Beautiful And Dangerous

Ton & Text Welcome to blackboard jungle: David Rodigans „Masterpiece“ hilft, historische Wissenslücken in Sachen Ska und Reggae zu schließen und Missverständnisse zu korrigieren
Desmond Dekker
Desmond Dekker

Foto: imago / teutopress

Ministry Of Sound ist normalerweise vom Kaliber jener Plattenlabels, denen man in den Werbepausen bei RTL II begegnet, wenn es gilt, wieder eine der unendlich vielen Compilations unterzubringen und damit jede noch so stumpfe Ecke der elektronischen Rave-Kultur mit den aktuell unhörbarsten „Trax“ abzudecken. Aber bei der in London beheimateten Schrott-Schleuder gibt es auch ein Premium-Segment, ein sehr bemerkenswertes sogar. Die „Masterpiece“-Serie präsentiert ausgewählte DJ-Legenden, die um eine Art Personality-Werkschau gebeten werden und dafür auch eine Menge Freiraum bekommen. Drei Stunden sind das beim jüngsten, eben erschienenen Output von David Rodigan. (Zumindest die Download-Version, das sei am Rande ganz schnöde angemerkt, ist in ihrer Preis-Leistungs-Gestaltung so unverschämt günstig, dass man sich in Streaming-Preisbildungs-Kategorien wähnt.)

Wer das Unglück hat, in Deutschland musikalisch sozialisiert zu werden, bekommt in der Regel zwei große Probleme, deren Therapie ein, zwei Jahrzehnte dauern kann: Funk-Bands, die in Serie von Musikhochschulabsolventen gegründet werden – und Ska. Auf der Liste der Dinge, die nach der Kulturrevolution dringend getan werden müssen, steht das Verbot von vielen – und es gibt eine Menge – deutschen Ska-Bands dann auch ziemlich weit oben. Ska gilt hier gemeinhin als Partygranaten-Musik für Studentenpartys, gut dafür, sich mal richtig auszupowern, was am körperlich aufwendigen „Skanken“ liegt, einem Tanzstil, der schnell lächerlich aussieht, wenn die Kleiderordnung vom akkuraten Rude-Boy-Stil nix wissen will – also praktisch immer. Noch eine Stufe schlimmer: Ska-Punk. Erstaunlich erfolgreich sind die einschlägigen Bands, oft kommen sie aus Lateinamerika und feiern vor allem in Deutschland ihre größten Auslandserfolge. Warum das so ist, möchte man eigentlich gar nicht so genau wissen.

Ska ist im Popmusik-Kanon eine Art verlorener Sohn, schon früh in der Wahrnehmung verdrängt vom übergroßen Bruder Rock’n’Roll, dessen jamaikanische Alternative er in den Frühzeiten der Popmusik-Kultur war, als der klassische Rhythm’n’Blues durch die hochtourigere Musik der weißen Mittelklasse-Kids verdrängt wurde, und dessen territoriale Anbindung an das Mutterland nie wirklich verloren ging. Allein musikhistorisch lässt sich die Bedeutung aus heutiger Sicht ganz objektiv als essenziell bezeichnen: Die Genealogie des „Remix“ als eine der grundlegenden Pfeiler der aktuellen Clubkultur lässt sich problemlos auf die Evolution des ursprünglichen Ska in Dancehall und Dub und deren Studio-Kultur zurückführen.

In Großbritannien hat die jamaikanische Popmusik bis heute eine enorm hohe, absolut aktuelle Relevanz. Das betrifft nicht nur die im originären Rude-Boy-Gestus wurzelnde bis heute prägende Mod-Kultur, ohne die „Britpop“ in Gänze undenkbar ist, sondern auch die wichtigen Entwicklungen der oft Breakbeat- und vor allem Bass-basierten Clubmusik der letzten zwanzig, dreißig Jahre, die immer wieder auf die Basics der Dancehall-Tradition zurückgriffen und sie unter neuen musiktechnologischen und urbanen Verhältnissen neu interpretierten. Der dem Ska direkt entstammende Roots-Reggae und seine Verzweigungen im gern als sophisticated angesehenen Dub oder dem vergleichsweise rüden Dancehall feiert seit einigen Jahren eine spürbare Renaissance, auch wenn er zumindest auf der Insel nie wirklich abgemeldet war.

