Postdemokratie in Echtzeit

Gastbeitrag Hinter der Afghanistan-Katastrophe steht auch eine Schwächung der Parlamente in westlichen Demokratien – etwa des Bundestags. Dort gab es stets Kritik an diesem Krieg
Kritik aus den Bundestagsdebatten aufzunehmen, scheint gerade auf Seiten der Regierungsparteien nicht immer angesagt. Norbert Röttgen pflegt diese Attitüde anscheinend schon seit Jahren (Symbolbild)
Kritik aus den Bundestagsdebatten aufzunehmen, scheint gerade auf Seiten der Regierungsparteien nicht immer angesagt. Norbert Röttgen pflegt diese Attitüde anscheinend schon seit Jahren (Symbolbild)

Foto: Sean Gallup/Getty Images

Eine Überraschung war die Afghanistan-Krise nicht. Und wer versucht, die ausgebliebene Vorbereitung auf eine schnelle Machtübernahme durch die Taliban so zu rechtfertigen, läuft daher auch in eine Sackgasse. Warum aber scheint sich die Bundesregierung trotzdem nicht auf das gegenwärtige Szenario vorbereitet zu haben? Gab es nicht genügend lautstarke Stimmen, die davor gewarnt hatten, dass auf den angekündigten Abzug der Vereinigten Staaten zeitnah auch eine erneute Machtübernahme der neuen alten Herrscher folgen würde?

Ein Großteil der jetzigen Situation ist sicherlich mangelhafter Planung und damit auch verantwortlichen Personen in Regierungsverantwortung anzulasten. Bei einer kommenden Aufarbeitung des Einsatzes sollten daher auch diese Verantwortlichkeiten keinesfalls ausgeklammert werden. Gleichwohl sollte in einer Demokratie hin und wieder aber auch die Frage gestellt werden, auf welche systemischen Ursachen solche Krisen hindeuten könnten. Das Afghanistan-Debakel macht nämlich womöglich eine Dysfunktionalität des deutschen Politbetriebs sichtbar: den Bedeutungsschwund des Bundestages.

An diesem zentralen Ort der bundesdeutschen Demokratie wurde in den vergangenen Jahren zwar immer wieder besonders lautstark der Afghanistan-Einsatz von allem möglichen Seiten der Opposition kritisiert und vor fatalen Konsequenzen in der Zukunft gewarnt. Doch Einfluss auf das Regierungshandeln schienen diese Warnungen nicht zu haben. So wurde weder auf die repetitiven Kritiken der Linkspartei gehört, deren Vorgängerpartei PDS schon zu Beginn gegen den unter der Regierung Schröder beschlossen Einsatz war. Ebenso wenig Gehör fanden aber auch die mahnenden Anträge und Anfragen der Grünen oder FDP der jüngeren Geschichte, die zwar beide als Parteien die Einsätze als solche mittrugen, aber immer wieder plausible Kritiken an Zielsetzung und Stand hatten oder eine transparentere Diskussion über die eigentliche Zielsetzung forderten.

Ein Fünkchen Wahrheit

Nun lässt sich darüber streiten, welche dieser konstruktiv-kritischen Oppositionsparteien in der Endphase des zwanzigjährigen Einsatzes nun das Gros des Recht-Behaltens für sich beanspruchen kann. Kaum bestreiten lässt sich aber, dass in all diesen kritischen Stimmen ein Fünkchen Wahrheit gesteckt hatte, auf das besser zu hören, wohl zuletzt Menschenleben hätte retten können.

Nun war es in der bundesdeutschen Geschichte noch nie so, dass Fraktionen und Abgeordnete der Opposition eine besonders große Machtfülle hatten. Und letztendlich bleibt der Opposition vor allem die Rolle der Besserwisser, die sich in den Jahren des Nicht-Regierens medial als mögliche Besserhandler vorzustellen haben.

Dennoch zeigt die Geschichte der deutschen Afghanistan-Debatte im Bundestag ein besonderes Maß an Missachtung aller vorgebrachten Argumente und Gegenvorschläge. Und das konsequente Übergehen der Opposition in Sachen Afghanistan-Einsatz wurden in den 16 Jahren der Ära Merkel auf die Spitze getrieben.

