Nennen wir es einfach Mythenrecycling: dass die uralten Geschichten von Gut und Böse, Leben und Tod, Liebe und Gewalt, Männern und Frauen immer neu erzählt werden und uns noch heute faszinieren und provozieren. Der Gründungs-, Dauer- und Verheißungsmythos der Vereinigten Staaten von Amerika – the american monomyth – wurzelt in der Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies, also in der Bibel. Aber erst vier Jahrhunderte US-amerikanischer Geschichte haben ihm seine Form gegeben. Er feiert einen Helden, der ganz auf sich gestellt, single-handed, alle Gefahren abwehrt, die das Gemeinwesen von innen oder außen bedrohen, der hilft und der rettet, wo das Gesetz und seine Hüter fehlen oder versagen. Er lässt, ohne jemals eigenen Ruhm oder Lohn zu begehren, wieder eine paradiesische Zukunft aufscheinen – sei es auch nur im Abendrot, in dem er (sofern er gerade im Western auftritt) nach erledigter Heldentat so gern verschwindet.
Denn der heroische Erlöser wandert ja seit langem durch alle Formen der populären Kultur: durch Predigten und Politikerreden, unzählige Geschichten und Romane aller Genres, er agiert in Comics, Filmen und Fernsehserien jeglichen Niveaus. Er ist der namenlose Mann aus Virginia (1902) oder 60 Jahre später Der Mann, der Liberty Valance erschoss. Überhaupt sieht er in Dutzenden von Rollen aus wie John Wayne (ersatzweise Ronald Reagan). Er nennt sich Superman (seit 1938) oder Captain Kirk (ab 1966) oder John Rambo (der fünfte Teil soll 2017 in die Kinos kommen).
Marathon zum Hohn
Und ja, auch Regengötter (im Original Rain Gods, 2009), der 672-Seiten-Roman von James Lee Burke über einen alten Sheriff aus Texas, folgt diesem Schema. Dort, an der mexikanischen Grenze, tragen die Orte wie zum Hohn historische Namen: Marathon, Odessa oder Carlsbad. Die Wahrheit über diese Gegend aber verraten Flüsse, die Calamity Creek heißen oder Sixshooter Draw. Diese mit Zivilisationsmüll garnierte Halbwüste hat sich Hackberry Holland, ein großer, knochiger Mann „jenseits der 70“, als Altersexil und das Amt als Buße für all seine Lebenssünden gewählt. Einst war er Soldat und Kriegsgefangener in Korea, dann Alkoholiker und Gewerkschaftsanwalt. Seine über alles geliebte Frau hat er früh an den Krebs, seine Söhne später aus den Augen verloren. Eben jetzt aber schaufelt er die Leichen von neun jungen Frauen frei, bevor er dann doch die Jungs vom FBI ruft, die mit schwerem Gerät anrücken und wieder mal alles vermasseln.
Die jungen Asiatinnen, die von einem Maschinengewehr aus dem Zweiten Weltkrieg zerfetzt und mit einer Planierraupe verscharrt wurden, hatten wohl selbst eine bessere Zukunft im Sinn. Tatsächlich sind sie aber als Prostituierte verkauft und als lebende Heroincontainer missbraucht worden. Irgendwas muss dann schiefgelaufen sein in diesem Joint Venture verschiedener Unternehmer und Investoren, das im Massenmord, aber ohne Cashflow endet.
Da fühlen sich einige Auftragskiller zu kurz gekommen und wollen sich am harmlosesten Subunternehmer schadlos halten. Nick Dolan besitzt unglücklicherweise ein Striplokal, zum Glück aber auch eine patente Ehefrau (siehe weiter unten). Auch der junge Pete, der einen Job sucht und Augenzeuge des Massakers wird, gerät ins Visier der Killer, denen sich vorerst nur der gute alte Hack in den Weg stellt: Last Man Standing.
So weit, so gut, so schematisch, könnte einer sagen. Entscheidend, das wusste schon der Krimileser Bertolt Brecht, ist aber die Variation. Und dieses Buch wird unverwechselbar und für mich unvergesslich durch seine Vielschichtigkeit oder – um es mal altmodisch zu sagen – seinen epischen Atem.
Denn Sheriff Hollands Kampf wird gleich mehrfach in einen weiteren Rahmen eingebettet. Da ist zum einen die Natur, etwa die Tafelberge, die hinter Highway, Truckstop und Autofriedhof so archaisch-allegorisch aufragen, als ob sie auf das Treiben der menschlichen Rasse gut verzichten könnten. Da ist zum andern die ewige Frage nach Gut und Böse. Über Gott und die Welt räsoniert neben dem Sheriff auch sein gefährlichster Gegenspieler. Jack Collins nennt sich selbst „Preacher“, Prediger also, „die linke Hand Gottes, den Überbringer des Todes“; er feuert ohne Skrupel mit dem MG auf die Mädchen aus Thailand, kann aber auch – ebenso willkürlich – eine andere Frau nur wegen ihres biblischen Namens verschonen.
