Ein bisschen Charts

Ton & Text So richtig wichtig ist es nicht: Jetzt zählen auch Abrufe bei Streaming-Diensten für die deutschen Charts. Mit ziemlich vielen „Wenn“ und „Aber“

Im Moment steht „Timber“ von Pitbull ganz oben. In der Hitliste, die Spotify aus seinen eigenen Daten erhebt. Und in den offiziellen deutschen Single-Charts. Der Vergleich liegt gerade nahe, denn pünktlich zur Veröffentlichung dieser ersten Charts des Jahres 2014 hat der Verband der Musikindustrie bekannt gegeben, dass ab sofort auch Streamingzahlen – also die Abrufe bei Spotify und Co – für die deutschen Single-Charts berücksichtigt werden.

Dass die offiziellen deutschen Charts eine sehr ernste Angelegenheit sind, kann man schon am Umfang ihrer „Systembeschreibung“ gut sehen. 39 Seiten umfasst die mit Anlage. Warum das System „Charts“ so wichtig ist, steht gleich nach dem ellenlangen Inhaltsverzeichnis: „Hitparaden spielen im Tonträgermarkt eine wichtige Rolle als Barometer für aktuelle Entwicklungen und Trends.“

Der Mythos der Charts ist ungeachtet aller umwälzenden Entwicklungen im Musikbusiness der letzten zwanzig Jahre weitgehend in Takt. Eine „Nummer 1“ ist immer noch enorm prestigeträchtig, beweist Erfolg und sorgt für heutzutage dringender denn je benötigte allgemeine Aufmerksamkeit und ganz konkretes Radio-Airplay, ist also gleichzeitig ein Boost für noch größeren Erfolg. Veröffentlichungen, die aus Sicht eines Labels für eine hohe Chartplatzierung potent sind, werden mit genauem Blick für parallel angekündigte eventuell übermächtige Konkurrenz geplant und im Zweifelsfall lieber auch mal verschoben, um Kollisionen aus dem Weg zu gehen und die „1“ zu schaffen. Die komplette herkömmliche Informations- und Veröffentlichungspolitik von Labels ist vor allem auf einen möglichst hohen Charteinstieg optimiert – darauf, möglichst viele zahlende Kunden in der Woche des Erscheinens einer Single oder eines Albums zu erreichen.

Umstritten ist allerdings seit jeher, ob die Charts wirklich widerspiegeln, was in Deutschland real am erfolgreichsten ist. Das liegt weniger an den unkaputtbaren Legenden über Manipulationsmöglichkeiten durch clever verteilte Massenkäufe durch Künstler und Labels selbst. Derlei soll ein Kontrollsystem unterbinden, das vor allem statistische Abweichungen von den normalen Verkäufen aufspürt und bei Downloads Übereinstimmungen von verwendeten E-Mail-Adressen und Kontonummern direkt prüft. Die Ermittlung beruht aber auf einem komplizierten System von Gewichtungen. Sogenannte „Händlergruppierungen“ fließen unterschiedlich in die Ermittlung ein. Ob dort große Ketten mit einem vermuteten Mainstream-Schwerpunkt überproportional gewichtet werden, ist eine Standard-Spekulation. Erfasst werden die Daten dabei direkt an der Quelle. In den ausgewählten Läden ist das die Kasse, die wiederum mit Phononet, dem Handelssystem der Musikwirtschaft, verbunden ist. Nur, was in diesem System erfasst und als reguläre Veröffentlichung angemeldet ist, sowie gewissen Regeln in Sachen Länge oder Tonträgerzusammenstellung genügt, wird für die Charts berücksichtigt.

Grundlegend ist dabei nicht die eigentliche Anzahl der Verkäufe, sondern der erzielte Umsatz, basierend auf dem Verkaufswert des Tonträgers. Eine verkaufte 6,99-CD wird also sehr viel mehr gewichtet, als ein bezahlter Download mit seinem Regelpreis zwischen 99 und 120 Cent. Ausschließlich digital veröffentlichte Titel haben also weit geringere Chancen auf eine gute Chartplatzierung. Das ist der eigentliche Grund, warum es überhaupt noch CD-Singles gibt, die sich eigentlich kaum noch rechnen. Dass Streams diesen Schwerpunkt jetzt verlagern könnten, darf man bezweifeln. Denn die werden im Ein-Cent-Bereich bewertet. Und nur, wenn es sich um „Premium Streams“ handelt.

Ausschließlich, wer für Musik Geld ausgibt, ist für die offiziellen deutschen Single- und Album-Charts relevant. „Premium-“, also zahlende, Kunden sind aber nur ein Viertel der Nutzer des Marktführers Spotify. Drei Viertel werden weiterhin nicht berücksichtigt, auch wenn ihre Abrufe von Songs natürlich trotzdem Umsatz generieren. Die Berücksichtigung von Streaming ist also wohl eher eine Art Symbolpolitik. Geschuldet ist die immerhin den tatsächlichen Verhältnissen im Musikmarkt. Der wird in nicht sehr ferner Zukunft vom Streaming dominiert sein. Das zumindest glaubt die Musikindustrie selbst. Damit ist das so etwas wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung.

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