Deutlich wird dies auch am kommunikativen Umgang der Regierungsparteien mit dem Desaster. Am Abend des 18. August 2021 wurde der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages, Norbert Röttgen (CDU), inmitten der sichtbar gewordenen Tragödie von der Journalistin Sandra Maischberger befragt, wie es sein konnte, dass die Koalitionsmehrheit einen Antrag der Linkspartei abgelehnt hatte, in dem diese bereits im Juni des Jahres eine Evakuierung der Ortskräfte vor Ort eingefordert hatten. Letztendlich habe sich doch diese Forderung als eine richtige herausgestellt. Einem derartigen Antrag der Opposition aber zuzustimmen sei, so Röttgens klare Antwort, schlicht nicht üblich. Er fügte hinzu, dass Derartiges ohnehin nicht im Parlament entschieden würde, was zweifellos eine bemerkenswerte Verfassungsinterpretation darstellt. Es blieb auch nicht beim Übergehen des Linken-Antrags, denn im Juni stellten auch die Grünen eine ähnliche Evakuierungsforderung, der die Linkspartei zustimmte, die FDP sich enthielt und die übrigen Parteien sie ablehnten.

Was Röttgen offenbart

Röttgens Antwort offenbart, was für aufmerksame Beobachter der Politik wohl keine Überraschung sein wird: Im Bundestag geht es nicht um die reine Suche nach Best Practice, sondern vor allem um das Behaupten vor dem Gegenüber. Röttgen trat im besagten Talkshowinterview daher vor allem als ein Bollwerk auf. Eine Idee, die nicht von Seiten der Regierungsparteien selbst kommt, hat aus einer höheren demokratietheoretischen Überlegung zwar einen Stellenwert, für die regierenden Akteure in der Institution aber keinen Mehrwert. Daher werden Regierungsfunktionäre und die entsprechenden Parlamentarier wie Röttgen zu Parteisoldaten, die als reflexhafte Türsteher jedwede politische Idee und Programmatik, die nicht aus ihren eigenen Reihen kommt, abwehren. Auf diese Weise entsteht eine lähmende Inaktivität des demokratischen Austauschs im Herz der deutschen Demokratie, dem Deutschen Bundestag.

Die Offenheit, in der Röttgen das Übergehen des Parlaments als legitim darzustellen versuchte, belegt dabei ungewollt die Diagnose des britischen Soziologen Colin Crouch. Crouch prägte in einem heute noch lesenswerten Essay aus dem Jahr 2004 den Begriff der Postdemokratie. Damit beschreibt er eine Aushöhlung parlamentarischer Institutionen, wie der Parlamente. Die Institutionen in den westlichen Demokratien seien nach wie vor vorhanden, sie würden aber durch externe Eingriffe und Missbrauch entkernt und geschwächt. Ein Beispiel dafür sei der Lobbyismus, dessen Kräfte dafür sorgten, dass in die Demokratie, die auf Gleichheit basiert, ein Element der Ungleichheit eingebracht wird: Wer mehr Geld und Ressourcen aufwenden kann, seine Meinung zu verteidigen, wird sich damit durchsetzen, auch wenn er unrecht hat.

Röttgens Aussage offenbart, dass die Postdemokratisierung auch mit der gelebten Kultur der Parlamentarier zusammenhängt. Denn die Koalitionäre leben gegenwärtig einen radikalen Ausschluss der Mächtigen, also ihrer selbst, gegenüber den von der Macht ausgeschlossenen, der Opposition. Zwar mag es nicht die Rolle der Opposition sein, dass sie die Regierungsgeschicke, Richtungen und Inhalte bestimmt, aber dass sie prinzipiell nie einen Einfluss hat, scheint nicht nur aus ideeller Perspektive Schaden an der Demokratie zu üben, sondern auch die Suche nach der Best Practice zu behindern.

Kampf um Sichtbarkeit

Denn gegenwärtig muss sich die Opposition auf den reinen Kampf um Sichtbarkeit und Aufmerksamkeit konzentrieren. Zur Passivität verdammt, bleibt ihnen die Fehlersuche am Gegner, nicht aber im Sinne des Gemeinwohls, sondern im Sinne des Eigenwohls. Hat sie ein Problem entlarvt oder eine möglicherweise bessere Idee eingebracht, bleibt wenig Raum für beide Seiten im Spiel der Kräfte, die Energien auf die Sache zu lenken. Vielmehr sind beide Seiten gezwungen zu kaschieren, dass man sich an der ein oder anderen Stelle überzeugt haben könnte. Demokratie à la Röttgen bedeutet die maximale Nicht-Kommunikation oder Berührung der demokratischen Kräfte.

