Aus der Nacht

Biografie Rüdiger Zill beschreibt das Leben des Philosophen Hans Blumenberg, der jetzt 100 geworden wäre
Ausgabe 29/2020

„Mit Blumenberg war keine Schule zu machen“, steht in einem anderen zum 100. Geburtstag des Philosophen erschienenen Büchlein (Uwe Wolff, Der Schreibtisch des Philosophen, Claudius-Verlag, München 2020). Damit ist zunächst gemeint, dass Hans Blumenbergs jeder Thesenhaftigkeit widerstehendes Schreiben kaum didaktischen Stoff für den gymnasialen Philosophieunterricht geboten habe, schon gar nicht in den progressiv bewegten 1970er Jahren. Doch Blumenberg begründete auch selbst keine Schule, denn weder war er Systematiker, noch betrieb er die Platzierung seiner (ohnehin wenigen) Doktoranden an akademischen Schaltstellen.

Kein Tagesgeschäft

Seine enzyklopädische Gelehrsamkeit und gewaltige Produktivität nutzte er nicht, um sich ex cathedra über die drängenden Fragen der Zeit zu äußern. Einmal spricht er gar von den „sektiererischen Aktualitäten der Saison“, die den Philosophen nichts angingen. Man möchte sagen: Je produktiver er wurde, desto mehr entzog er sich auch dem Streit, desto leiser wurden seine Töne, desto feiner sein Stil und desto schwerer zu fassen die Argumentation. Mit seiner immer belletristischer werdenden Form des Philosophierens schien er gut zum Suhrkamp-Verlag zu passen, ohne sich aber nahtlos in eine eher am Leitstern Habermas orientierte Suhrkamp-Kultur zu fügen. Blumenbergs wachsende Beliebtheit versteht sich dabei keineswegs von selbst. Verschont er den Leser mit erkenntniskritischen Vorreden, baut er dafür Perioden, für deren Bewältigung nicht einmal der Lohn einer klaren These garantiert ist.

Durch Odo Marquard, den Diogenes Laertius der Blumenberg-Biografik, ist das Bild eines Philosophen überliefert, den immerzu die Sorge plagte, sein Werk zu Lebzeiten nicht mehr fertigzubringen, und der deshalb darauf verfallen sei, jede Woche eine Nacht Schlaf einzusparen. Seine kostbare Lebenszeit wollte er zuletzt ganz dem Schreiben widmen; das Publizieren überließ er mehr und mehr der Ewigkeit, worin sich auch die Zuversicht ausdrückt, nicht sogleich vergessen zu werden. Es ließe sich behaupten, erst mit seinem Tod und der Veröffentlichung der mehr oder weniger publikationsreif vorliegenden Manuskripte könne die eigentliche Rezeption beginnen, „denn auch meine Bücher sind überwiegend Nebenarbeiten und kommen nicht aus der Hauptlinie der Philosophie phänomenologischer Prägung“, wie er einem Jugendfreund schrieb. Mit jeder Nachlasspublikation gewinnt das Bild des Denkers an Facetten und ändert sich der Blick auf das zu Lebzeiten erschienene Werk, auch wenn man dessen Relativierung durch den Autor nicht durchweg zustimmen möchte.

Das von ihm selbst gepflegte Bild eines Denkers, der fast nur in seinen Werken spricht – anstelle von Interviews kennt man nur einen F.A.Z.-Fragebogen – wird auch in der ersten Gesamtdarstellung von Leben und Werk durch Rüdiger Zill nicht prinzipiell infrage gestellt. Die Bezeichnung als „intellektuelle Biografie“ steckt hier den Rahmen des zu Erwartenden ab: Über die persönlichen Verhältnisse erfährt man kaum mehr, als es im Rahmen einer Beschreibung seines geistigen, vor allem aber seines beruflich-akademischen Werdeganges unbedingt nötig scheint. „Ursula Blumenberg hielt ihren Mann nicht nur in der Ökonomie des Alltags den Rücken frei, sondern übernahm – zumindest bei der Fahnenkorrektur – auch eine unterstützende Rolle im Haushalt des Denkens.“ Das könnte wohl ähnlich in der Biografie eines Gelehrten der Jahrhundertmitte stehen.

Über die Ehe, die sich doch unter abenteuerlichen Verhältnissen angebahnt hatte – es waren die späteren Schwiegereltern, die Blumenberg in den letzten Kriegsmonaten versteckt hielten –, erfahren wir nur wenig mehr. Blumenbergs Diskriminierung und schließlich Verfolgung als „Halbjude“ unter dem Nationalsozialismus werden ausführlich geschildert, seine seltenen vergangenheitspolitischen Äußerungen kommen ebenfalls zur Sprache. Keine Rede ist davon, was die jüdische Tradition ihm intellektuell bedeutet haben könnte und auch nicht, wie sein Umgang damit gegenüber den Zeitgenossen der Frankfurter Schule oder Jacob Taubes, die auf die jüdisch-messianische Tradition rekurrierten, ein Trennendes markiert haben könnte.

