Die tägliche Dosis

Leidenschaft Bertold Brecht las Krimis im Akkord, er las Krimis zur Inspiration, sogar zur Therapie. Fast hätte er selbst einen geschrieben
Ausgabe 18/2015
Polizisten bei der Arbeit in Belgien, aus der Serie „Police“ (siehe Info)
Polizisten bei der Arbeit in Belgien, aus der Serie „Police“ (siehe Info)

Foto: Sébastien Van Malleghem

Würde der große alte Brecht heute Drehbücher für den Tatort verfassen? Denkbar. Was wir sicher wissen: Schon 1921 ist er ein fast zwanghafter Krimikonsument. Das zeigen seine Augsburger Tagebücher: „Oft im Kino. Besonders in Detektivdramen.“ Oder: „Ich schwimme, trinke Limonaden, lese Detektivgeschichten, schreibe auch selber eine.“ Privat, in seiner erotischen Dauerwirrnis – „Die Affären verbrauchen mich“ –, (ge)braucht er zur Beruhigung immer wieder „Kriminalromane“. Der junge Brecht „verbraucht“ Krimis; aber er entwickelt auch ein Gefühl für Qualität. Von G. K. Chestertons „Detektivgeschichten“ schwärmt er: „Ich habe keine besseren gelesen. Hier löst tatsächlich der Verstand die Aufgabe.“

Chandler zu kaltschnäuzig

Damit ist die Vorliebe, ja das Dogma des Krimilesers Brecht formuliert. Dies wäre handfest zu belegen, wenn wir in Brechts „großem Arbeitsraum“ in der Chausseestraße 125 die zwei oder drei Regalbretter (die obersten, gleich rechts) durchsehen dürften. Wir behelfen uns mit dem Bücherverzeichnis, das Erdmut Wizisla, Leiter des Brecht-Archivs, publiziert hat. Allerdings: Anders als die Bibliothek nebenan, die mit Brecht so viele Länder gewechselt hat, ist dies nur ein Restbestand, ergänzt um Neuzugänge der letzten Lebensjahre, also 1954 bis 1956 (wo hatte er die wohl her?). Die meisten Krimis, die er vor 1933 und dann im Exil gelesen hat, dürften in Europa und den USA zeitnah entsorgt worden sein.

Dass der Verstand die kriminalistische „Aufgabe“ lösen soll, ist Brechts unumstößliches Credo. Der Kriminalroman ist für ihn ein rationalistisches Experiment, er „handelt vom logischen Denken und verlangt vom Leser logisches Denken“ (schreibt er 1938). Das englische Whodunit ist und bleibt deshalb seine favorisierte Spielart. Auch später findet er Simenon zu gefühlig, Chandler und seine Kumpels zu „kaltschnäuzig“. Schade eigentlich.

Bilder der Beilage

Police ist die erste Monografie des international renommierten Fotografen Sébastien Van Malleghem. Der 1986 geborene, gebürtige Belgier studierte Fotografie in Brüssel. Seine Langzeitprojekte befassen sich mit dem Thema Justiz in einem vereinigten Europa. Police ist der erste Teil einer Trilogie. Vier Jahre lang begleitete Sébastien Van Malleghem belgische Polizisten in ihrem Arbeitsalltag.

Für den zweiten Teil seiner Justiz-Trilogie besuchte Van Mallaghem 2011 drei Jahre lang ein belgisches Gefängnis. Die Serie Prisons wurde im Januar 2015 mit dem vierten Lucas Dolega photography Award ausgezeichnet. Prisons wird im Sommer 2015 von André Frère Éditions herausgegeben - Van Malleghem sammelt derzeit dafür über eine Crowdfunding-Kampagne.

Der dritte Teil des Projekts ist in Arbeit, Van Mallaghem will dafür im kriminellen Milieu fotografieren.