Prinzipiell müsste diese Absolutheit nicht demokratieschädigend sein, denn Demokratie muss nicht immer bedeuten, einen Konsens im Miteinander zu finden. Das Problem besteht darin, dass dieser Radikalausschluss die Opposition mehr entkräftet, als es der Demokratie insgesamt guttut. Die Oppositionsparteien im gegenwärtigen Bundestag werden weitgehend nicht als rebellische Kräfte gegen „die Mächtigen“ wahrgenommen (mit einer Ausnahme vielleicht). Und dennoch bedeutet Opposition, auch wenn sie vielerlei fehlerhaftes Handeln aufzeigt und Probleme aufdeckt, dass sich die Parlamentarierinnen und Parlamentarier in der Öffentlichkeit trotzdem als Teil einer ominösen Masse „der da oben“ beschimpfen lassen müssen.

So sind die Oppositionellen hin- und hergerissen zwischen ihrer Aufgabe als Regierungskontrolle und dem Wunsch zu wirken. Es scheint paradox, aber die von der Macht ausgeschlossenen wählen auch aufgrund ihrer Ausgeschlossenheit nicht selten den Weg des geringsten Widerstandes. Zwar kommt es praktisch nie vor, dass die Regierungsparteien einem Antrag der Opposition zustimmen. Umgekehrt kommt es aber durchaus zuweilen vor, dass die Opposition sich durchringt, einem Antrag der Regierenden zuzustimmen. Dies liegt nicht daran, dass die Regierung per se die besseren Anträge formuliert, sondern an einem Dilemma der Oppositionellen, die sich bewusst sind, dass eine fundamentale Opposition ihrerseits auch nicht goutiert würde. Denn letztendlich sind auch sie „die da oben“. So verpufft in der Postdemokratie die oppositionelle Energie.

Nicht nur „Mist“

Und diese Energie ist nicht gering. In Ausschüssen und Plenardebatten treten Abgeordnete der Opposition oft bestens vorbereitet auf. Mit Verve, Elan und Expertise gelingt es ihnen auch nicht selten, Skandalöses zu entlarven, auf Optimierbares hinzuweisen und auch gute (vielleicht sogar bessere) Vorschläge zu unterbreiten. Opposition ist daher auch nicht nur „Mist“, wie Franz Müntefering es einst formulierte. Opposition ist auch nicht wirkungslos. So mancher Feilschliff im Regierungshandeln wird auf Oppositionskritik oder zumindest die Antizipation dieser durch die Regierenden zurückzuführen sein.

Opposition ist im Deutschen Bundestag aber wirksamkeitslos. Das bedeutet, dass der notwendige Einsatz der Energien für die Sache an sich aus Sicht der Opposition immer weniger gewinnbringend ist. Die Aufmerksamkeitsökonomie der Öffentlichkeit ist aus Sicht der Opposition keine Meritokratie.

Wenn in naher Zukunft also das Ende der Ära Angela Merkel nostalgisch besungen wird, sollte man sich bewusst machen, dass es die Kanzlerin war, die in ihren vergangenen vier Regierungsjahren vor allem „stabile Verhältnisse“ wollte. Diese bedeuteten, was Norbert Röttgen aussprach, eine konsequente Passivierung der Opposition und auch eine Entmachtung des Parlaments. Man sollte sich vor Augen führen, dass diese „stabilen Verhältnisse“ Angela Merkel wichtiger waren als die Institution Parlament, vor deren Funktionalität sie sich offenbar fürchtete. 2017 bevorzugte sie auch daher das Bündnis mit der SPD gegenüber einer Minderheitsregierung, die das Parlament gestärkt, aber das Bollwerk in seinen Grundfesten erschüttert hätte.

Während der Afghanistan-Krise zeigen nun Umfragen, dass womöglich, erstmals seit etlichen Jahrzehnten in der bundesdeutschen Parlamentsgeschichte, keine Zwei-Parteien-Konstellation mehr eine Mehrheit im Bundestag erreichen würde. Womöglich ist dies ein Zeichen, dass der Demos dem Parlament einen Teil seiner Bedeutung zurückgeben möchte. Aus dem Afghanistan-Desaster muss indes vor allem eine Lehre gezogen werden: Der Missbrauch des Parlaments durch dessen Nicht-Gebrauch hat spätestens ab dem Sommer 2021 in Deutschland Menschenleben auf dem Gewissen.

Jöran Klatt ist Politik- und Kommunikationswissenschaftler und arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter für einen Abgeordneten der Linksfraktion im Bundestag.

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Geschrieben von

Jöran Klatt

Schreibt über Politik und Populäre Kultur.

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