Das Überlassen wichtiger Publikationen an die Nachwelt lässt sich auch als eine actio per distans verstehen, eine Handlung auf Entfernung, wie sie Blumenberg in den 1970er Jahren zu einer zentralen Kategorie des Menschseins schlechthin entwickelt hat: die Handlung durch Vermittlungsinstanzen, etwa die Falle, die der urzeitliche Jäger stellt. Die Hand geht dem Gehirn voraus; sie schafft und betätigt die Mittel, mit denen Distanzen gewahrt oder überbrückt werden. Die Rolle der Falle übernimmt dann später der Begriff: Beide sind „zugerichtet auf die Figur und die Maße, die Verhaltensweise und Bewegungsart eines erst erwarteten, nicht gegenwärtigen, erst in Besitz und Zugriff zu bringenden Gegenstandes“. Diese Auffassung entwickelt Blumenberg zu einer Theorie der „Unbegrifflichkeit“, die Mythos und Metapher als Ausdrucksformen des Unsagbaren auffasst, mit denen das übermächtige Absolute, obschon provisorisch, überwunden wird.

Kafka als Therapeut

Zwar findet Zill durchaus Beispiele, in denen das Werk das Leben, die Gefühlslage Blumenbergs zu reflektieren scheint – plakativ etwa die Auseinandersetzung mit Kafka nach dem Tod des Vaters; komplizierter indessen die Relation zwischen dem eigenen Glaubensverlust und der Hinwendung zur religiösen Krisis am Ausgang der Neuzeit, die vielfach vermittelt war (etwa durch ein frühes naturwissenschaftlich-technisches Interesse). Auch die Reaktion auf Zeitgenössisches fehlt nicht: Blumenberg setzt sich mit der Nihilismus-Kritik der frühen 1950er Jahre ebenso auseinander wie mit der Studentenbewegung 15 Jahre später. Es ist allerdings eine zunehmend indirekte Auseinandersetzung, wie auch Blumenberg sich nicht als engagierter und immer weniger als öffentlicher Intellektueller verstanden hat. Seine zunehmende Selbstdistanzierung von politischen Ereignissen lädt nicht dazu ein, an seinem Beispiel ein ideengeschichtliches Panorama zu entfalten. Eine einfühlende Beschreibung des Menschen – so der Titel des nachgelassenen anthropologischen Hauptwerks –, Blumenberg erforderte dagegen einen subjektiveren Zugang, als er sich für eine erste Biografie gehörte, der es zunächst um gesichertes Wissen gehen muss.

Immerhin ist es doch die Frage nach Blumenbergs philosophischem Selbstverständnis, die den letzten Teil des Buches strukturiert. Anhand einschlägiger Texte, die im Abstand von etwa zehn Jahren erschienen, schreitet Zill den Denkweg Blumenbergs ab. Der „Weg“ ist dabei, wie Zill betont, eine der prominentesten Metaphern in der Selbstbeobachtung des Menschen. Blumenberg wählt oft lieber den Umweg – auch weil er, anders als Descartes, nicht überzeugt war, dass das Ziel gesicherter Erkenntnis erreichbar sei oder überhaupt feststehe. Umwege finden sich in den Werken und der Werkgeschichte zuhauf – der in den 1950er Jahren beschrittene Umweg über das Feuilleton, in dem Blumenberg neue Themen und Schreibweisen ausprobierte, mag hierfür beispielhaft stehen. „Der Mensch ist das Wesen, welches Umwege machen darf“, gehört zu seinen frühen Definitionsversuchen. Als spezifisch menschliche Kultur- und Erkenntnisleistung ist der Umweg sozusagen das Ziel, wie auch der Mythos bei Blumenberg kein schlechter Ersatz für einen stets zu privilegierenden Logos ist, sondern eine Erkenntnisart eigenen Rechts und eigener Würde. Als Antithese zur cartesischen Methodenlehre ist der Umweg eine philosophische Antimethode.

Auf absehbare Zeit wird Rüdiger Zills Biografie für jede Beschäftigung mit diesem in eigener Sache so schweigsamen Philosophen unverzichtbar sein. Ein allzu forsches und zudringliches Interesse am Anekdotischen wird auf Distanz gehalten. Wenn deshalb die Spuren des Menschen im Werk mitunter undeutlich bleiben, ist der Verzicht auf eine einseitige Deutung Blumenbergs als großer Vorzug hervorzuheben. Von einer definitiven Biografie zu sprechen, wäre ohnehin kaum im Sinne eines Denkers, der dem Anspruch auf Letztgültigkeit stets misstraute.

Mit Hannes Bajohr und Florian Fuchs hat Joe Paul Kroll soeben History, Metaphors, Fables. A Hans Blumenberg Reader (Cornell University Press) veröffentlicht

Info

Der absolute Leser – Hans Blumenberg. Eine intellektuelle Biographie Rüdiger Zill Suhrkamp 2020, 816 S, 38 €

12 Monate für € 126 statt € 168

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