Später wird ebendiese Esther, ganz wie ihre Namenspatronin aus dem Alten Testament, dem mörderischen Treiben (genauer sogar: dem Judenmord) ein Ende bereiten und den falschen Prediger erledigen, und zwar mit Hilfe der uramerikanischen peanut butter. Dass ihr die junge Vikki mit einem 45er Colt vorgearbeitet hat, lässt vermuten, dass nur noch couragierte Frauen Amerika retten können.
Und die Männer? Der alte Sheriff wie der junge Pete leiden an Angstträumen und nächtlichen Schreikrämpfen. Den einen quälen Schreckbilder aus Korea, die ein halbes Jahrhundert alt sind, den andern die kaum verheilten Wunden aus Afghanistan. Ein FBI-Agent verliert die Fassung und sein Leben, weil er die Ermordung seiner Tochter nicht verwinden kann. Und der teuflische Prediger hat neben der lebensgefährlichen Erdnussbutterallergie einen höchst gruseligen Mutterkomplex. Immerhin wird Nick Dolan, der seit Kindeszeiten gemobbte jüdische Bengel aus New Orleans, von seiner Esther gerettet (siehe oben).
Der amerikanische Traum, das gibt uns Burke zu verstehen, ist völlig ausgehöhlt von den Traumata der Amerikaner. Ein Land für alte Männer und junge Invaliden. Ihre Lebensgeschichten addieren sich zum Dauerkrieg, ihre Beschädigungen bilden die Kehrseite des ewigen Heldenmythos.
Hochdekorierte Veteranen
Ein wenig überraschend, dass all diesem Horror ein versöhnlicher Schluss folgt: Dass Pete und Vikki ihre kleine Farm in den grünen Bergen bekommen, dass der alte Hack sich doch eine elegische Romanze mit seinem, sorry: mit seiner Deputy namens Pam genehmigt, und dass auf der vorletzten Seite sogar die stars and stripes flattern dürfen. Ob dies nun ein Stilbruch sei oder souverän-ironischer Altersstil, das zu entscheiden – hätte jedenfalls der junge Fritz Schiller gesagt – liegt ganz „in der republikanischen Freiheit des lesenden Publikums“.
Eine notwendige Nachbemerkung. James Lee Burke, heute selbst ein Mann „jenseits der 70“, hat seit den 80er Jahren mehrere Dutzend Kriminalromane und oder Thriller in verschiedenen Serien mit wechselnden Helden und ebensolchem Erfolg verfasst, gilt in den USA aber längst als einer der ganz Großen seiner Altersklasse und ist mit allen verfügbaren Preisen dekoriert. Bei uns ist das nie so richtig angekommen, auch weil – aus mir nicht bekannten Gründen – die deutschen Verlage, zuletzt Ullstein, seit 2002 keine Übersetzungen mehr publiziert haben. Das betrifft, wenn Wikipedia nicht lügt und ich recht gezählt habe, mindestens zehn Romane, darunter zwei mit Sheriff Holland (aus den Jahren 1971 und 2011!). Ich gebe gern zu, dass ich – auch aus diesem Grund – bisher keine Ahnung vom wahren Format dieses Autors hatte und unvorbereitet in ein grandioses Lektüreerlebnis geschlittert bin. War aber trotzdem toll!
Und jetzt verlassen wir uns drauf, dass Herr Naegele vom Heyne Verlag den euphorischen Worten, mit denen er zur Neuentdeckung von James Lee Burke aufgerufen hat, handfeste Verlegertaten folgen lässt.
*Vele - Am Ort des Verbrechens
Tobias Zielony studierte im englischen Newport Dokumentarfotografie, als ihm die Idee kam, Jugendliche in Jogginganzügen aufzunehmen. „Damals, 1999, hatte ich das Gefühl, alle jungen Leute tragen diese Kleidung“, erzählt Zielony. Beim „Guardian“ fragte man: „Was ist jetzt die Geschichte?“ Und Zielony antwortete: „Na, die Jungs, die da rumhängen, nichts zu tun haben und Jogginganzüge tragen.“ Meint: Tobias Zielony ist kein Künstler, der seine Bilder auf eine stereotype Erzählung reduzieren will, auf Arbeitslosigkeit, Gewalt, das Übliche.
Über „Schrumpfende Städte“ (2004) sagt er, er habe für das Projekt in Halle/Saale fotografiert, ohne etwas von den Problemen zu wissen: Zielony findet es spannend, dass man eigentlich nie genau weiß, wo die Bilder aufgenommen wurden. Unser Krimi-Spezial illustrieren Fotografien aus Tobias Zielonys Buch „Vele“ (Spector Books 2014, 576 Seiten, 40 €) über Vele di Scampia, eine Wohnsiedlung im Norden von Neapel. In den 80er Jahren Schauplatz des Camorrakriegs, gehört der Gebäudekomplex heute zu den größten Drogenumschlagplätzen Europas und symbolisiert die Macht der Mafia in der Region.
Regengötter James Lee Burke Daniel Müller (Übers.), Heyne 2014, 660 S., 16,99 €
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