-europe.de/downloads/Von_Evian_nach_Bruessel_0708.pdf

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jochen Schwarz

Jurist & Magister des Europarechts, arbeitet im Projekt Asylverfahrensberatung der OASE Berlin, beim Flüchtlingsrat Berlin und bei Borderline Europe

Jochen Schwarz

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