Worin unterscheidet sich der juristische Umgang mit der DDR-Vergangenheit in Deutschland seit 1990 von der Praxis anderer Transformationsländer - vorzugsweise in Osteuropa? Dieser Frage ging Jörg Arnold im ersten Teil seines Artikels zum Auftakt unserer neuen Serie (s. Freitag vom 20. 4. 2001) nach. Er beschrieb einen "deutschen Sonderweg", der mit einer flächendeckenden Strafverfolgung verbunden war und einen bedingten oder umfassenden Strafverzicht ablehnte, wie er sich in anderen "Übergangsgesellschaften" sowohl Osteuropas wie auch Afrikas beobachten ließ. Auf den Begriff gebracht, sprach der Autor von "Vergangenheitspolitik", die "von politischen Entscheidungsprozessen und Einflussstrukturen" nicht unbeeinflusst blieb. Wir setzen die Serie heute mit dem 2. Teil seiner Betrachtungen fort.
Beim Blick auf die osteuropäischen Transformationsstaaten zeigt sich, wie sehr der jeweils eingeschlagene Weg der "Vergangenheitspolitik" mit den Grundzügen der vorherigen politischen Ordnung, der Art des Übergangs und Besonderheiten der nachfolgenden Demokratie korrespondiert. Dementsprechend war deutsche "Vergangenheitspolitik" mit ihrer Präferenz einer umfassenden Verfolgung von DDR-Unrecht (s. Kasten) maßgeblich durch den Charakter der Wiedervereinigung geprägt. Die amerikanische Publizistin Tina Rosenberg beschreibt sie als Vorgang, bei dem Ostdeutschland von einer vergleichsweise gesunden und stabilen Demokratie geschluckt wurde. Spätestens 1991 sei gesamtdeutsche politische Stabilität eingekehrt.
Schlussstrich- und Versöhnungsmentalitäten
Tatsächlich bestand nach dem 3. Oktober 1990 im vereinigten Deutschland keinerlei Gefahr einer Restaurierung alter Verhältnisse mehr. Rücksicht auf politische Unsicherheiten oder Zwänge war nicht geboten. Ganz entscheidend hatte dazu ein rasanter Elitenaustausch in allen Sphären der Gesellschaft beigetragen. An personellen Ressourcen mangelte es nicht. Zumeist waren es Westdeutsche, mit denen die Ostdeutschen ausgetauscht wurden. Auch einstmals Verfolgte und Unterdrückte des DDR-Systems waren jetzt - jedenfalls in gewisser Weise - selbst Teil der Macht in der Demokratie und konnten ihren Willen zur Ahndung von Unrecht durchsetzen. Was jedoch die Justiz betraf, erfolgte die Strafverfolgung in aller Regel durch Richter und Staatsanwälte aus dem Westen. So fand die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit unter allseits gesicherten Machtverhältnissen statt, resultierte daraus eine ausgesprochen geringe Neigung zu Amnestiedebatten, die immer wieder aufgeschoben wurden.
Hierin zeigen sich gravierende Unterschiede zu anderen Transformationsgesellschaften Osteuropas: Dort geriet der Bruch mit dem alten System nicht derart radikal wie in Deutschland, wurde Demokratie nicht implantiert, sondern musste erst herausgebildet werden, konnten (und sollten) auf bisherige Eliten nicht völlig ausgegrenzt bleiben. Das hat eine andere "Vergangenheitspolitik" geprägt und natürlich Schlussstrich- und Versöhnungsmentalitäten befördert. In Russland, Weißrussland, der Ukraine - teilweise in Rumänien und Bulgarien - sah der Elitenwechsel zuweilen so aus, dass die zweite Reihe der einstigen Nomenklatura an die Spitze des Staates strebte. In Tschechien konzedierten Politiker wie Vaclav Havel, die früher selbst Verfolgte waren, dass eine klare Trennlinie zwischen Tätern und Opfern nicht gezogen werden könne. Überdies kamen ökonomische Faktoren in Betracht - Deutschland wollte und konnte sich seine Form von Vergangenheitsbewältigung auch finanziell leisten. Allein in der Zentralen Ermittlungsstelle Regierungs- und Vereinigungskriminalität (ZERV) in Berlin waren mehr als 500 Beamte und 200 Ermittler der Berliner Polizei tätig. Die Kapazitäten eines Rechtsstaates - seine vorhandenen juristischen Instrumentarien - wurde ausgeschöpft. Die Erwartungen der strafrechtlichen "Vergangenheitspolitik" gegenüber der Justiz waren entsprechend groß. Es kursierte das Wort vom "kreativen Juristen", der das Unrecht greifen könne.
