Weihnachten haben wir immer gemeinsam zuhause verbracht. Auch wenn wir längst nicht mehr alle unter einem Dach wohnten, an Heilig Abend hat nie einer von uns gefehlt. Während all der Jahre ist es in unserer Familie zu einem Ritual geworden, dass Mutter am 24. Dezember nach dem Abendessen durchzählt, ob wir vollzählig sind. Sobald die Küche gemacht ist, huscht jeder noch einmal in irgendeines der Zimmer, um letzte Geschenke zu verpacken, ehe Vater schließlich einen tiefen Trompetenton durchs Treppenhaus schickt und ruft: "Der Abend ist uns heilig, drum kommet alle eilig! Bitte antreten zum Duuurchzählen!" Es ist jedes Jahr gleich: erst die Trompete, dann der Reim und das lange uuu. Bei dem uuu stürmten wir früher wie johlende Apachen hinunter ins Wohnzimmer, stellten uns in eine Reihe und zählten laut durch. Weil wir rituell sowohl unsere Eltern als auch den Christbaum mitzählen, sind wir an diesem Abend im Jahr zu siebt. Den Baum nehmen wir beim Zählen in die Mitte, und da die Tanne nicht sprechen kann, muss einer von uns deren Part übernehmen und an der richtigen Stelle laut und deutlich sagen: "vier!".
Ich mag Tradition. Und noch lieber mag ich die Geschichte des eisigen Weihnachtsfestes 1986, als wir kurz nach Vaters Trompetenton im Wohnzimmer standen und niemand laut und deutlich "vier!" sagte. An jenem Weihnachtsabend hatte nämlich Oskar, der Jüngste, der gerade in den Kindergarten gekommen war, unbedingt die Rolle der Weißtanne übernehmen wollen. Bereits Tage vorher hatte er sich gefreut und fleißig vor dem Spiegel geübt. Und dabei hatte er das Wort "vier" mit Leben gefüllt, wie wohl kaum ein anderer auf der Welt. Noch heute passiert es mir oft, dass ich schmunzeln muss, höre ich irgendwo jemanden diese Zahl sagen. Ich meinem Kopf läuft dann einen Kurzfilm ab, in dem ein Vierjähriger im Bad steht und voller Hingebung seine Sprechübungen macht. Eine Weißtanne, Oskars erste große Rolle.
Doch wie angedeutet: Am Heiligen Abend des Jahres 1986 stand unser kleiner Bruder einfach nicht an seinem Platz. Als wir aufgeregt im Pulk die Treppe hinunter rannten, merkten wir noch nicht, dass jemand fehlte. Als wir dann aber, aneinander gereiht, im wachsduftigen Wohnzimmer standen und die Weißtanne stumm blieb, wussten wir, dass etwas nicht stimmte. Oskar steckte voller verrückter Ideen, aber man konnte ihn nicht ständig im Blick behalten. Eilends durchsuchten wir das Haus. Wir brüllten in den Keller, wir klopften an Schranktüren und öffneten Bettkästen, wir schrieen in die Garage und in die Dunkelheit, und froren uns draußen auf der Straße die Ohren ab. Gut eine Viertelstunde war vergangen, als wir in der Einfahrt standen und ein paar Herzschläge lang schwiegen. Mitten hinein in dieses Schweigen hörten wir schließlich seine Stimme.
"Pst!", legte Mutter den Finger auf den Mund. Wieder Stille. "Oooskaaar!", rief Vater - und dann rannten wir auch schon. Unserem Vater hinterher, den kleinen Fußweg hinab Richtung Sportplatz. An einer Laterne auf halber Strecke fanden wir ihn, wir sahen es, mit eigenen Augen, auch wenn es keiner glaubt: der kleine Oskar, mit der Zunge festgefroren am Laternenpfahl. Ein Anblick, den man nicht so leicht vergisst.
Der Kleine gab sich tapfer, aber man konnte ahnen, dass er bis vor wenigen Augenblicken noch geweint hatte.
"Schnell, geh´ den Fön holen! Los!", drängte Mutter, "Und das 100 Meter lange Verlängerungskabel!", rief meine Schwester. Ich wollte schon flitzen, ehe Vater intervenierte: "Stop! Nein! Nicht den Fön - die Kamera!" Wir mussten lachen, und, daran erinnere ich mich noch genau: Oskar war der Erste, der lachte. Er starrte den Pfahl an und lachte. In meiner Erinnerung war das ein besonderer Moment, denn mit einem Mal fiel uns allen ein Stein vom Herzen.
Längst hatte Mutter ihn wärmend in den Arm genommen, ehe wir anderen uns um die Laterne schlangen, wie ein wollener Schal um einen Hals. Und während dieser Minuten, die wir so dastanden, sagten wir ihm nette Sachen: Wir machten Komplimente, erzählten Witze und sangen schließlich Weihnachtslieder. Und jeder von uns schickte ihm dabei soviel warmen Atem in die Mitte, wie er nur konnte. Voller Inbrunst sangen wir jener eisigen Naht entgegen, die unseren Oskar an die Laterne heftete. Wir trällerten so laut, inbrünstig und wärmend, dass jeder Pfarrer seine helle Freude an uns gehabt hätte, und während wir das taten, taute langsam das Eis zwischen Oskar und der Laterne. Mehr und mehr löste sich die kleine Zunge meines Bruders ab, und bei der dritten Strophe von "Süßer die Glocken nie klingen" war es dann soweit. Oscar war frei. Endlich. Wie er strahlte! Wie er die Hände in die Luft reckte!
Wenig später trafen wir zuhause ein.
Er erzählte uns, dass er "vorhin bloß kurz raus wollte, ein bisschen Schnee fürs Wohnzimmer holen", dabei sei ihm die Idee gekommen, an der kalten Laterne zu lecken. Das hätte er mal probieren wollen.
Zum zweiten Mal an diesem Abend presste mein Vater einen langen, brummigen Ton aus seiner Trompete. Dann stürmten wir ins Wohnzimmer, stellten uns der Reihe nach auf und lauschten dem Einsatz der Tanne.
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