Irgendwann 1993: Marusha steht im Studio in der Nalepastraße, es ist ein rustikales DDR-Rundfunk-Fossil mit Holztäfelung, aus dem sie seit gut zwei Jahren sendet. Die Sendung lief vormals bei DT64, nach der Abwicklung des beliebten Ost-Jugendradios wurde sie von – ausgerechnet – „Rockradio B“, der neugeordneten Jugendwelle des damaligen ORB, übernommen. Überall im Studio stehen und sitzen – besser: zappeln – junge Menschen, während sie und der Gast-DJ (es ist DJ Jauche, Berliner Szeneveteran der ersten Generation und „Resident“ im gerade schwer angesagten Club Walfisch) Musik auflegen. Die Musik heißt „Techno“, die jungen Leute sind „Raver“. Im Interview mit einem TV-Team des SFB erzählt Marusha dann von den Zahnspangen-Problemen ihrer Hörer und man weiß: Das wars irgendwie.
Deutschland wird 1993 gerade Techno-Land, und „die süße Maus aus Nürnberg“ – so nennt Westbam seine Entdeckung Marusha – hat daran einen kaum zu unterschätzenden Anteil. Jeden Samstagabend ist die ursprünglich widerwillig Zugewanderte auf Sendung, spielt diese seltsame neue Musik mit harten Beats und ohne Gesang, die man zu Hause hört, bevor man weggeht, oder im Auto, weil man draußen in der Provinz wohnt und ein gutes Stück Weg zurückzulegen hat, bis man auch wirklich erleben kann, was da so euphorisch Rave-radebrechend abgefeiert wird. Provinz ist von Techno-Berlin aus gesehen so ziemlich alles: Umland, Osten, Westen, sogar Frankfurt/Main, wo in den Achtzigern noch das Herz der westdeutschen Discokultur schlug. Aber seit ’89 ist alles anders. Es ist eine historische Situation, die im Westen schlicht niemand zu bieten hat: durch Berlin zieht sich ein herrenloser Ex-Todesstreifen, die staatliche Verwaltung löst sich auf , Polizei und Ämter sind praktisch nicht existent. Wer etwas will, nimmt sich einfach, was er braucht, ganze Fabrikgebäude können einfach so benutzt werden. Wenn überhaupt eine Genehmigung eingeholt wird, dann für eine „Galerie mit Ausschank“. Es ist die wilde Wendezeit, die in Berlin mehr als an jedem anderen Ort einen Exzess des Aufbruchs erlaubt.
„Der Klang der Familie“ heißt ein Stück von 1992, das den damaligen Sound von Berlin einfangen sollte (und das auch mit weltweiter Beachtung schaffte). Es ist der mit Bedacht gewählte Titel des Buches, das wie bis dato kein weiteres den Blick in die Berliner Techno-Szene der ersten Generation eröffnet. Als unkommentiertes Puzzle aus O-Tönen von vielen dermaßgeblich Beteiligten ist das Buch strukturiert. Zeitlich und thematisch nur grob durchsortiert und mehr oder weniger roh nebeneinander gestellt, ergeben sie ein faszinierendes, naturgemäß kaleidoskopisches Bild einer Szene und ihrer Musik, die in Windeseile aus dem Chaos des Underground zur dominierenden Jugendkultur des wiedervereinigten Landes wird. Eine Szene die nichts weniger als die komplette Neudeutung des DDR-offiziellen „Auferstanden aus Ruinen“ darstellt. In den Ruinen der durch und durch maroden DDR findet die Post-Wendejugend den Raum für die neue Tanzmusik, die so ganz ohne Melodien auskommen möchte, ohne Stars, ohne Sexismus, ohne Herkunftsschranken sowieso – zumindest, solange man irgendwie Berliner ist – und die sogar erlaubt, dass Schwule und BFC-Hooligans miteinander feiern. Nie war man näher dran an den Protagonisten. Es ist eine oral history voller Déjà-Vu-Anker für Zeitgenossen, aber auch darüber hinaus ungemein erhellend und vor allem – der große Verdienst des Autoren-Duos – durchweg spannend und unterhaltsam. Da braucht es tatsächlich nicht die Sensationsmomente aus den drogengeschwängerten Kellern und Hinterstuben der Rave-Szene, die weitgehend draußen gelassen wurden zugunsten der eigentlichen Geschichten.