Auch die Reggae-Rezeption ist hierzulande schwerwiegend gestört. Reggae gilt mehrheitlich entweder immer noch als „Kiffermusik“, die von sehr oft sehr schlecht angezogenen Menschen repräsentiert wird, die es in ihrer schieren Masse fast sogar geschafft haben, Bob Marley in die Ecke der Künstler zu schieben, von denen man die Finger lassen sollte – getreu der Regel der Popmusik, dass sie sich nicht von ihrem Publikum trennen lässt. (Man kann das ausführlich bei Diedrich Diederichsen nachlesen, dessen „Über Pop-Musik“ dieser Tage veröffentlicht wird.) Oder als mit Urlaubsfeeling und Bildern von Sonnenschirm-Drinks verseuchter „Sunshine Reggae“, was weiter entfernt von den realen sozialen Verwurzelungen der Musik nicht sein könnte. Kaum hilfreich für ein unvorbelastetes Herantasten an Reggae ist selbstverständlich auch die nur im Ausnahmefall differenziert geführte Debatte um die in der Tat existierende und oft in den Songs thematisierte Homophobie vieler jamaikanischer Musiker.

Man müsste sich also durch viele Schichten Klischees und Vorbehalte sowie durch eine Menge wirklich schlechter Musik wühlen, um mit dem – mehr oder weniger – originalen Reggae und Ska warm werden zu können. Oder man hört David Rodigan, dessen Sendung beim – gerade in Sachen internationalistischer Clubkultur unverzichtbaren – Sender BBC Radio 1Xtra den wöchentlichen Beweis dafür liefert, dass beinhartes Traditionsbewusstsein und aktuelle Soundgegebenheiten sich nicht ausschließen, sondern bedingen. Rodigan ist eine zentrale Persönlichkeit in der europäischen Entwicklung des Verständnisses von Dancehall- und Soundsystem-Kultur, der auf der Bühne auch mit Schmerbäuchlein immer noch spektakulär mitreißend ist und dessen Radiosendungen seit eh und je das Rückgrat der öffentlichen Wahrnehmung von Offbeats auf der Insel sind.

Sein „Masterpiece“ sollte man angesichts des riesigen Kontexts, in dem Rodigan agiert, nicht überbewerten. Aber man muss sich nicht sehr weit aus dem Fenster lehnen, um festzustellen, dass er damit einen der beachtenswertesten Sampler des Jahres vorgelegt hat – gerade weil die Auswahl der über 50 Tracks den eigentlichen Kern des klassischen Ska und Reggae nur nach und nach freilegt und dabei auch nicht auf die simplen Hits zurückgreift, stattdessen die zweite Reihe der weniger bekannten Standardwerke aufruft. Tolle Songs sind das, die viel von dem in sich tragen, was bis heute Standard-Topoi der jamaikanischen Musikkultur sind. Ein „Beautiful And Dangerous“ des großen Desmond Dekker zählt ebenso dazu, wie das allgegenwärtige „Stepping Out Of Babylon“ von Marcia Griffiths oder Lee Scratch Perrys „Welcome to blackboard jungle!“-Ruf aus „Black Panta“. Dass sich die Verweise auf die britische Beatszene der Kinks, Yardbirds und Small Faces ganz organisch integrieren lassen, ist der – fast müsste man sagen: pädagogisch wertvolle – Hinweis darauf, dass in der Popmusik letztendlich alles mit allem zusammenhängt. Und dass das wiederum verdammt gut klingt, dafür sorgt David Rodigan.

„Masterpiece David Rodigan“; Boxset; Ministry Of Sound/Rough Trade; als 3-fach-CD, Download und 7-Inch-Box erhältlich.

David Rodigan bei BBC Radio 1Xtra: Sonntags, 20 Uhr (MEZ); auch in der Mediathek nachhörbar

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