Wo es zu "kreativ" wurde, musste diese "Vergangenheitspolitik" durch die höchsten deutschen Gerichte korrigiert werden. Interventionen des Bundesverwaltungsgerichtes und des Bundesarbeitsgerichts betrafen rigide Entlassungen im öffentlichen Dienst. Das Bundesverfassungsgericht erklärte das "Rentenstrafrecht" für verfassungswidrig, ohne es gänzlich zu beseitigen. Dasselbe Gericht machte Schluss mit der Praxis der Berufsverbote gegenüber Rechtsanwälten und Notaren. Für nicht verfassungskonform wurde auch die Praxis der Verurteilungen von DDR-Spionen erklärt. Der Bundesgerichtshof schränkte die Strafbarkeit wegen Rechtsbeugung von Richtern und Staatsanwälten der DDR deutlich ein und korrigierte auch ein solch kurioses Verfahren wie das gegen Rechtsanwalt Wolfgang Vogel, der sich mit dem Vorwurf konfrontiert sah, ausreisewillige DDR-Bürger als Vermittler erpresst zu haben. Problematisch blieben hingegen die vom BGH abgesegneten bizarren Verfahren gegen Erich Mielke wegen der Polizistenmorde von 1931 sowie gegen Alexander Schalck-Golodkowski wegen Verstoßes gegen Embargo-Vorschriften. Im Mielke-Prozess hätten die Verjährung und die zweifelhafte Beweislage anerkannt werden können, bei Schalck fällt die fragwürdige Anwendung eines Gesetzes der Militärregierungen von 1949 auf.
Bedenkt man die bisher skizzierten Umstände, dann erscheint es berechtigt, den deutschen Sonderweg vor allem als logisch und systemimmanent zu kennzeichnen und zugleich die Frage zu stellen, ob er auch vernünftig und notwendig war.
Betrachtet man allein die strafrechtliche Reaktion in den osteuropäischen Transformationsgesellschaften, dann lassen sich wie das bereits im ersten Teil meines Artikel grafisch angedeutet wurde, Grundmodelle erkennen: Die Praxis einer - bezogen auf Personen, Tatbestände und Zeiträume - "eingeschränkten Strafverfolgung" gilt für Polen, Tschechien, Ungarn, Bulgarien, Estland, Lettland und Litauen, die eines "umfassenden Strafverzichts" für Russland, Belarus, die Ukraine wie auch andere Staaten der GUS.
Umfassender Menschenrechtsschutz durch Strafrecht
Für sich allein besagen derartige Zuordnungen nur wenig. Worauf es ankommt, ist der Bezug auf konkrete Ziele und Umstände, um zu einer Erklärung dieses oder jenes Weges zu gelangen. So befasst sich die Vergangenheitspolitik der osteuropäischen Transformationsgesellschaften kaum mit der Frage des Menschenrechtsschutzes durch Strafrecht. Nicht einmal in einem Land wie Deutschland, in dem auf umfassende Ahndung von DDR-Unrecht soviel Wert gelegt wurde. Allerdings war Menschenrechtsschutz durch Strafrecht in den demokratischen nationalen Rechtsordnungen bisher auch nur selten ein Thema. Strafrecht im klassischen Sinne galt eher als Strafrecht für den Fall des "normalen Verbrechens". Eine strafrechtliche Reaktion auf staatliches Unrecht schien nicht in dieses Gefüge zu passen. Das war und ist beim Völkerstrafrecht anders. Gerade in jüngster Zeit lassen sich dabei Fortschritte verzeichnen - auch hinsichtlich der Beachtung im nationalen Recht. Man denke an das Statut von Rom für einen ständigen Internationalen Strafgerichtshof, die begonnene Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen in Chile und Argentinien. Diese Entwicklungen sind indes nur eine Seite des strafrechtlichen Schutzes der Menschenrechte. Die andere besteht darin, auch mit dem nationalen Strafrecht nach dem Untergang diktatorischer Systeme eine solche Schutzfunktion zu entwickeln. Es geht letztlich um die Frage nach Leitlinien für ein menschenrechtsschützendes Strafrecht.
