Rita Fährt

Berliner Abende Ich habe schon oft jemanden im Krankenhaus besucht. In Kiel, Dortmund, Esslingen. In Neukölln, Köpenick, Friedrichshain. Im Laufe eines Lebens hat ...

Ich habe schon oft jemanden im Krankenhaus besucht. In Kiel, Dortmund, Esslingen. In Neukölln, Köpenick, Friedrichshain. Im Laufe eines Lebens hat man schon auf vielen Stationen jemanden liegen gehabt, der einem etwas bedeutete.

Blinddarmentzündungen, Schlaganfälle, Geburten, Hepatitis, Krebs. Und je älter man wird, umso mehr hält man sich in Kliniken auf. Man bringt Blumen oder Pralinen, man bestellt Grüße von denen, die nicht mitkommen konnten, die sich Sorgen machen aus der Ferne. Man sitzt am Fußende des Betts und redet, was einem so einfällt. Manchmal ist das nicht besonders viel, weil die wichtigsten Fragen bereits beantwortet sind. Und dann sitzt man am Fußende und muss die Pralinen jener Leute essen, die einen Tag vorher da waren. Man stopft sie in sich rein und denkt, man ist ja kerngesund, und das Zeug muss weg.

Rita ist guter Dinge. Während sie noch mal mit dem Arzt spricht, packe ich schon ihre Sachen vom Nachttisch in eine Tasche. Sie will es so. Auch wenn ich nur einzelne Fragmente des Gesprächs wahrnehme und bemerke, dass da etwas in der Stimme des Arztes liegt, das mich zögern lässt, packe ich dennoch auf ihre Anweisung hin alles restlos ein. Rita hatte den den rätselhaften Satz gesagt: Ihr Schiff liege im Hafen, sie wolle es nicht von hier oben auslaufen sehen.

Als wir das Zimmer verlassen und durch den Gang gehen, bin ich froh, dass sie nur drei Wochen, und nicht drei Monate hier war. Sie nimmt doppelt so viele Sachen mit nach Hause, wie sie mitgebracht hat. Säfte, Bücher, CD´s, Zeitschriften, Kekse, Pralinen - die Tasche ist so voll, dass man den Reißverschluss nicht mehr zuziehen kann. Mit der einen Hand trage ich die Tasche mit den Geschenken, mit der anderen ziehe ich den Koffer mit ihren Kleidern. Sie trägt die Blumen.

Ich folge ihr in kurzem Abstand, während sie an jedem Zimmer klopft, das wir passieren, und jedem der Patienten eine Praline anbietet. Die Abschiedspraline. Bis auf Zimmer 46. Da lägen zwei, erklärt sie, die das sowieso nicht zu schätzen wüssten. Und steuert bereits das Schwesternzimmer an. Rita ist voller Tatendrang.

"Darf ich fahren?", fragt sie. "Das Auto ist kaputt", sage ich, "ich bin mit der Tram gekommen." "Schade, ich wär jetzt wahnsinnig gern eine Runde hinterm Lenkrad gesessen."

Wir nehmen die Straßenbahn. Wir fahren durch die Straßen, ich habe Ritas Gepäck auf dem Schoß, während sie aus dem Fenster blickt und immer wieder sagt: "Wirklich schön. So ne Fahrt durch Berlin."

Rosen, Gerbera und Narzissen lehnen ihre Köpfe ans kühle Fenster, und für einen Moment scheint es, als würde die Zeit still stehen und Rita nie wieder aussteigen wollen.

Doch dann auf einmal schnellt sie in die Höhe, schiebt sich an mir vorbei, und kaum dass die Tram zum Stehen kommt, tippt sie dem Fahrer von hinten auf die Schulter.

"Tschuldigung, wenn ich störe", sagt sie, "ist das denn eigentlich schwer, so eine Tram zu fahren?" Verwundert dreht er sich zu ihr um. "Ich würde gern mal eine Tram durch die Stadt steuern. PKW-Führerschein hätt ich." Noch immer blickt der Fahrer sie sprachlos an. Dann dreht sich Rita zu mir um, deutet auf die Krankenhaustasche, und während die Bahn bereits wieder angefahren ist, fragt sie: "Mögen Sie Pralinen?"

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