Dollar-Zeichen in den Augen
Nicht viel mehr als drei Jahre dauerte die ungetrübte Euphorie. „Der Klang der Familie“ ist auch das Stück, das den bald aufbrechenden Riss zwischen dem Techno-Ideal der frühen Tage und der Realität einer Popkultur aufzeigt, die den Regeln jeder Popkultur folgt. Es will sehr schnell sehr viel Geld verdient werden. Darum ist Wachstum Pflicht, dazu braucht es Stars und Macher, die gleicher sind als alle anderen. Wer nicht mithalten kann, ist schnell draußen. So wie 3Phase, der „Der Klang der Familie“ hauptsächlich zusammengeschraubt und vor allem auch den stilprägenden Streicher-Sirenen-Klang beisteuerte, der auf jedem Floor der Welt auch heute noch als Hinhörer taugt. Aber Dr. Motte – der hatte die Bassdrum mitgebracht und irgendwann resolut bestimmt, dass der Track jetzt einfach mal fertig sei – heimste den Ruhm ein. Und die DJ-Bookings, die man braucht, wenn man seinen Lebensunterhalt als DJ bestreiten möchte. Bis heute dauert der Streit um „Der Klang der Familie“ an, zuletzt griff sich 2009 der Münchner DJ Hell mehr oder weniger ungefragt die entscheidende Sequenz für seine Berlin-Techno-Hommage „The Disaster“ – auch das wieder Anlass für Streit und das Präsentieren alter Rechnungen.
Oft genug ist man auch einfach ausgebrannt nach jahrelanger Donnerstag-bis-Montag-Party, die selbstverständlich nur mit Ecstasy durchzuhalten war, das – auch so ein Größenwahn-Unglück – später durch Kokain ersetzt wird. AIDS lichtet die Reihen der schwulen Aktivisten, seit jeher unersetzbarer Motor der Dancefloor-Gemeinschaft. Mehr noch als wiederpräsente Finanz- und Ordnungsämter sorgen dann auch noch interne Streitigkeiten für das Ende der „Familie“. Frontpage-Magazin, Low Spirit-Label, Loveparade-„Eigentümer“ sind irgendwann nur noch Westler mit Dollar-Zeichen in den Augen, zumindest aus Sicht des vorwiegend Ost-Berlin geprägten harten „Wir bleiben Underground“-Kerns. Der will nicht mitmachen bei der schönen neuen „Raving Society“, bei der „vollständigen Erschließung des Rave- und Techno-Standortes Deutschland“, wie Mijk van Dijk das nur halbironisch nennt.
„Berlins Traum von neuem Glanz und neuer Größe – zumindest in dieser Szene hat er sich erfüllt“, heißt es denn auch prompt zum Abschluss der 93er SFB-Tour durch Tresor, Planet ,Walfisch und Marusha-Sendung. Die liefert ein Jahr später den Todesstoß gleich selbst: Ihr „Somewhere Over The Rainbow“ wird der erste Mainstream-Hit des Techno, es ist ein immer noch unglaublich dummdreist anmutendes Stück, das die Reste der ersten Berliner Techno-Generation fassungslos zurücklässt. Danach kamen Scooter.
Dieser Text ist in Zusammenarbeit mit motor.de entstanden
Der Klang der Familie - Berlin, Techno und die Wende Felix Denk, Sven von Thülen Suhrkamp 2012, 423 S., 14,99
Kommentare 4
"Eine Szene die nichts weniger als die komplette Neudeutung des DDR-offiziellen „Auferstanden aus Ruinen“ darstellt. In den Ruinen der durch und durch maroden DDR findet die Post-Wendejugend den Raum für die neue Tanzmusik, die so ganz ohne Melodien auskommen möchte, ohne Stars, ohne Sexismus, ohne Herkunftsschranken sowieso – zumindest, solange man irgendwie Berliner ist – und die sogar erlaubt, dass Schwule und BFC-Hooligans miteinander feiern."
Diesen Umstand hatte auch ich sehr genossen, von 1996 bis 2005.)
Vielleicht werde ich in diesem Jahr mal wieder das Openairfestival _Antaris Projet_ besuchen. Es bietet sich ja geradezu an, da die Veranstaltung im näheren Umland zu Berlin stattfindet.
"Berlins Traum von neuem Glanz und neuer Größe – zumindest in dieser Szene hat er sich erfüllt“, heißt es denn auch prompt zum Abschluss der 93er SFB-Tour durch Tresor, Planet ,Walfisch und Marusha-Sendung. Die liefert ein Jahr später den Todesstoß gleich selbst: Ihr „Somewhere Over The Rainbow“ wird der erste Mainstream-Hit des Techno, es ist ein immer noch unglaublich dummdreist anmutendes Stück, das die Reste der ersten Berliner Techno-Generation fassungslos zurücklässt. Danach kamen Scooter."