Flächendeckend
Von 1989 bis 1998 wurden im Rahmen einer juristischen DDR-Aufarbeitung 65.000 Ermittlungsverfahren eingeleitet - davon allein 40.000 wegen vermeintlichen Unrechts im DDR-Justizsystem und über 3.000 wegen Vergehen an der deutsch-deutschen Grenze. Drei Viertel davon wurden eingestellt (beim Justiz-Unrecht lag die Einstellungsquote bei fast 90 Prozent). In nur etwa einem Prozent aller Ermittlungsverfahren wurde Anklage erhoben; in absoluten Zahlen ausgedrückt ergab das etwa 230 Verfahren wegen Rechtsbeugung und 180 wegen Tötungen an der Grenze. In 0,5 Prozent der Ermittlungsverfahren erfolgten rechtskräftige Verurteilungen: Bezogen auf Todesfälle an der Grenze zur BRD (mehr als 150), auf Rechtsbeugung, Wahlfälschung, Unrecht im Bereich des Ministeriums für Staatssicherheit, Spionage, Wirtschaftsstraftaten durch Partei- und Staatsfunktionäre sowie Doping.
Die überwiegend ausgesprochenen Freiheitsstrafen waren in den meisten Fällen zur Bewährung ausgesetzt. Etwa 40 Angeklagte erhielten wegen der Verantwortlichkeit für die Tötungen an der DDR-Grenze hohe Freiheitsstrafen ohne Bewährung. Außerhalb von Strafverfahren wurde viel Wert auf die Rehabilitierung und Entschädigung der Opfer durch eigenständige Gesetze und Maßnahmen gelegt. Aufklärung über die Vergangenheit sollte dank der öffentlichkeitswirksamen Tätigkeit von Gremien wie der Enquete-Kommissionen des Bundestages möglich sein. Alternative Kommissionen und Sichtweisen hatten es hingegen schwer, zur Kenntnis genommen zu werden.
Berücksichtigt man die letzten Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) wegen der Todesfälle an der DDR-Grenze, die zwar keine Bestrafungspflicht für die Straftaten im alten System, aber ein Plädoyer gegen Straflosigkeit beinhalten, lässt sich folgender Diskussionsstand resümieren: In Ausübung staatlicher Macht begangene schwere Menschenrechtsverletzungen - besonders nicht gerechtfertigte und schuldhafte Tötungen von Menschen - sind strafwürdig. Es gilt als legitim, nach einem politischen Systemwechsel diese Handlungen zu verfolgen, um einen Strafanspruch durchzusetzen, der bereits im vorherigen System bestand, aber dort aus politischen Gründen nicht realisiert wurde. Allerdings lässt sich gleichfalls konstatieren, dass die Strafverfolgung im Transformationsprozess von Zielen und Einflussfaktoren politischer, historischer, personaler und ökonomischer Art abhängig ist, die wiederum jedes Land als Einzelfall ausweisen. So kann es sich als nötig erweisen, von bedingungsloser Durchsetzung des Strafanspruches abzurücken und der Aufklärung von Wahrheit in einem förmlichen Verfahren Priorität einzuräumen. Ein völliger Schlussstrich, der auf Wahrheitssuche verzichtet, dient jedoch ebenso wenig dem Schutz der Menschenrechte wie eine Billigung von Selbstamnestien der früheren Machthaber. Wird Aussöhnung aus nachvollziehbaren Gründen der Strafverfolgung vorgezogen, sollte dies zum Schutz von Menschenrechten beitragen, indem das Unrecht aufgeklärt und als solches benannt wird.
Das selbstständige symbolische Ziel des Menschenrechtschutzes durch Strafrecht darf jedoch nicht dazu führen, dass man es sich mit der Prüfung der individuellen Verantwortlichkeit für staatliches Unrecht zu leicht macht. Unter diesem Aspekt sind die Entscheidungen der deutschen Gerichte und des EGMR hinsichtlich der Fälle an der Grenze problematisch. Das verdeutlichten drei Richter des EGMR für den Fall eines DDR-Grenzsoldaten, der dort neben Krenz, Keßler und Streletz ebenfalls Beschwerde geführt hatte. Sie vertraten die Auffassung, eine Verurteilung des Soldaten verstoße gegen das Rückwirkungsverbot von Artikel 7 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention und verneinten die Frage, der Betreffende hätte erkennen müssen, dass er vorsätzlichen Totschlag begehe, wenn er auf einen Flüchtling schieße. Der zur Tatzeit 20-jährige Soldat habe im Rechtssystem der DDR gehandelt und sei von der Wichtigkeit, die Integrität der Grenzen um jeden Preis zu sichern, überzeugt gewesen. Im Gegensatz zu den anderen Klägern sei er nicht verantwortlich für das Grenzregime, sondern in einem gewissen Maße selbst Opfer des Systems.
(2. Teil einer Fortsetzungsreihewird fortgesetzt)
Privatdozent Dr. Jörg Arnold ist Forschungsgruppenleiter am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg.
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