Ironischerweise war es der Sohn eines US-Senators, der das „englische“ Rätselspiel mit einem Kreis von Verdächtigen auf die Spitze getrieben hat: Von John Dickson Carr gibt es sieben Romane in der Restebibliothek – übertroffen nur von Erle Stanley Gardner, dem kalifornischen Staranwalt, dank multimedialer Selbstvermarktung der bestverdienende US-Autor seiner Zeit. Brecht hat seine Serie um Perry Mason, den Retter der unschuldig Verdächtigten, sehr geschätzt und 20 Bändchen hinterlassen.Anwalt Mason ermittelt stets zugunsten einer beschuldigten Person, deren Unschuld er dann im Gerichtssaal spektakulär nachweist. Eine Kombination der englischen detective story und des amerikanischen courtroom drama, die dem Rationalisten Brecht ebenso gefiel wie dem Dramatiker Brecht, der von Mahagonny und Dreigroschenoper über die Maßnahme bis zum Kaukasischen Kreidekreis mit Gerichtsszenen brilliert.

Da möchte man ihn fast – wie Doktor Watson den krittelnden Sherlock – fragen: „Why didn’t you write them yourself?“ Brecht könnte antworten: Ich hab’s doch versucht. Das war nach 1934, bereits unter dem „dänischen Strohdach“ und mit Freund Walter Benjamin, der zu Besuch kam. Geplant war ein Episodenroman um den pensionierten Richter Lexer (lat. lex, das Gesetz), dem es wohl weniger um die Wahrheit gehen sollte als um Korrekturen des Schicksals (wie später Dürrenmatts Ermittlern). Davon sind aber nur ein oder zwei Probestücke entstanden. Brechts Absicht, die Wirtschaftskrise nach 1929 zu spiegeln, hatte sich historisch erledigt. 1939 besetzten deutsche Truppen das goldene Prag. Nun galt es, gegen Hitler zu agitieren, da half kein Krimi.

Brecht bleibt notorischer Krimileser, sachkundig wie die Zeitgenossen Benjamin, Kracauer oder Heinrich Mann, die sich um 1930 zum Erfolgsgenre äußern. Brechts kurzer Zeitungsessay, 1940 auf Schwedisch erschienen, bei uns erst 1967, ist da aufschlussreich. Er formuliert darin zwei Gedanken, ohne sie schlüssig zu verbinden. Erstens, eine Gattungspoetik im Telegrammstil: Der Kriminalroman hat Regeln zu befolgen, er besitzt „ein Schema und erweist seine Kraft in der Variation“. Mit dieser Ästhetik der Wiederholung steht der Detektivroman (der immer gemeint ist, wenn Brecht „Kriminalroman“ sagt) in scharfem Kontrast zur Literatur der Moderne, der es um Innovation und Regelverletzung geht. Zweitens formuliert er eine kritische Theorie.

Kriminalfälle sind eigentlich Deckgeschichten: „Wir machen unsere Erfahrungen im Leben in katastrophaler Form. (...) Hinter den Geschichten, die uns gemeldet werden, vermuten wir andere Geschehnisse, die uns nicht gemeldet werden. Es sind dies die eigentlichen Geschehnisse.“

Hinter den Geheimnissen

Zurück zum Krimileser B.B. ... Er war sich seiner Lesesucht bewusst, wobei er sie terminologisch beschönigt: „meine beiden produktionsmittel, die zigarren und die (englischen) kriminalromane, gehen aus und müssen rationalisiert werden“, notiert er im April 1941, auf der Flucht in Helsinki. Weil er „rationiert“ meint, ist das auch eine sehr hübsche Fehlleistung.

Der Brechtforscher Carl Pietzcker hat des Dichters lebenslangen Kampf gegen seine „Herzneurose“ mit panischen Angstzuständen beschrieben, für den Sedativa wie das Rauchen oder auch die Frauen (!) so unverzichtbar waren. Dass Brecht auch die Krimilektüre kontraphobisch einsetzte, zeigen die Tagebücher der 1940er Jahre. So etwa, als sein und Ruth Berlaus Sohn Michel nach einer Frühgeburt stirbt, während Brecht vom FBI überwacht wird. Hingegen hat er 1949, als er in Ostberlin grandiose Pläne schmiedet, diese „Gewohnheit beinahe abgelegt“: „kaum zwei oder drei beendet“ – in den Mühen der DDR-Ebene tritt sie aber bald wieder in ihr therapeutisches Recht. Und muss auch nicht mehr zum Produktionsmittel stilisiert werden. Die Beruhigungsmittelchen liegen stapelhoch neben dem Bett, denn: „Ich brauche mein tägliches Quantum“.

Jochen Vogt veröffentlichte zuletzt einen Band über deutsche Literatur im Schatten von zweitem Weltkrieg und Holocaust

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