Die wurden bei uns unter, "Kinder Techno" eingeordnet. Ausser Sven Väth.)
Empfehlen möchte ich gerne an dieser Stelle ein Buch von einem Kenner der Szene, Nico Mersterharn. Gar nicht mal schlecht.
Berlin Techno/logy (Technology) 1. Clubland und Leute [Gebundene Ausgabe]
Nico Mesterharm (Herausgeber), Joel Amaretto (Herausgeber), Wolfgang Brückner (Herausgeber)
Ich wünsche mir im Radio mehr vom genialen Chris Zippel zu hören.) Das gemeinsame MusikProjekt, the moon and the sun, mit Markus Lopés hatte ich ebenfalls sehr genossen.
Bye
Hallo, zum ersten Mal möchte ich bei einem deiner Artikel Widerspruch einlegen.
Zunächst einmal hat Marusha schon Ende 90 bei dem noch existierenden DT64 aufgelegt und auch die erste Mayday fand bereits Ende 1991 statt - mit ihrer Beteiligung.
1993 als Datum der Initialzündung ist schlicht falsch.
Dann möchten die Berliner natürlich nur zu gerne die Geschichte des Teccno nach ihrer Facon umschreiben - als wären sie der Nabelpunkt der Welt gewesen.
Du unterstützt noch dieses alberne Narrativ?!
Fakt ist, die "hr3 Clubnight" wurde zuerst ins Leben gerufen - schon im Mai 90 und war das Sprachrohr nicht nur der Frankfurter, sondern der ganzen hessischen Szene.
Dieses Radioprogramm sendete bereits die komplette Nacht durch - Mitschnitte dieser Länge konnten wir damals nur auf Videotapes anfertigen!
"Hessische Szene", weil bereits 1992 auf der Kasseler Documenta durch Phillip Morris gesponsort im Club "factory" (viel später als "Stammheim" berühmt geworden) die weltweite creme de la creme des Teccno und House aufgelegt hat.
Regional war die Musik dermaßen durchschlagend, dass Teccno bereits 1994 Bestandteil des "Hessentags" geworden ist.
Ich bin der festen Überzeugung, dass solche Geschichten regional in ganz Deutschland geschrieben werden könnten.
Eine Rekonstruktion aus einer Zentralperspektive mag den Teccno-Unternehmern von "low spirit" schmeicheln, ist aber einfach nur eine Geschichtsfälschung.
Aus meiner Sicht hat Marusha mit der Popularisierung a la "somewhere over the rainbow" 1994/95 die Todesglocke geläutet.
Danach wurde es tatsächlich finster.
Zur Zeit gibt es aber nette neue Sachen - auch jenseits von minimal.
Schönen Gruß, Crumar
"1993 als Datum der Initialzündung ist schlicht falsch. "
Ich glaube, da liegt ein Irrtum vor: 1993 war nicht der Anfang, sondern der Anfang vom Ende. ;-)
Und ich kann mich noch sehr gut an "Save DT 64"-Partys erinnern, die ja eine Art Vorläufer der ersten Mayday waren.
Ansonsten ist es natürlich eine Berlin-Sicht, die da eingenommen wird, schließlich geht es im Buch um die Berliner Szene. Und auch, wenn man sicher trefflich streiten kann, wer wann eher und länger und nachhaltiger usw., lässt sich doch nicht bestreiten, dass die Berliner Szene ganz klar der größte Motor für die deutsche Techno-Entwicklung war. Das ist aus meiner Sicht keine "Einschätzung" sondern ein historischer Fakt.
Uiiiii:
"Ich glaube, da liegt ein Irrtum vor: 1993 war nicht der Anfang, sondern der Anfang vom Ende. ;-)"
*Darüber* lässt sich trefflich streiten! ;)
Und anfänglich die Berliner Szene der größte Motor des Teccno? Hmmm.
Würde bedeuten das "Omen" und "Dorian Gray" in Frankfurt zu ignorieren.
Samt den dortigen DJs wie bspw. Sven Väth, Fenslau, Talla, Dag, Spoon.
Ich glaube, ich mochte die Berliner Szene einfach nicht; der Anteil an drogenverseuchten Posern war mir schlicht zu hoch.
Toll war musikalisch der Austausch vom "Tresor" und Detroit (underground resistance); die ganze low spirit/frontpage-Achse hingegen...
Die Popularisierung ging Hand in Hand mit der Kommerzialisierung und die mit der Verflachung der Musik.
Erklärt wohl meine Vorbehalte gegenüber Berlin als "Motor".
Schönen Gruß, C.